NEUN

Am Samstagmorgen wachte Tom auf und bereute es sogleich. Ihm tat alles weh. Einfach alles. Seine Gelenke, seine Knochen, sein Gehirn. Er presste das Gesicht in das Kissen und blieb liegen. Seine Gedanken schweiften zurück zum Vortag, zum Abschluss von Angewandte Simulationen. Elliot kehrte auf die Burg zurück, nachdem König Artus und seine Ritter erkannten, dass die Sachsen sich nicht auf dem Schlachtfeld blicken lassen würden. Als er in den Thronsaal kam, stieß er dort auf Tom, der sich auf dem Thron von König Artus herumlümmelte. Sein Kleid war blutgetränkt, den Kopf des Sachsenkönigs hatte er auf einem Speer neben sich aufgespießt.

Er hatte Elliot den Kopf als Zeichen seiner Lehnstreue angeboten, doch Elliot hatte ihn nicht angenommen. Er bedachte Tom lediglich mit einem strengen Blick, der so viel sagte wie: »Du hast mich enttäuscht, Junge«, und beendete die Simulation.

Das einzig Gute war gewesen, dass er Tom dieses Mal keinen ellenlangen Vortrag über Teamwork gehalten hatte.

»Steh auf.« Vik versetzte ihm einen Schlag. »Wir gehen zu Toddery’s Chicken Barn und dann vielleicht noch in die Stadt.«

»Toddery’s Chicken Barn?«, murmelte Tom in sein Kissen hinein.

»Die tischen da nicht bloß Hähnchen auf. Ist viel besser, als es sich anhört.«

»Das sollte es auch lieber sein. Hör zu, es ist noch zu früh.«

»Komm schon, Mann. Leute mit Neuronalprozessoren brauchen nicht auszuschlafen.«

»Ich schon«, sagte Tom, obwohl das eigentlich nicht stimmte. Er war hellwach, hatte aber Schmerzen. Jeder Atemzug versetzte ihm Nadelstiche im Brustkorb, jede Bewegung fuhr ihm wie ein Stromschlag durch die Glieder, so als hielte ihm jemand ein Strom führendes Kabel an die Gelenke.

Er biss die Zähne zusammen und drückte sich das Kissen auf den Kopf. Er würde versuchen, noch ein wenig zu schlafen, und hoffte, dass es danach besser sein würde. Vielleicht war er von jemandem zusammengeschlagen und so fest am Kopf getroffen worden, dass er es vergessen hatte? Nein. Er kramte in seinen Erinnerungen an den vergangenen Abend. Er stieß dabei nicht auf Lücken. Der Neuronalprozessor hatte hilfreicherweise sogar seine jüngsten Erinnerungen mit Datum und Uhrzeit versehen, sodass Tom sicher war, nicht erdrosselt worden zu sein und es in der Folge vergessen zu haben.

Als ihn bei einer weiteren Bewegung erneut Schmerz durchfuhr, schaltete sich sein Neuronalprozessor in den Scanningmodus.

»Hä?«, nuschelte Tom in sein Kopfkissen.

Eine Abfolge von Statistiken wurde in seinem Gehirn eingeblendet: pH, CO2, HCO3, WBC, RBC, RDW, HR, RR Tom zog sich das Kissen fester über den Kopf und wünschte sich nur noch, dass alles aufhören würde.

In diesem Moment wurde eine Zahl vor seinen Augen eingeblendet, die ihn bis ins Mark schockierte.

Er war 10,7 Zentimeter größer als noch am Mittwoch.

Tom rollte sich auf den Rücken, und ein greller, jäher Schmerz durchzuckte ihn. Er ignorierte den Schmerz und schaute auf seine Beine hinab. Sie wirkten tatsächlich länger. Er wackelte mit den Zehen, nur um sich zu vergewissern, dass dies wirklich sein eigener Körper war. Selbst seine Zehen wirkten länger. Seine Füße waren größer.

Tom hielt sich die Hände vor das Gesicht, ballte sie zu Fäusten und öffnete sie wieder, die Größe seiner Handflächen bestaunend. »Bratpfannenhand«, murmelte er.

»Was ist mit Enslow?«, fragte Vik von der anderen Seite des Zimmers.

»Nicht sie. Ich.«

Tom warf den Kopf zurück und beschloss, dass es in Ordnung war, am ganzen Körper Schmerzen zu haben. Immerhin konnte es nicht so schlecht um ihn stehen, wenn er jetzt große, männliche Hände hatte.

Den Schmerz zu ignorieren wurde noch schwieriger, nachdem Vik, Yuri und Beamer losgezogen waren. Zu Anfang reichte es, sich langsam zu bewegen, um den Schmerz in Schach zu halten. Doch bald saß Tom auf dem Bett, surfte im Internet, indem er Eingaben auf seiner Unterarmtastatur machte und seinen Infoscreen als Monitor benutzte, und musste die Zähne zusammenbeißen, weil es sich anfühlte, als würde in seinen Gelenken Glas geschliffen.

Das Einzige, was ihn von den körperlichen Beschwerden ablenken konnte, war der Gedanke an Medusa, den russisch-chinesischen Kämpfer. Tom hatte sich sämtliche Aufnahmen der jüngeren Zeit von Medusas Gefechten mit indo-amerikanischen Streitkräften heruntergeladen. Mit geschlossenen Augen hatte er in der vergangenen Nacht Stunden damit zugebracht, diese Dateien in seinem Neuronalprozessor abzurufen und in seinem Gehirn abzuspielen.

