Kapitel 12
Beim Klang von Ewans Stimme fuhr Gisela erschrocken hoch. O Gott, sie wollte sich gar nicht ausmalen, wie sich die Szene für ihren Sohn darstellen musste – und was in seinem Kopf vorgehen mochte!
Eilig entwand sie sich Dominic und riss ihr Mieder nach oben. Dann stieß sie ihn weg. Diesmal versuchte er nicht, sie zurückzuhalten, sondern schritt elegant zurück. Sie merkte ihm an, dass ihn die Unterbrechung nicht weniger verstörte als sie.
Dominic rieb sich mit der Hand über den Mund und drehte sich zur Tür um, wo Ada und Ewan standen. Seine Wangen waren leicht gerötet, und am Zucken seiner Mundwinkel erkannte Gisela, dass er nur mühsam seine Wut beherrschen konnte.
Hoffentlich schaffte sie es, gefasster zu wirken, obwohl sich ihr Innerstes zerbrechlicher als altes Pergament anfühlte.
Gisela rang sich ein Lächeln ab und rutschte vom Tisch. »Ewan!«
Ihr kleiner Junge drückte sich in Adas Röcke. Die Angst und Wut, die sich in seinem Gesicht spiegelten, brachen ihr beinahe das Herz. Sie presste eine Hand auf ihren Mund. Ihre ältere Freundin sah sie entsetzt an.
Gisela schluckte ihre bittere Reue herunter. Wenngleich sie unendlich dankbar für die Unterbrechung war, hatte sie nie gewollt, dass Ewan sie und Dominic bei einem Streit überraschte. Vor Monaten hatte sie sich geschworen, ihren Sohn vor allem zu schützen, was ihn ängstigen könnte, und diesen Schwur hatte sie heute gebrochen.
»Es ist alles gut, Ewan«, sagte sie und ging auf ihn zu.
Der Kleine sah zu Dominic. »Was hast du mit Mama gemacht?«
Für einen Dreieinhalbjährigen klang er entschieden zu barsch, dachte Gisela und rang die Hände. »Wir …«
»Wir hatten … eine Diskussion«, antwortete Dominic.
»Ich glaub’ dir nicht!«
»Ich auch nicht, Mylord«, sagte Ada streng.
»Du hast sie angeschrien.« Ewan zitterte am ganzen Leib. »Du wolltest Mama weh tun!«
Hinter Gisela stöhnte Dominic hilflos. »Nein, kleiner Krieger, wollte ich nicht.«
»Ich hab’s genau gesehen! Ich dachte, du bist ein Ritter, ein Ehrenmann!«
»Bin ich auch.« Dominic trat vor und hob die Hände. Offensichtlich wollte er Giselas Sohn beschwichtigen. »Glaub mir …«
»Ritter tun Damen nicht weh, schon gar nicht Müttern.«
»Ewan, ich habe nicht gelogen. Ich wollte deiner Mutter nicht weh tun. Warum sollte ich das?«
Mit finsterer Miene machte der Kleine einen Schritt von Ada weg, ballte die Fäuste und stieß einen schrillen Schrei aus.
In dem Aufschrei lag so viel Schmerz, weil Ewan sich verraten fühlte und sein Vertrauen verletzt worden war, dass Gisela mit ausgebreiteten Armen auf ihn zulief. Sie wollte ihn umarmen, ihn küssen und ihn trösten.
Doch bevor sie die Arme um ihn legen konnte, rannte er an ihr vorbei. Unglücklich sah sie ihm nach, wie er die Tür zum hinteren Zimmer aufriss und darin verschwand.
»Ewan?«, flüsterte Gisela.
Dominic fluchte leise. »Ich gehe zu ihm.«
»Nein!«, fuhr Gisela ihn an.
»Ich will nicht, dass er denkt, ich könnte dir etwas tun.«
»Ich rede mit ihm und erkläre ihm alles.« Wie? Was kannst du sagen, um es Ewan begreiflich zu machen? Er ist noch ein Kind. Wie kann er verstehen, was zwischen dir und Dominic ist?
