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»Sie hat sich lange gewehrt, aber dann hat sie es mir geschworen – vor dem Kruzifix und den brennenden Kerzen«, sagte der alte, kleine Pfarrer und drückte den Stummel seiner stinkenden Zigarre in einem Aschenbecher aus.
Über den endlosen Gang des Altersheims schlurften Männer und Frauen, gebückt, krumm, manche auf Schwestern gestützt.
»Sie sind ein großartiger Mann, Herr Pfarrer«, sagte Manuel endlich.
»Unsinn«, sagte Pankrater. »Was hätte ich denn tun sollen? Hätten Sie anders entschieden an meiner Stelle? Na also.«
»Aber ich bin kein Pfarrer …«
»Ein Mensch«, sagte Pankrater. »Sie sind ein Mensch. Und das war auch ich in erster Linie für Fräulein Agnes – ein Leben lang fast. Der Mensch, dem sie am meisten vertraute. Ich konnte sie doch nicht enttäuschen.«
»Herr Pfarrer«, fragte Irene, »wissen Sie, wie der Prozeß ausging? Was aus dem Jungen wurde?«
Der kleine Mann mit den klobigen Landschuhen schüttelte den Kopf.
»Leider nein. Im Herbst 1943 – da war noch nichts entschieden in diesem Prozeß – hätten sie mich um ein Haar verhaftet. Wegen meiner Predigten. Ich habe den Mund sehr voll genommen auf der Kanzel, wissen Sie. Die Gestapo wollte mich abholen. Zum Glück erfuhren wir rechtzeitig davon. Meine Vorgesetzten brachten mich in letzter Minute aus Wien heraus. Ich habe versteckt gelebt im Salzburgischen, bei Hallein. 1945 ist da der Pfarrer gestorben. Ich habe seine Stelle angenommen. Meine Kirche in Ottakring draußen war ausgebombt. Nichts zu tun für mich in Wien. So viele Arbeit gab es in Hallein – allein die Flüchtlinge, Sie machen sich keine Vorstellung! Ich schäme mich, es zu sagen, aber ich habe das Fräulein Agnes damals vergessen gehabt, völlig vergessen.«
»Aber sie hat Sie doch nicht vergessen!« rief Manuel.
»Sie hat mich gesucht, überall, jahrelang. Aber sie konnte mich nicht finden. Da hat sie resigniert, besonders, als die Kirche in Ottakring wiederaufgebaut worden ist und ein anderer Pfarrer sie übernahm. Da hat das Fräulein Agnes mich auch nicht weiter gesucht. Sie dachte, ich sei tot, hat sie mir erzählt, als wir uns endlich wiedersahen.«
»Wann war das?«
»Erst vor zwei Jahren. Ich arbeitete lange in Hallein. Dann wurde ich pensioniert, habe noch in einer anderen Salzburger Pfarrei ausgeholfen und bin endlich hier, in der Piaristengasse, gelandet. Als ich wieder in Wien war, erinnerte ich mich auch an das Fräulein Agnes. Und ich fand sie. Aber da war sie schon fast in dem Zustand, in dem sie heute ist. Sie konnte mir nichts mehr erzählen. Nur wirres Zeug, wie Ihnen vorhin, Herr Aranda. Ich versuchte, mit Frau Steinfeld in Kontakt zu treten. Doch die bat mich sehr höflich, von einem Besuch abzusehen.« Pankrater hob die Hände und ließ sie wieder sinken. »Ein Geheimnis, das alles. Ein schreckliches Geheimnis, das seine Wurzeln hat in der entsetzlichen Zeit, von der Narren meinen, daß sie endgültig hinter uns liegt …«
Forsters Worte gingen Manuel durch den Sinn. Er sagte: »Sie meinen das nicht?«
»Nein, Herr Aranda. Der Ungeist des Dritten Reiches, der Hochmut, die Intoleranz, die Gemeinheit, der Sadismus Hitlers und seiner Genossen, das alles ist noch lebendig hier drinnen!« Er klopfte gegen seine Brust. »Das kann zum Ausbruch kommen jederzeit – in einer andern Form, in einem andern Land, überall auf der Welt. Denn wir alle sind nur Menschen, und wir alle haben Hitler in uns – zu allen Zeiten.«
Er schwieg wieder, dann sagte er lächelnd: »Als das Fräulein Agnes erfuhr, daß ich in der Piaristengasse wohne, suchte sie sich dieses Altersheim aus, weil es so nahe liegt.«
Die Tür, vor der sie saßen, flog auf.
In ihrem Rahmen stand, klein, strahlend, zerbrechlich, die Agnes und rief mit glücklicher, hoher Stimme: »Jetzt bitte hereinkommen! Mein Tiergarten ist fertig! Das Zebra steht genau in der Mitte!«