Nun schaute er sich noch einige andere an: Medusa, wie er durch die Ringe des Saturn schoss und den Kurs eines Kometen so veränderte, dass dieser auf eine indo-amerikanische Bohrplattform auf dem Mond Titan krachte. In einer anderen Schlacht entging Medusa einer Falle, in welche die indo-amerikanischen Kämpfer die anderen russisch-chinesischen Kämpfer manövriert hatten: ein koronaler Massenauswurf, der den größten Teil der russisch-chinesischen Schiffe vernichtete. Dann wich Medusa der geballten Feuerkraft von einem Dutzend Schiffen aus, die es allesamt auf ihn abgesehen hatten, und schaffte es nichtsdestotrotz, die indo-amerikanischen Streitkräfte zur Venus zu locken. Dort wiederum schleuste Medusa sein Raumfahrzeug direkt in eine Luftströmung, die ihn zurück in die hohe Atmosphäre schleuderte, während die indo-amerikanischen Verfolger auf die Oberfläche gesogen wurden, wo ihre Schiffsrümpfe schmolzen und dann zerschmetterten.

Tom war dermaßen fasziniert davon, sich diese Aufnahmen noch einmal anzuschauen, dass er es kaum registrierte, als jemand an die Zimmertür klopfte. Als die Tür aufging, zuckte er zusammen.

»Bist du taub, oder was?«, ertönte eine Mädchenstimme. «Hast du mich nicht klopfen gehört?«

Tom riss die Augen auf und sah, dass Wyatt aufrecht und schlaksig in der Tür stand, wie immer mit gerunzelter Stirn.

»Nett von dir, trotzdem einfach reinzukommen. Schon mal drüber nachgedacht, dass ich es ignoriert habe?«

Sie schlug die Augen nieder. »Dann hättest du dir zwei Sekunden Zeit nehmen können, um mir zu sagen, dass ich wieder gehen soll.«

Ihm war zumute, als hätte er soeben einem jungen Hund einen Tritt versetzt. »Ich war von etwas abgelenkt, sonst hätte ich dich hereingebeten.« Er gab den mentalen Befehl, die Wiedergabe der Dateien anzuhalten, woraufhin die Bilder von Medusas Raumfahrzeug von seinem Infoscreen verschwanden. »Wieso hängst du an einem Samstag im Turm herum? Du bist gar nicht mit Vik und den anderen losgezogen?«

»Yuri hat mich dieses Mal nicht gefragt. Und er ist der Einzige, der mit mir ausgehen will.«

Tom dachte darüber nach. »Erinnerst du dich noch, wie du mir gesagt hast, ich solle weggehen und dich nie wieder ansprechen, als wir uns das erste Mal begegnet sind? Sagst du so etwas häufiger? Die Leute gehen nämlich im Allgemeinen davon aus, dass du das ernst meinst.«

»Oh.«

»Bloß so ein Gedanke.«

»Also, ich wollte dich fragen, ob gestern alles für dich okay war. Hat Elliot dich wegen des Sachsenkönigs angeschnauzt?«

»Anschnauzen ist nicht sein Ding. Er hat es mehr mit der Macht der missbilligenden Blicke.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus und schüttelte in einer Imitation von Elliot mit gespieltem Tadel den Kopf.

Wyatts Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Sie stand nach wie vor im Türrahmen und trat unbehaglich von einem Bein auf das andere, so als würde sie die Verhaltensregeln nicht kennen, wenn man den Raum eines anderen betrat.

»Du kannst reinkommen«, beschied ihr Tom.

Zögernd trat sie einige Schritte ein. Dann blieb sie eine Weile einfach nur neben seiner Tür stehen und starrte ihn an, sodass er nach einer Ablenkung suchte. »Hey, spielst du irgendwelche Games?«

Kaum hatte er sie ausgesprochen, bereute er seine Worte auch schon. Nun blieb sie vielleicht länger, und dann würden sie sich noch länger verlegen anstarren.

Doch Wyatt runzelte bloß die Stirn, so als ergäben die Worte keinen Sinn. »Games?«

»Virtual-Reality-Games«, erklärte Tom verzweifelt. »Du weißt schon. Rollenspiele. Strategiespiele. Ego-Shooter.«

»Ich mag keine Kämpfe.«

»Dann eben Strategiespiele.« Das kam ihm eigentlich auch entgegen. Die meisten Strategiespiele machten es nicht erforderlich, dass er sich viel bewegen musste, und er konnte eines aussuchen, bei dem sie bloß die Tastaturen benötigten. Er durchsuchte die Datenbank des Turms und stieß auf das Spiel »Freibeuter«. Dabei ging es vor allem ums Handeln und Verhandeln. Sein Lieblingsspiel war es nicht gerade, aber es war eher etwas für intelligente Leute, und er ging davon aus, dass sie darauf stehen würde.

Das tat Wyatt auch. Beim Verhandeln war sie nicht so toll, aber sie konnte einen Kurs berechnen wie ein Profi.

»Das hast du aber gut drauf«, meinte Tom, als sie die Inseln Polynesiens schneller als er erreichte.