»Ich möchte mit ihm reden«, knurrte Dominic gereizt. »Oder willst du behaupten, ich könnte es ihm nicht erklären?«
Diese Frage traf sie wie ein Fausthieb. Ehe sie etwas erwidern konnte, berührte Ada ihren Arm. »Ist alles in Ordnung? Hat er dich verletzt, als er dir ans Mieder griff?«
Adas Sorge war unbegründet, deshalb winkte Gisela ab. »Nein, mir fehlt nichts.«
Ada warf sich ihren Zopf über die Schulter und wandte sich wieder zur Tür. »Gut. Ich werde um Hilfe rufen.«
»Nein!«, rief Gisela. Das Letzte, was sie wollte, war, die Aufmerksamkeit von Crenardieus Männern auf sich zu lenken – oder Dominic von irregeleiteten Helden verprügeln zu lassen.
Ada drehte sich verwundert zu ihr um. »Du brauchst ihn nicht zu beschützen. Auch wenn er ein Lord ist …«
»Danke, aber ich bin sicher, dass wir die Angelegenheit allein regeln können«, fiel Gisela ihr ins Wort, ging an Ada vorbei und schloss die Ladentür.
Ada schürzte die Lippen. Sie stemmte ihre Fäuste in die Hüften und sagte: »Ich sah, wie er dich gepackt hatte und dich anschrie!« Sie sah Dominic böse an, zeigte mit dem Finger auf ihn und warnte: »Bevor Ihr etwas sagt, Mylord, versucht ja nicht, mir weiszumachen, Ihr hättet geschrien, weil sie Euch nicht gehört hat. Anne hat ein sehr gutes Gehör!«
»Nicht im Traum würde ich wagen, dir etwas weiszumachen, Ada«, murmelte Dominic. »Du hast recht, ich habe geschrien. Eigentlich sollte ich ritterlich sein, auf die Knie fallen und mich galant entschuldigen, aber das werde ich nicht.«
Ada zog die Brauen hoch.
Bei dem Blick, mit dem Dominic sie bedachte, erschauderte Gisela.
»Anne und ich haben Wichtiges zu besprechen, unter vier Augen. Ich erhob die Stimme, weil ich die Geduld mit ihr verlor.«
»Aha! Ihr habt also Schwierigkeiten, Euer Temperament zu zügeln, was?« Nun verschränkte Ada ihre kräftigen Arme vor der Brust.
Ein bitteres Lächeln trat auf Dominics Züge. »In diesem Fall, ja. Ich bin kein Mann, der sich gern necken lässt …«
»Pah, Mylord! Necken?«, rief die ältere Frau schnippisch.
»… mit winzigen Happen an Informationen. Sie schuldet mir noch den Rest, und den will ich hören!«
Allein die Entschlossenheit in seinem Ton ängstigte Gisela. Ein Teil von ihr – der närrische, naive Teil – hatte gehofft, mit Adas und Ewans Ankunft würde Dominic aufhören, sie wegen ihrer Narbe zu befragen. Nun jedoch wurde ihr klar, dass ihr Gespräch noch lange nicht beendet war.
Seiner Meinung nach zumindest nicht. Sie hingegen hatte Dringenderes zu tun. »Ich gehe jetzt zu Ewan«, erklärte sie bestimmt.
»Ich komme mit.«
»Er ist mein Sohn.« Nicht nur deiner, erinnerte ihr Gewissen sie. Sei fair, Gisela!
Aus dem anderen Zimmer kam ein Knall, und sofort rannte Gisela hin. Dominic folgte ihr.
In der Tür drehte sie sich zu ihm um. »Ewan ist sehr aufgebracht. Bitte, warte hier!«
Ein schriller Schrei ertönte, dann kam der kleine Junge herausgerannt, sein Holzschwert vor sich hertragend. Das Gesicht rot vor Zorn, hieb Ewan damit nach Dominic.
Klatsch! Die Breitseite traf Dominic am Oberschenkel.
»Ewan! Hör auf!«, rief Gisela und griff nach dem Arm ihres Sohnes.
Klatsch! »Nimm dies!«, schrie Ewan.
Gisela packte seinen Ellbogen. »Schluss! Sofort, oder …«
Etwas Blaues bannte ihren Blick und ließ sie mitten im Satz verstummen. Ein Streifen kornblumenblaue Seide war um den Schwertgriff gewickelt. Ewan musste ihn mit vom Fußboden aufgehoben haben, als er den Wachsklumpen fand. Und er hatte ihn versteckt, damit sie ihm den Stoff nicht wieder wegnahm.
»Nein«, flüsterte sie und wollte nach dem Schwert greifen.
In diesem Moment bekam Dominic die Holzklinge zu packen.
»Das reicht, Ewan.«
Dominics strenger Ton machte Gisela erbeben. Sie betete, dass er die Seide nicht sah. Vielleicht konnte sie den Stoff abwickeln und verschwinden lassen, bevor er etwas bemerkte.