»Ist doch bloß Mathe.«

»Stimmt ja. Mathe ist voll dein Ding, was? Der Grund, warum man dich rekrutiert hat.«

Sie saß mit dem Rücken an einen Pfosten von Viks Bett gelehnt, die Arme um ihre angezogenen Knie gelegt, und tippte halbherzig auf ihrer Unterarmtastatur herum. »Ich war gut darin. Meine Eltern haben mich immer zu Wettbewerben angemeldet, und wenn ich gewollt hätte, hätte ich schon früh aufs College gehen können. Da hier jeder einen Neuronalprozessor hat, bedeutet es natürlich nichts mehr, gut in Mathe zu sein.« Ihr Blick huschte zu ihm herüber. »Bei dir ist es bestimmt das Gleiche, das mit dem Buchstabierwettbewerb. Jetzt, wo sie alle Neuronalprozessoren haben, kann jeder so gut buchstabieren wie du.«

Tom konnte nicht anders, er musste einfach lachen. »Ja, es macht mich verrückt zu hören, wie jetzt jeder korrekt buchstabiert. Das wertet meine Begabung wirklich ab.«

»Na ja« – Wyatt schob sich eine Strähne hinter das Ohr – »wenigstens habe ich hier etwas entdeckt, was ich auch kann. Ich verstehe nicht, warum so viele Leute Programmieren nicht begreifen. Ich glaube, sie wissen einfach nicht mehr, wie man eigenständig denkt. Sie haben sich zu sehr daran gewöhnt, einfach alles herunterzuladen. Es erscheint ihnen ein zu großer Aufwand, Wissen selbst zu kombinieren und ein Programm zu schreiben.«

»Blackburn scheint auch dieser Meinung zu sein«, sagte Tom. Er erinnerte sich an das, was Blackburn zu Heather in der Klasse gesagt hatte. »Zu blöd, dass er es auf dich abgesehen hat. Wahrscheinlich wärt ihr beiden die größten Seelenverwandten.«

Wyatt presste die Lippen zusammen.

»Oder nicht?«

»In meiner ersten Woche hier habe ich Profile gehackt, um Leuten zu helfen, die befördert werden wollten«, erzählte Wyatt mit ausdrucksloser Stimme. »Das war dämlich von mir. Seitdem muss ich immer meinen Code entstellen, bevor ich ihn eingebe, damit Blackburn nicht erkennt, dass ich es war, der das damals getan hat. Und die Leute, für die ich es getan habe? Keiner von ihnen hat hinterher auch nur noch ein einziges Wort mit mir gewechselt.«

»Du hast es aber doch nicht etwa getan, um Freundschaften zu schließen, oder?«

Darauf gab sie keine Antwort.

»Hör zu, Wyatt, das scheinen absolute Dumpfbacken zu sein. Wieso sollte die Sache bei Beförderungen überhaupt so eine Rolle spielen? Die besonderen Leistungen im Profil sind doch Geschichte.«

»Koalitionskonzerne haben großes Interesse daran, Leute zu sponsern, die eine tolle Vorgeschichte mitbringen. Einer der Leute, deren Profil ich geändert habe, ist einen Monat später in die Camelot Company gekommen. Wahrscheinlich wäre sie sowieso gesponsert worden, aber ihr neues Profil hat ihr geholfen, in das Unternehmen zu kommen, in das sie wollte.«

»Wer war das denn?«

»Spielt keine Rolle«, beharrte Wyatt und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Spiel. »Ist jetzt sowieso alles egal und vorbei.«

Am Sonntag war Tom fünfzehn Zentimeter größer als am Tag seiner Ankunft im Turm, und etwas Seltsames geschah. Sein Neuronalprozessor führte fortwährend Scans durch, einen nach dem anderen. Auf seinem Infoscreen blinkte eine Nachricht auf: CA 7,3 (8,9-10,3).

»Vik«, sagte Tom zu seinem Stubenkameraden, der auf dem anderen Bett lag und mit Datenhandschuhen, die er aus der VR-Halle im Erdgeschoss herausgeschmuggelt hatte, Games spielte. »Was ist CA sieben Komma drei?«

»CA . . . California?«

»Das glaube ich nicht.« Nach einer Weile gab Tom zu: »Die Schmerzen in meinen Knochen bringen mich um. Ich kann mich kaum noch bewegen.« Außerdem kribbelten seine Lippen und Finger, als kröchen ihm Käfer unter der Haut entlang.

Vik musterte ihn. »Ich glaube nicht, dass das normal ist.«

»Echt nicht?«

»Geh und frag in der Krankenstation nach.«

Tom stöhnte innerlich. Die lag im Erdgeschoss, und das war ein langer Weg.

Wenn er so darüber nachdachte, fragte er sich allmählich auch, ob bei ihm etwas ernsthaft nicht stimmte. Er hatte es am Vortag bei Wyatt zur Sprache gebracht. Die hatte so ungefähr zwanzig verschiedene tödliche Krankheiten aufgelistet, an denen er leiden konnte, und das hatte ihn nicht gerade beruhigt. Viks Worte motivierten ihn schließlich dazu, die Zähne zusammenzubeißen und loszutaumeln.

Er schaffte es bis zum Aufenthaltsraum der Rekruten.

Dort stieß er auf eine Gruppe der Dschingis Division, die Billard spielte. »Hey, schaut doch nur, da kommt Bello!«, brüllte eine vertraute Stimme.

Tom seufzte stumm. Es war Karl Marsters. Der massige, schweinebackige Dschingis richtete sich nach dem Stoß, den er soeben ausgeführt hatte, auf. An seinem wulstigen Nacken traten die Muskelstränge hervor, und auf seinem Gesicht breitete sich ein Grinsen aus.

»Was willst du von mir?«, fragte ihn Tom.

Als Tom Anstalten machte, zum Aufzug zu gehen, trat Karl einen Schritt vor, um ihm den Weg zu versperren. »Besonders höflich ist er nicht, oder? Kein braves Hündchen.«

Tom wollte ihn beiseiteschieben, doch ein wuchtiger Schlag gegen die Brust ließ ihn zurücktorkeln. Er prallte gegen die Wand und richtete sich mit hämmerndem Herzen dort ruckartig wieder auf.

»Wie ich höre, machst du meinem Freund Elliot das Leben schwer«, sagte Karl.

»Deinem Freund, Elliot? Was geht dich das denn an?«

Karl schaute zu seinen Kameraden, drei große Kerle und ein spindeldürres blondes Mädchen mit Mäusezähnen. »Du bist Meister im Buchstabieren, nicht wahr, Rin Tin Tin? Wie buchstabiert man: ›Wenn ich nicht lerne, mit mehr Respekt zu den Leuten zu sprechen, die über mir stehen, dann bekomme ich die Fresse poliert‹?«

Tom lachte und konnte der Versuchung nicht widerstehen: »Das ist ganz leicht. K-A-R-L.«

Blitzschnell flog Karls Faust auf sein Gesicht zu. Doch Tom duckte sich rechtzeitig. Ein hässliches Knacken durchschnitt die Luft, als Karls Knöchel gegen die Wand krachten. Karl schrie auf, und Tom benötigte dieses Mal keine Warnmeldung auf seinem Infoscreen, um zu wissen, dass er in der Klemme steckte. Er stürzte an dem großen Dschingis vorbei, um zum Aufzug zu gelangen. Doch das hätte er niemals rechtzeitig geschafft, sodass er seitlich ausscherte in der Hoffnung, sich in den Räumen einer anderen Division verkrümeln zu können.

Er hatte Glück. Gleich die erste Tür, an die er gelangte, glitt auf. Er stolperte hinein und verriegelte sie hinter sich. Prompt gab es einen dumpfen Schlag, als seine Verfolger unsanft gegen sie knallten.

Atemlos, aber freudig erregt lachte Tom auf. Der Adrenalinschub ließ ihn den sonderbaren Schmerz in seinen Gelenken fast vergessen. Er hörte leise Schritte hinter sich, dann eine vertraute Stimme. »Hast du dich verlaufen?«

Tom zuckte zusammen. Er wirbelte herum und fing den Blick aus einem vertrauten gelbbraunen Augenpaar auf. »Heather.«

Sie lehnte an der Wand des Korridors, und ihr dunkles Haar fiel ihr offen über die Schultern. »Dir ist aber schon klar, dass hier die Räume der Machiavelli Division sind, nicht wahr?«

Hinter ihm hämmerten Fäuste gegen die Tür. Tom wies mit dem Daumen auf sie. »Kann ich hier irgendwie Asyl bekommen? Ich werde verfolgt.«

»Wer verfolgt dich denn?«

»Dschingisse. Große, wütende Dschingisse.«

Heather stemmte eine Hand in ihre Hüfte und gab ein vorwurfsvolles Schnalzen von sich. Ihre Augen glitzerten spitzbübisch. »Hast du etwas angestellt, Tom?«

»Nein, das schwöre ich. Ich kenne Karl Marsters doch kaum. Er hat sich total darüber aufgeregt, weil ich Elliot angeblich blöd komme.«

»Oh, natürlich.« Heather neigte sich vor, hängte sich bei ihm ein und führte ihn den Gang entlang in einen Wohnbereich, in dem kreisförmig angeordnet Stühle standen. »Das liegt daran, dass Elliot ein Napoleon ist. Napoleons und Dschingisse sind Verbündete. Die passen immer aufeinander auf. Du hättest zur Hannibal Division gehen sollen. Sie sind mit den Alexanders verbündet. Sie würden dich beschützen.«

Sie hatte sich dicht an ihn gedrückt, und er spürte ihre Körperwärme an seinem Arm. »Hä?«, machte Tom, bemüht, sich nicht allzu sehr davon ablenken zu lassen. »Das ist ja komisch. Ich wusste gar nicht, dass die Zugehörigkeit zu einer Division eine so große Rolle spielt.«

»Im Moment sind sie für dich bloß unterschiedliche Schlafsäle. Erst wenn es um potenzielle Sponsoren von Unternehmerseite geht, spielen Divisionen eine Rolle. Alexanders und Hannibals werden dich den Repräsentanten ihrer jeweiligen Firmen vorstellen – das sind die Leute in den Konzernen der Koalition, die darüber entscheiden, welche Kombattanten sie sponsern wollen. Sie übernehmen die Kosten für die Sendezeit für einen Kombattanten, stellen ihnen Schiffe zur Verfügung, mit denen sie kämpfen können, und ermöglichen es dem Militär finanziell, sie bei Schlachten im Weltraum einzusetzen.«

»Die Leute sind also gar nicht in der CamCo, weil sie gut wären.«

»Gut zu sein hilft. Und nein, das hier ist keine reine Leistungsgesellschaft. Es geht auch darum, die richtigen Leute zu kennen.«

»Ich dachte, es ginge hier ausschließlich um Krieg. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es um Politik geht.«

Sie stieß ihn mit der Hüfte an. »Tom, kennst du nicht den Spruch: ›Politik ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.‹?«

»Und wie ist es mit den Machiavellis?«, fragte Tom, während sein Blick auf die Abbildung eines Federkiels auf ihren Schultern fiel. »Mit wem habt ihr euch verbündet?«

»Wir meiden dauerhafte Bündnisse. Wir sind frei und ungebunden.«

»Freiheit ist gut. Ich bin total für Freiheit.« Außerdem war er total dafür, Heathers Hände überall auf seinem Körper zu spüren.