»Lass das Schwert los!«, befahl er Ewan.
»Ja, gib’s mir, Ewan!«, sagte Gisela, deren Puls raste.
Ihr Sohn schluchzte laut auf.
»Ich weiß, dass du wütend bist, Knöpfchen. Aber ich kann dir alles erklären, versprochen!« Gisela rieb dem Kleinen die Schultern. »Erst einmal musst du mir bitte dein Schwert geben. Ich verwahre es gut für dich.«
Widerwillig ließ Ewan sein Spielzeug los. Gisela wollte es nehmen, doch leider zu spät.
Schneller, als sie es für möglich gehalten hätte, drehte Dominic die Holzwaffe zu sich. Er hielt sie bei der Spitze, den Griff direkt vor seinem Gesicht. Die Seide glitt sanft am Holz herab.
Dominic befühlte den Streifen. »Ewan, wo hast du das her?«
Noch während sie inständig hoffte, er möge nicht antworten, schniefte Ewan: »M… Mama.«
Ganz langsam wanderte Dominics Blick von der Seide zu Gisela. »Ach ja? Nun, wir haben noch vieles zu besprechen.«
Gisela wurde aschfahl, und Dominic kämpfte mit Unglauben und Wut. Ihre Reaktion verriet ihm eine Menge, vor allem, dass die blaue Seide nicht zufällig an Ewans Schwertgriff gelangt war.
Sie wusste etwas über de Lanceaus gestohlene Seide. Sie wusste es!
Wie lange schon? War der Stoff in ihrem Besitz? Hier in ihrem Haus? Als er sie vor Tagen ins Vertrauen gezogen und ihr von seinem Auftrag erzählt hatte, hatte sie ihn angehört, ihn sogar ermutigt, während sie in ihrem Zuhause versteckte, was er suchte?
Sie hatte ihn belogen, und das traf ihn wie ein Dolchstoß. Sein süßes Gänseblümchen betrog ihn. Wie konnte sie?
Dominic senkte das Schwert und sah Gisela erzürnt an. Mit weit aufgerissenen Augen und kreidebleich starrte sie ihn an. Ewan weinte an ihrem Rock, während sie ihm besänftigend den Rücken rieb. Ihre tröstende, beschützende Geste verriet gleichfalls eine Menge – vor allem, wie sehr sie ihren Sohn liebte.
Genauso hatte Dominics eigene Mutter ihn getröstet, als er ein Kind gewesen war. »Ist ja gut!«, hatte sie gemurmelt und ihn gestreichelt, wenn er weinte, weil er sich den Zeh gestoßen oder sein Lieblingsspielzeugpferd in einer Brombeerhecke verloren hatte. Nach einer Weile hatte sie ihn ein Stück weggeschoben, um ihm die Tränen mit den Daumen abzuwischen. »Spar dir noch ein paar Tränen fürs nächste Mal auf.« Dabei hatte sie mit ihren gütigen braunen Augen gezwinkert. »Wie wäre es mit einer Geschichte, um dich aufzumuntern? Ich kenne eine ganz aufregende über eine schöne Maid und einen Drachen …«
Er verdrängte die kostbaren Erinnerungen. Seine persönlichen Gefühle sollten nicht – nein, sie durften nicht – überschatten, was Geoffrey ihm aufgetragen hatte. Gisela hatte ihm ihr Wissen vorenthalten, obwohl ihr klar gewesen sein musste, dass sie damit ein Verbrechen beging.
Mit wenigen Handgriffen hatte er den ungeschickten Knoten gelöst, der die Seide am Schwertgriff hielt. Derweil spürte er Adas strengen, anklagenden Blick auf seinem Rücken. Von dort, wo sie stand, konnte sie weder das Gerangel um das Holzschwert gesehen haben noch die blaue Seide an dem Griff. Gut so! Je weniger Leute die schreckliche Wahrheit kannten, desto besser.
Nachdem er den Streifen vollständig in seiner Hand verborgen hatte, hielt er Ewan das Schwert hin. »Deine Waffe, kleiner Krieger.«
Ewan hob das tränenfleckige Gesicht aus Giselas Röcken und schniefte.
»Unser Kampf ist vorbei. Unentschieden.«
Der Kleine runzelte die Stirn und schniefte nochmals.