Sie zupfte ihn am Arm und drückte sich gegen seine Brust. Ihr Drängen ließ Tom zurückweichen, bis er mit den Beinen gegen das weiche Polster eines Sessels stieß. Er ließ sich auf ihn fallen.

»Tja«, sagte Heather, ließ sich ihrerseits auf einen Sessel fallen und schlug die Beine übereinander. »Freiheit hat ihre Nachteile. Ich bin der einzige Machiavelli in der CamCo, weil die miteinander verbündeten Divisionen ihren Sponsoren immer nur potenzielle Kombattanten aus den Reihen des jeweils Verbündeten vorschlagen. Alexanders und Hannibals stellen einander vor, Napoleons und Dschingisse stellen einander vor … Es dreht sich alles um Einfluss. Wenn du mehr Leute aus deiner eigenen Division in der CamCo hast, dann kannst du noch mehr Leute aus deiner Division in die CamCo schleusen. Deswegen war es schwierig für mich, überhaupt reinzukommen.«

»Schwierig für dich?«, fragte Tom ungläubig. Jemand, der fliegen konnte wie sie, der aussah wie sie, und da schlugen sich die Unternehmen nicht darum, sie sponsern zu dürfen?

»Ich bin nur in das Programm gekommen, weil ich es tatsächlich verdient hatte. Ich hatte keinen reichen Onkel, der mir Kontakt zu Matchett-Reddy hergestellt hätte wie Lea Styron, und auch keinen Dad, der bei Dominion Agra arbeitet wie Karl Marsters.« Sie trommelte mit den Fingern auf die Armlehne ihres Sessels. »Aus diesem Grund besuche ich das Stockwerk der Rekruten. Die haben den größten Aufenthaltsraum, und wir planen gerade, wie wir einen weiteren Machiavelli in die CamCo schleusen können. General Marsh hat sich bereit erklärt, an den Verteidigungsausschuss heranzutreten, damit er einen aus dem Gehobenen Dienst aus unserer Division nominiert. Also muss ich jetzt zusehen, wie ich ein Unternehmen dazu bringen kann, uns zu unterstützen.«

»Warum nimmst du dafür nicht einfach deinen Sponsor?«

»Habe ich versucht, aber bei Wyndham Harks ist es mir nicht gelungen, sie an Bord zu holen. Deswegen müssen wir uns woanders umschauen und zusehen, dass wir jemand aus einer anderen Division finden, der uns hilft.«

Tom dachte an die beiden anderen von Wyndham Harks gesponserten Mitglieder der Camelot Company: Yosef Saide aus der Dschingis Division und Snowden Gainey von den Napoleons. Das waren beides adrette Typen mit symmetrischen Gesichtszügen und einem aufgesetzten Grinsen. Die beiden und Heather verband, so vermutete Tom, ein ganz bestimmtes gemeinsames Merkmal, das Wyndham Harks bei Kombattanten am Herzen lag: gutes Aussehen.

»Wen schlägst du vor?«, wollte Tom von ihr wissen.

Heather deutete mit dem Kopf auf jemanden, der hinter Tom im Flur stand. »Nigel.«

Tom drehte sich um und sah einen schmächtigen Jungen im Flur stehen. Er war mager und zerbrechlich, hatte volle Lippen, eine winzige Nase und ein Gesicht, das geradezu mädchenhaft wirkte.

Name: Nigel Harrison

Einheit: US-Intrasolare Streitkräfte, Gehobener Dienst, Machiavelli Division

Herkunft: Cambridge, England

Besondere Leistungen: Sieger der Internationalen Linguistikolympiade, Mitglied des Britischen Verbands für Computerlinguistik

IP: 2053:db7:lj71::262:ll3:6e8

Sicherheitsstatus: Topsecret LANDLOCK-5

»Ich schätze mal, du hast mitgehört. Hast du mitbekommen, in welcher Lage Tom steckt?«, fragte ihn Heather.

»Ja. Da draußen sind Dschingisse, die hier reinwollen, nicht wahr?« In Nigels Stimme schwang ein leichter britischer Akzent mit. An dem Jungen war alles glatt, von seinem gegelten Haar bis zu der Art, wie er ging, nämlich so leichtfüßig, dass Tom seine Schritte nicht gehört hatte. Er hatte einen seltsamen Tick, eine kleine, andauernde Verkrampfung an seinem rechten Auge, so als hätte er über dieses nicht die völlige Kontrolle.

»Ja.« Tom bemühte sich, nicht auf sein zuckendes Auge zu schauen. »Tut mir leid wegen des Hämmerns an der Tür.«

»Schon gut. Mir fällt da etwas ein. Dir auch?« Nigel sah Heather an.