»Wenn ich wiederkomme, werden wir zwei uns unterhalten, von Krieger zu Krieger. Einverstanden?«
Ewan sah ihn eine Weile verwundert an, wischte sich dann die Augen mit dem Ärmel und nickte. Dann nahm er sein Schwert zurück. »Wenn du wiederkommst?«
Dominic lächelte. »Ja.«
»Wo willst du denn hin?«
Dominic bemühte sich, weiter zu lächeln, während sein Blick Giselas Arm und Mieder hinauf zu ihrem sorgenvollen Gesicht wanderte. »Deine Mutter und ich müssen noch unser Gespräch beenden.«
Er sah, wie sie angestrengt schluckte. »Später, viell…«
»Jetzt!«
Sein Befehl jagte ihr eindeutig einen Schrecken ein, denn sie erstarrte. Ihre Hände auf Ewans Schultern rührten sich nicht mehr. Wie Dominic es hasste, so mit ihr zu reden! Doch er konnte nicht anders, denn seine widersprüchlichen, verwirrten Gefühle drohten, ihn innerlich zu zerreißen.
Er schob den Tunikaärmel ein Stück hoch und wickelte sich den Seidenstreifen ums Handgelenk, bevor er sich zu Ada umwandte. »Du bleibst bei Ewan!«
Sie zog wieder die Brauen hoch. »Ach ja?«, fragte sie spitz. »Ihr mögt ein Lord sein, und Ihr könnt mich dafür köpfen lassen, dass ich Euch meine Meinung sage, aber Ihr seid ein herrischer, arroganter, nichtsnutziger …«
Dominic zog den Saum seines Hemds hoch und holte einen kleinen Lederbeutel hervor, in dem es klimperte, als er ihn oben öffnete und umdrehte. Silbermünzen fielen ihm in die Hand.
Prompt stand Ada der Mund vor Staunen offen, und zunächst brachte sie keinen Ton heraus. Dann aber verfinsterten sich ihre Züge erneut. »Bei Gott, seid Ihr verdorben! Wollt Ihr mich jetzt bestechen?«
»Nein, gute Frau. Ich bezahle dich dafür, dass du auf Ewan achtgibst, während seine Mutter und ich einen Spaziergang machen.«
Ein leises Rascheln verriet ihm, dass Gisela sich bewegte. Er spürte, wie fieberhaft sie nach einem Ausweg aus ihrer misslichen Lage suchte – in die sie sich selbst gebracht hatte.
Eine ungeheure Wut kochte in ihm. Warum hatte sie ihm die Wahrheit nicht schon vor Tagen gesagt?
Dominic griff nach Adas Hand und ließ die Münzen hineinfallen. »Du bleibst, bis wir zurück sind!«
Adas Blick wanderte von den Münzen an Dominic vorbei. Zweifellos wollte sie Giselas Zustimmung einholen. »Aber …«
»Gut, dann wäre das geklärt.« Dominic drehte sich zu Gisela um, die sogleich zurückwich. »Nimm deinen Umhang!«
Sie funkelte ihn trotzig an. »Bleiben wir lange weg?«
Beinahe hätte er gelacht. »Das hängt ganz von dir ab.« Und, Gott stehe mir bei, davon, was ich mit dir zu tun entscheide, süßes Gänseblümchen, sobald ich die Wahrheit kenne. Und zwar nicht nur so viel, wie du mir verraten möchtest, sondern die ganze Wahrheit, bis hin zur letzten, bitteren Einzelheit.
Sie presste die Lippen zusammen, holte jedoch ihren Umhang vom Wandhaken und hängte ihn sich über.
»Wo geht ihr hin?«, fragte Ewan und sah Dominic sehr besorgt an.
»Wir gehen nicht weit.« Dominic wuschelte ihm durchs Haar.
»Warum siehst du so böse aus?« Ewan scharrte unglücklich mit den kleinen Füßen. »Du siehst aus, als wenn du gleich anfängst zu schreien, so wie Vater.«
Dominic verzog das Gesicht, denn unter keinen Umständen wollte er Giselas früherem Mann ähneln.
»Ewan …«
»Ich mag nicht, wenn du so guckst. Da wird mir so komisch im Bauch.«
Komisch? Dominic unterdrückte ein Stöhnen. »Deine Mama und ich müssen ein paar wichtige Sachen bereden. Und hinterher bin ich bestimmt nicht mehr so … verärgert.«
Gisela kam zu ihm und zog sich die Kapuze über, so dass ihr Gesicht halb im Schatten war.
Ein Locke lugte darunter hervor, die Dominic unter den dicken Wollstoff schob. »Geh einfach neben mir, als wären wir ein Paar, das einen harmlosen Abendspaziergang unternimmt.«
»Wie sollte ich sonst gehen?«, murmelte sie, während sie auf die Tür zusteuerte.
Er kam ihr nach. »So jedenfalls nicht.«
Gisela hob beide Hände. »Dominic!«
»Es ist besser, wenn Crenardieus Männer uns nicht folgen«, erklärte er bestimmt. »Und du erregst ihr Interesse, wenn du losmarschierst, als wolltest du jemanden verprügeln – nämlich mich.«
Immerhin kräuselten sich ihre Mundwinkel ein klein wenig, während Ada hämisch schnaubte.
Dominic beugte sich weiter zu Gisela. Der Duft ihres Haars, ihr Körper, ihre Süße, sie alle stellten seine Entschlossenheit auf die Probe, doch er ignorierte sie. »Ich versuche, ritterlich zu sein«, sagte er leise genug, dass nur sie es hören konnte. »Ich möchte deine Erklärung, wie du an die Seide gelangt bist, damit ich begreife, warum du mich belogen hast. Solltest du mir allerdings etwas vormachen, werde ich dich an mein Pferd binden und dich nach Branton Keep schleppen, wo du de Lanceau selbst Rede und Antwort stehen musst.« Er machte eine kurze Pause, um seine Worte wirken zu lassen. »Du hast die Wahl.«
»Ich weigere mich ja gar nicht, mit dir zu gehen«, zischte sie ihm zornig zu.
»Dann tust du, was ich sage!« Er ging an ihr vorbei, öffnete die Tür und bedeutete ihr, hinauszugehen. »Nach dir.«
Sie trat über die Schwelle und einen Schritt beiseite, um ihn vorbeizulassen. Nachdem er Ada zugenickt hatte, schloss er die Tür hinter ihnen. Dann wies er in Richtung Marktplatz. Wie er verlangte, blieb Gisela brav an seiner Seite. Ihre Schuhe knirschten leise auf dem festen Sand.
Eine frühabendliche Brise wehte, erfüllt von der typisch schweren Note des nahenden Zwielichts. Im Gehen blickte sich Dominic unauffällig auf der Straße um. Keine Spur von Crenardieus Schergen. Entweder waren sie bei ihm, um Bericht zu erstatten, oder aber sie hatten sich zum Essen weggeschlichen.
Dominic beschleunigte seine Schritte ein wenig und stellte zufrieden fest, dass Gisela es ihm gleichtat. Obwohl er allein mit ihr sprechen wollte, ohne Ewan und Ada, die sie ablenkten oder sich einmischten, war er ungern nach Einbruch der Dunkelheit draußen. Seine Unterhaltung mit Crenardieu gestern Abend hatte ihm eine vage Vorstellung dessen vermittelt, was sich hinter der idyllischen Fassade Cloveburys abspielte. Und das genügte ihm vollends.
Er überquerte den Markt zu den gegenüberliegenden Straßen und führte Gisela an Häusern und Läden vorbei, bis der Fluss vor ihnen auftauchte. Diese malerische Stelle hatte er entdeckt, als er das Ufer nach Hinweisen auf die gestohlene Seide abgewandert war. Umso passender, dass sein verwundetes Herz ihn nun wieder hierherkommen ließ.
»Würdest du mir bitte sagen, wohin wir gehen?«, fragte Gisela, die bei allem Trotz sehr unsicher klang.
»Dorthin.« Seitlich von der Straße verlief eine Steinmauer, ein Überbleibsel aus den Zeiten der römischen Eroberer. Sie wies etwas weiter vorn eine klaffende Lücke auf. Wahrscheinlich stammte sie von einem Fuhrwerk, das außer Kontrolle geraten und in die Mauer gekracht war. Steinbrocken lagen zwischen den Wildblumen und Gräsern, die zu beiden Seiten der Mauer wuchsen, als wollten sich die Steine selbst wieder in die Erde graben, zurück in vertraute Gefilde, ehe jemand sie erneut zur Mauer aufschichtete.
Dominic kletterte durch die Öffnung auf die Wiese, die sich bis hinunter zum Fluss erstreckte. Dann drehte er sich zu Gisela um und reichte ihr die Hand, um ihr zu helfen. Sie blickte mit einer Mischung aus Sehnsucht und bockiger Entschlossenheit auf seine Finger, bevor sie ihre schmalen Hände zu beiden Seiten an der Mauer abstützte und allein hindurchstieg.