Heather stützte das Kinn auf die Hand. »Vielleicht.«

»Doch«, sagte Nigel mit so leiser Stimme, dass Tom es fast nicht gehört hätte.

»Gut«, stimmte ihm Heather zu.

Hätte Tom es nicht besser gewusst, hätte er sich gefragt, ob die beiden die Hälfte dieses Gesprächs telepathisch abhielten.

»Tom«, sagte Heather abrupt, »würdest du auf einer der Stuben warten, bis Nigel und ich hier fertig sind? Ich bin gleich wieder da, und dann überlegen wir, wie wir dich hier rausbekommen. Wenn das okay für dich ist« – sie zwinkerte ihm zu – »zu warten, bis es vorbei ist, könnte ich dir danach natürlich Gesellschaft leisten.«

Gut. Mein Gott. Sie hatte aber wirklich ein Lächeln drauf, bei dem jeder Widerstand zwecklos war.

»Ja. Ja, ich warte dann.« Er ging zur nächsten unbesetzten Stube, wobei er in seiner Hast gegen den Türrahmen stieß. Tom lachte, denn dieses Mädchen ließ sogar seinen Neuronalprozessor versagen.

Der Schmerz in seinen Knien ließ ihn zusammenzucken, als er sich auf der Kante eines nicht belegten Bettes niederließ. Ungeduldig klopfte er sich mit der Hand auf den Oberschenkel. Nach einer Weile schloss er die Augen und ging eine schematische Darstellung des Turms durch, bemüht, einen Weg zu finden, wie er an den Dschingissen vorbeikommen konnte, die auf ihn lauerten. Die auf seinem Infoscreen blinkende CA-Ziffer wurde immer niedriger, und wenn er so darüber nachdachte, kribbelten seine Lippen und Fingerspitzen nun wieder …

Die Tür ging auf. Mit schweren Schritten kam jemand auf ihn zu.

Zu schwer für Nigel oder Heather.

Tom riss die Augen auf, und ihn durchfuhr ein Schrecken.

Karl Marsters ragte drohend über ihm auf, zerschrammt und blutig. Seine Faust fuhr auf Toms Gesicht nieder.

Er kam wieder zu sich, als Karl ihn in den Gang zerrte. Nigel und Heather schauten nur wenige Schritte entfernt zu. Toms blutende Nase löste einen Erstickungsanfall aus. Er versuchte, sich aus der Umklammerung der kräftigen Arme zu befreien, die um seinen Hals geschlungen waren, kam jedoch nicht dagegen an.

»Danke. Danke, Leute«, beschied Karl den beiden.

»Hast du ihn geschlagen?«, wollte Heather wissen. »Das war nicht Teil unserer Abmachung, Karl.«

»Tut mir leid, ich konnte einfach nicht widerstehen. Ich kenne die eidesstattliche Erklärung – in den Räumen der Machiavellis wird nicht geschlagen.«

Nun begriff Tom. Heather hatte gar nicht mit ihm geflirtet, als sie ihn auf die Stube geschickt hatte. Sie war ihn bloß losgeworden, um ihn zu verraten. Diese Erkenntnis löste ein bitteres Gefühl in ihm aus, während Karl ihn gegen seinen Willen Schritt für Schritt mit sich zerrte.

Nigel trat mit glänzenden Augen näher. »Denk an die eidesstattliche Erklärung. Du hast sie unterzeichnet. Du hast dich verpflichtet.«

»Ja, ja. Ich werde mich schon daran halten.« Karl schleifte Tom ruckartig weiter. »Ihr habt mir den kleinen Dreckskerl überlassen, und wenn Marsh euch beim Verteidigungsausschuss nominiert, nehme ich dich zu meinem Repräsentanten von Dominion Agra mit, um zu erreichen, dass sie deine Bewerbung annehmen und dich sponsern.«

Heather lächelte Tom an, so als könne sie ihn selbst jetzt noch, da ein großer Dschingis ihn dank ihres Verrates mehr oder weniger erwürgte, becircen. Die Tatsache, hier mit blutiger Nase von Karl in den Schwitzkasten genommen zu werden und von ihr für dumm verkauft worden zu sein, führte dazu, dass er sich endgültig wie ein Vollidiot vorkam. »Tut mir leid, Tom, das musst du verstehen: Wir brauchen mehr Machiavellis in der CamCo. Das ist eine Frage der Divisionsehre.«

Bei einem weiteren Versuch, sich Karls Umklammerung zu entreißen, trat Tom nach hinten aus. Doch Karl trug nicht umsonst den Titel eines Schwergewichtsmeisters im Ringen. Eine große Hand umklammerte Toms Handgelenke hinter seinem Rücken und verdrehte sie so, dass er sich weit nach vorn beugen musste, damit ihm nicht die Arme ausgekugelt wurden.

Karl drückte die Hand auf Toms Kopf, presste ihn hinunter und ließ ihn auf diese entwürdigende Art weitergehen. »Ende Gelände. Marsch, marsch, Lassie.«

Tom konnte sich gegen den erzwungenen Marsch in den Aufenthaltsraum nicht wehren. Dort hatte sich eine Gruppe von Dschingissen versammelt. Toms Schläfe pochte. Er saß gewaltig in der Klemme.