Es versetzte Dominic einen Stich, dass sie ihm nicht gestattete, ihr zu helfen, doch er machte wortlos auf dem Absatz kehrt und ging voraus auf die Wiese. Die tiefen Schatten, die wie ein graues Tuch über den Gräsern und Blumen lagen, wurden nur hier und da von Flecken verblassenden Sonnenlichts erhellt.
Seine schweren Stiefel brachten das Wiesengrün zum Rascheln und scheuchten alles mögliche Getier auf – keine bunten Schmetterlinge oder summenden Hummeln, sondern kleine surrende Insekten.
Hinter ihm strich das Gras flüsternd über Giselas Umhangsaum. Vor Jahren war sie ihm genauso gefolgt, langsam und ein wenig scheu, aber mit einem Lächeln so strahlend wie die Frühlingssonne. Jetzt hingegen …
Er blickte sich zu ihr um. Nachdenklich sah sie nach vorn zum Fluss, zu der Holzbrücke ein Stück weiter sowie den Bäumen und Cottages auf der anderen Seite. Sie rieb sich die Arme, als wäre ihr kalt.
»Zu dem Baum dort. Da sieht man uns von der Straße aus nicht.« Dominic zeigte auf eine alte Weide, die in das Orange des Sonnenuntergangs gehüllt war.
Stumm folgte sie ihm unter die breiten herabhängenden Äste. Dann blieb sie stehen und sah hinunter auf das Gewirr von Wurzeln. Glaubte sie, die könnten ihr eine Lösung für ihr Dilemma verraten?
Nun war der Moment gekommen – der Moment, in dem er die Antworten auf seine Fragen bekam. Was er ahnte, bereitete ihm Bauchschmerzen.
Er wartete, bis sie ihn ansah, dann schob er seinen Ärmel hoch, so dass sie den Seidenstreifen sehen konnte, den er an sich genommen hatte. Die Ränder waren nicht ausgefranst, was bedeutete, dass der Streifen nicht von einem Stoffstück abgerissen, sondern fein säuberlich abgeschnitten worden war. Einzig eine gut geschliffene Schere hinterließ solch eine saubere Kante.
»Wie kommt Ewan zu dieser blauen Seide, Gisela?«
»Ich vermute, er hat … sie aufgehoben.«
»Er sagte, du hast sie ihm gegeben.«
Nervös schüttelte sie den Kopf. »Habe ich nicht. Er muss sie aus Schnittresten herausgesammelt haben, die ich zusammengefegt hatte. Ich habe es gar nicht bemerkt.« Wie sie aussah, plagten sie Selbstvorwürfe. »Ich hätte es merken müssen, hätte mir denken müssen, dass er sich etwas von dem Stoff für sein Schwert nehmen würde.«
»Du weißt also, wo die gestohlene Seide ist.«
Nach längerem Zögern nickte sie. »Einiges davon.«
»Sie ist in der Nähe deiner Schneiderei versteckt.«
»Unter den Dielen meines Geschäfts.«
»Gütiger!« Kein Wunder, dass sich die Bretter teils merkwürdig angehört hatten! Nur hatte Dominic gedacht, es läge an der dürftigen Bauweise des Hauses und daran, dass es sehr alt war.
»Als er mir die Ballen gab, sagte er mir, dass ich sie verstecken muss, damit sie vor Dieben geschützt sind. Und weil er die Einbrüche in letzter Zeit erwähnte, dachte ich mir nichts dabei.«
»Er?«, wiederholte Dominic. »Meinst du Crenardieu?«
»Ja.«
Französische Schlange!
»Wie hast du ihn kennengelernt?«
Sie faltete die Hände, doch ihre Finger bewegten sich weiter unruhig. »Eines Morgens kam er in meinen Laden. Er sagte, er hätte von meiner guten Arbeit gehört, und bat mich, einige Kleider für ihn zu nähen. Ich sagte zu, denn ich hatte ja keinen Grund, abzulehnen. Und dann, eines Abends, kam er mit zwei Ballen blauer Seide wieder.«
»Ich wusste, dass er etwas mit der gestohlenen Ladung zu tun hat!«, knurrte Dominic. »Etwas an seinem Gebaren …«
»Zuerst wusste ich gar nicht, dass das Tuch gestohlen war«, fuhr sie rasch fort. »Ich dachte, er hätte es für einen reichen Kunden gekauft. Bei seinen Verbindungen kann er allen Stoff kaufen, den er will.«
»Stimmt«, bestätigte Dominic, »und doch musst du misstrauisch geworden sein. Seide ist rar und teuer.«
»Nun ja, als ich von den gestohlenen Ballen hörte, wurde ich misstrauisch, aber ich behielt es für mich. Ich wollte ihn nicht zur Rede stellen, weil ich nicht riskieren durfte …« Ihre Stimme verlor sich, und sie sah über die Wiese, während sie weiter die Hände rang.
»Was riskieren?«, fragte Dominic. »Dass du ihn als Kunden verlierst?«
»Nein. Ich brauche den Lohn, den er mir versprochen hat.«
Dominic stöhnte vor Enttäuschung. »Lohn!« Sie betrog ihn aus reiner Gier?
Er war so maßlos wütend, dass es ihm schwerfiel, die Sache vernünftig anzugehen. Zumal sein Gewissen ihn aufforderte, Gisela der gerechten Strafe zuzuführen, wogegen sein Herz rebellierte. Aber die Gisela, die er gekannt hatte, war alles andere als habsüchtig gewesen, und es war ihm unvorstellbar, dass sie eine solch drastische Wandlung durchgemacht haben könnte – erst recht nicht, da sie ein Kind großzog.
Vor allem aber sprachen ihr bescheidenes Heim und die schlichten Kleider dagegen, dass sie eine gierige Frau war, die jede verdiente Münze sogleich wieder verprasste.
»Ich weiß, was du denkst«, sagte sie und riss ihn jäh aus seinen Gedanken. »Du glaubst, dass ich aus Gier handelte.«
»Ja, genau das dachte ich gerade.«
Gisela wurde noch nervöser. Seine Worte hatten sie offenbar verletzt. »Ich brauche sein Geld, Dominic! Von dem Tag an, als ich mit Ewan nach Clovebury kam, habe ich so viel gespart, wie ich konnte. Das war nicht leicht, denn ich verdiene nur sehr wenig, aber ich habe mir geschworen …«
Ein Schluchzen unterbrach sie mitten im Satz, und Dominic hatte Mühe, an sich zu halten, denn am liebsten wollte er sie trösten.
»Was hast du dir geschworen?«
Sie straffte die Schultern und sah ihn wütend mit tränennassen Augen an. »Ich habe mir geschworen, für Ewans Sicherheit zu sorgen, alles zu tun, was ich muss, um ihn zu schützen.«
Dominics Bauch, der ohnehin schon in Aufruhr war, krampfte sich zusammen. »Ich … verstehe.«
»Tust du das?«, fragte sie ungläubig. »Wie kannst du mich verstehen? Du mit deinen feinen Kleidern, deinem Geld, mit dem du nach Lust und Laune um dich werfen kannst, und deinem mächtigen Freund! Dir fehlt es an nichts!«
Die verzweifelte Wut in ihrer Stimme traf ihn so tief, dass er beinahe zusammenzuckte. Doch, süßes Gänseblümchen, mir fehlt sehr wohl etwas. Du fehlst mir, und du bist das Einzige, was ich mir wirklich wünsche!
Er öffnete den Mund, aber sie bedeutete ihm mit einer Handbewegung, ruhig zu sein. »Du hast gesehen, was mein Ehemann mir antat«, sagte sie leise. »In der Nacht, als er mit dem Dolch auf mich losging, schwor ich, dass ich lieber sterben würde, ehe ich mich noch einmal von ihm verletzen lasse.« Sie zitterte von Kopf bis Fuß, so viel Kraft kostete es sie, ihm davon zu erzählen. »Und ich schwor mir, ich würde niemals zulassen, dass er Ewan umbringt.«
»Was?«, würgte Dominic hervor. »Ewan … umbringen?« Vor lauter Entsetzen stolperte er einen Schritt zurück. »Warum …?«
Ein tiefer Schatten legte sich über ihre Züge, während sie ihn mit derselben bittersüßen Zärtlichkeit ansah wie vor langer Zeit. »Ryle wollte mich verletzen. Und um mich auf die schlimmstmögliche Weise zu verwunden …« Sie erschauderte so heftig, dass Dominic schon fürchtete, sie könnte zusammenbrechen. Entsprechend war er froh, als sie sich an den Weidenstamm lehnte.
Als sie den Kopf nach hinten neigte, fiel ihr der Zopf wie ein goldenes Band über die Brust, die sich mit jedem angestrengten Atemzug hob und senkte. Dominic musste an sich halten, um nicht auf ihre rechte Brust zu starren, deren üble Narbe von dem Kleid verhüllt war. Er hätte gern gefragt, was genau in jener Nacht passiert war, als Ryle sie entstellte.