Karls Stimme dröhnte durch den Aufenthaltsraum: »Nun, meine Damen und Herren, manchmal kommt ein Rekrut zu uns, dem Bescheidenheit beigebracht werden muss.«

Erneut bemühte Tom sich, sich befreien, doch Karl riss seine Arme noch höher, und der Schmerz wurde so schlimm, dass es sich anfühlte, als wären seine Arme Streichhölzer, die gleich zerbrachen. Nicht imstande, etwas dagegen zu unternehmen, sackte er abermals zusammen und musste mit ansehen, wie sein Blut auf den Teppich tropfte.

»Möchtest du dich bei uns entschuldigen, Fiffi?« Karl riss Toms Kopf hoch und wieder herunter, sodass Tom notgedrungen nickte. »Ich wette, das wirst du. Mach es laut und deutlich, damit dich alle verstehen können.«

Tom biss die Zähne zusammen. »Nein.«

Karl riss Toms Arme zu den Schultern hoch, woraufhin dieser vor Schmerzen stöhnte.

»Das fühlt sich jetzt nicht so toll, an, oder?« Mit seiner großen Hand zerrte Karl Toms Kopf hin und her und schüttelte ihn durch. »Das magst du nicht, stimmt’s? Willst du, dass es aufhört? Dann bell für uns, Bello. Bell.«

Den Laut des Schmerzes, der ihm über die Lippen drang, konnte Tom nicht verhindern. Aber er würde niemals bellen, ganz gleich, wie sehr es schmerzte. Eher würde er sich die Gedärme aus dem Leib reißen lassen, als irgendetwas zu tun, was Karl von ihm verlangte.

»Tu es jetzt sofort, oder ich reiße dir die Arme aus den Gelenkpfannen, Fiffi.«

»Tu es doch! Dann tu es eben. Bellen werde ich nicht!«

»Schön. Du meinst also, ich bluffe? Dann zeige ich dir mal einen Bluff!«

Tom jaulte auf, als seine Arme über die Maßen verdreht wurden. Plötzlich erfüllte ein seltsames Geräusch den Raum, so als gäbe eine ganze Horde von Leuten gackernde Laute von sich. Tom hörte Karl rufen: »Was zum …«

In diesem Moment ließ Karl ihn los, taumelte zurück und kniete sich auf den Boden.

»Gock«, gab Karl von sich.

Tom taumelte von ihm weg und wischte sich mit dem Ärmel über die schmerzende Nase. »Was?«

»Gock, gock«, wiederholte Karl und presste die Nase auf den Teppich. »Gock, gock, gock.«

Völlig perplex rieb sich Tom mit dem Ärmel die Augen. Er schaute die anderen Dschingisse an und sah, dass sie sich allesamt niederknieten, rhythmisch die Nasen auf den Teppich pressten und dabei gackerten.

»Tja, ich würde sagen, das hat hingehauen.«

Wyatt Enslows Stimme ließ ihn zusammenschrecken. Als er herumwirbelte, trat sie gerade mit frei gelegter Unterarmtastatur aus der offenen Fahrstuhltür heraus.

»Was geht hier vor?«, fragte Tom sie verdutzt. »Was machen die hier alle?«

»Sie denken, sie sind Hühner«, erwiderte Wyatt.

Und tatsächlich, als Tom genau hinsah, erkannte er, dass sie alle wie die Hühner auf dem Teppich herumpickten.

»Es basiert auf Blackburns Hundeprogramm«, bemerkte Wyatt. »Ich habe bemerkt, dass du in der Klemme warst, deshalb dachte ich, jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, es mal auszuprobieren.«

Tom wandte sich ihr zu und schaute sie mit neuen Augen an. »Wyatt, du hast mir mächtig aus der Patsche geholfen. Danke, ich bin dir echt was schuldig.«

»Ich wollte bloß das Programm mal ausprobieren. Es ist nicht so, als hätte ich mir besondere Mühe gegeben, dich zu retten.«

Tom lachte und presste sich den Ärmel ein wenig fester gegen die blutende Nase. »Das ist jetzt die Stelle, an der man sagt: ›Gern geschehen‹. Es ist in Ordnung, sich einen Verdienst anrechnen zu lassen.«

Ihre Wangen röteten sich. »Oh. Stimmt.«

»Danach reckst du die Fäuste in die Luft und sagst, wie hammermäßig du bist. So funktioniert das.«

»Ist das denn nicht selbstgefällig?«

»Und ob das selbstgefällig ist. Aber wenn du so etwas Hammermäßiges vollbracht hast, dann musst du selbstge…« Tom verstummte, weil die Tür zur Machiavelli Division aufging und Heather hereinkam.

Sie blieb stehen, machte sich ein Bild von der Situation und fing dann an zu kichern. »Oh, gut. Ich schätze, ich brauche deine Freunde nicht mehr zu rufen, damit sie kommen, um dir zu helfen.«

Tom starrte sie an. Dabei dachte er an das Blut in seinem Gesicht. Sie schien sich nicht im Geringsten schuldig zu fühlen oder sich bewusst zu sein, dass sie etwas Unrechtes getan hatte.