»Gisela, warum sollte dein Ehemann sein eigenes Kind töten wollen?«
Ein trauriges Lächeln huschte über ihre Lippen. »Er war eifersüchtig.«
»Auf das Kind?«, fragte Dominic verwundert.
»Ja, auf die Zuneigung, die ich Ewan schenke. Auf die wundervolle, reine Liebe … in der er empfangen wurde.«
Ihre sanfte Stimme und die Stille der Wiese entführten ihn in eine längst vergangene Zeit. Doch er verdrängte die Erinnerungen und sagte: »Dann gab es in deiner Ehe Schwierigkeiten, nachdem du Ewan zur Welt gebracht hattest?«
»Nein, schwierig war es vorher schon«, erwiderte sie grimmig. »Ryle, er …« Sie presste die Lippen zusammen, als könnte sie den Satz unmöglich beenden.
»Ist schon gut. Du kannst es mir erzählen«, sagte Dominic.
»Er war …«
»Ein Monstrum«, ergänzte Dominic.
Sie nickte, und eine einzelne Locke von ihr verfing sich in der Baumrinde, die im letzten Sonnenlicht schimmerte. »Er war außerdem … impotent.«
Dominics Hand, die er halb erhoben hatte, um die goldene Locke zu befreien, verharrte mitten in der Bewegung. »Impotent.«
Wieder nickte sie, Tränen schwammen in ihren Augen.
Dominic runzelte die Stirn. Wie konnte ihr Ehemann impotent sein? Er hatte ein Kind gezeugt. Sie hatte einen Sohn bekommen. Vielleicht verwechselte sie »impotent« mit »intolerant« oder »inkontinent«. »Gisela«, begann er so behutsam wie möglich, »impotent heißt, er kann …«, er räusperte sich, »… kein Kind zeugen.«
»Ich weiß.« Sie blinzelte, bevor sie mit ihren leuchtend blauen Augen zu ihm aufblickte.
Wie sie ihn ansah! Als wären ihre Worte von monumentaler Bedeutung. Ein seltsames Kribbeln durchfuhr Dominic, eine Ahnung, dass er nicht richtig begriff, was sie ihm damit sagen wollte.
Er atmete tief durch. »Ich verstehe nicht ganz. Dein früherer Ehemann kann nicht … Du und er, ihr habt nie …«
»Die Ehe vollzogen«, vollendete sie den Satz.
»Kein einziges Mal?«, platzte es aus ihm heraus.
Sie wurde rot. »Kein einziges Mal.«
»Nicht einmal in der Hochzeitsnacht?«
»Nicht einmal da«, antwortete sie leise. »Er versuchte es.« Wieder erschauderte sie und senkte den Blick. »Er konnte nicht … Seine Männlichkeit ist nicht …«
»Angeschwollen?«, fragte Dominic.
Nun wurde sie noch röter. »Nicht wie deine.«
Nicht wie deine. Seine Lenden erhitzten sich, während er verzückt war, was sie mit diesen drei Worten enthüllt hatte. Sie erinnerte sich an seinen Körper, an die Wonnen, die sie gemeinsam erlebt hatten, an die Intensität, mit der er sie begehrt hatte.
Er räusperte sich abermals. »Aha.« Wann hatte sich sein Verstand verabschiedet? Gisela verführte ihn mit Erinnerungen, aber immer noch blieb sie ihm Antworten schuldig. Im Geiste schüttelte er sich. »Mir ist das unbegreiflich, Gisela. Wenn dein Ehemann die Ehe nie mit dir vollzogen hat, wie konntest du dann guter Hoffnung werden?«
Während er auf ihre Antwort wartete, wuchs die Anspannung in ihm. Gisela war schwanger geworden, weil sie eine Affäre gehabt hatte. Weil der Mann, mit dem sie verheiratet war, ihr keine Freuden bereiten konnte, hatte sie ihn betrogen, was erklären würde, warum er sie so grausam behandelt hatte.
Sie lächelte ein klein wenig, als wollte sie ihn fragen: Verstehst du es denn immer noch nicht, Dominic? Die Antwort ist ganz einfach.
Und plötzlich kannte er sie. Der Schock traf ihn mit solcher Wucht, dass es ihm beinahe den Boden unter den Füßen wegriss.
»Ewan …«, begann er heiser.
»Ja, Dominic. Er ist dein Sohn.«