»Willst du mir erzählen, du hättest sie gerade rufen wollen?«, fragte er zynisch. »Widerspricht das denn nicht dem Plan, mich zu verraten?«

Sie strich sich das Haar über die Schulter. »So ist das nicht, Tom. Hast du echt geglaubt, ich würde es billigen, dass Karl dich zusammenschlägt? Karl und ich hatten eine Abmachung: Ich würde zulassen, dass er dich aus den Machiavelli-Räumen rausholt, und im Gegenzug hat er sich bereit erklärt, eine Vereinbarung zu unterzeichnen – eine eidesstattliche Erklärung –, uns dabei zu helfen, Nigel in die Camelot Company zu schleusen.« Ihre Augen funkelten böse. »Ich habe nur zugestimmt, dass er dich aus den Machiavelli-Räumen rausschleppt. Ich habe nicht versprochen, niemanden zu rufen, der dir hilft. Und ich wollte gerade nachsehen, was passiert, falls du wirklich Hilfe brauchst.«

Tom hätte ihr gerne geglaubt. »Du hättest mir im Vorfeld etwas stecken können.«

Sie biss sich auf die Lippen. »Nee, du musstest in Karls Augen doch total gekränkt und betrogen wirken, damit er mir vertraut. Ich wusste ja nicht, ob du ein guter Schauspieler bist.«

Wie sie ihn nun so ansah – die Augen groß und beschwörend, so als wünschte sie nichts Sehnlicheres, als dass er ihr glaubte –, fiel es ihm schwer, weiter auf sie wütend zu sein. Sie hatte nicht gewollt, dass er geschlagen werden würde. Gab es also wirklich einen Grund, sauer auf sie zu sein?

Doch nun schaltete Wyatt sich ein. »Das lässt sich hinterher leicht sagen. Wenn du wirklich vorhattest, Toms Freunde zu rufen, damit sie ihm helfen, warum hast du es dann nicht gleich getan, als du Karl gerufen hast? Dann hätten sie ihm sofort zu Hilfe kommen können. Außerdem wusstest du, dass sie heute gar nicht im Turm sind.«

Heather blinzelte Wyatt an, so als hätte sie sie jetzt erst bemerkt. »Tut mir leid, aber ich kenne dich gar nicht … Wyatt, nicht wahr?«

»Schon komisch. Als ich dir vor ein paar Monaten bei deinem Profil geholfen habe, kanntest du meinen Namen noch«, erwiderte Wyatt geradeheraus.

Toms Blick huschte zu Heather hinüber. Das war sie?

Auf dem falschen Fuß erwischt schnappte Heather wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft. Doch sie fing sich schnell wieder. »Tja, Wyatt, es ist trotzdem ein bisschen anmaßend von dir zu sagen, was ich hätte tun sollen. Du überblickst die Situation doch gar nicht.«

Wyatt verschränkte die Arme. »Ich dachte, ich weise nur auf etwas Offensichtliches hin.«

»Tom geht es gut, sodass dieser Streit müßig ist.« Heather sah nun gar nicht mehr so hinreißend aus mit diesem grauen Farbton auf den Wangen, und in ihrem Gesichtsausdruck lag etwas sehr Engstirniges, Berechnendes, so als schätzte sie Wyatt als Feindin ein.

»Ich dachte, ich hätte ein gutes Argument vorgebracht, aber du hast es nicht einmal …«

»Wyatt, ist schon gut«, schaltete sich Tom ein und trat zwischen die beiden.

Nun blickte Wyatt ihn finster an und murmelte: »Gut. Mir macht das nichts aus.« Sie eilte zur Tür der Hannibal Division, wirbelte jedoch noch einmal herum und hob unbeholfen die Arme in die Luft.

Tom starrte sie verdutzt an und fragte sich, warum sie Krallen machte und so tat, als wäre sie ein Monster.

»Ich bin der Hammer«, sagte sie.

Nun musste er lachen, da er begriff, dass sie sich gerade brüstete, genau wie er es ihr geraten hatte. Wyatt nickte und verließ den Raum.

Heather starrte ihr mit offenem Mund hinterher, so als wäre ihr gerade ein Alien begegnet. »Es stimmt, was alle sagen. Sie hat überhaupt keine Sozialkompetenzen.«

»Sie ist schroff«, stimmte Tom zu.

Falls Heather mitbekam, dass er ihr damit sagte, Wyatt sei auf verletzende Weise ehrlich, ließ sie es sich nicht anmerken.

»Du erinnerst dich doch daran, dass ich Karl versprechen ließ, dich nicht in den Räumen der Machiavellis zu schlagen, oder?«

Tom drückte gleich mehrfach auf den Fahrstuhlknopf. »Klar erinnere ich mich daran. Hör zu, ich muss jetzt auf die Krankenstation.«

Ihm kam nun wieder vor Augen, wie Heather und Nigel einander angeschaut hatten, als er ihnen erzählt hatte, er werde von Karl verfolgt. Heather hatte ihn fortgeschickt, damit sie allein reden konnten – in Wirklichkeit jedoch, damit sie Karl herbeirufen und Tom diesem ausliefern konnte.

Heathers Hand strich ihm vom Handrücken aus bis fast hinauf zur Schulter. Tom überlief eine Gänsehaut. »Ich komme dich dann später besuchen, um mich zu vergewissern, dass alles mit dir in Ordnung ist«, säuselte sie ihm ins Ohr.

Normalerweise sorgte ihre Anwesenheit dafür, dass er das Gefühl hatte zu zerschmelzen. Doch nun war ihm, als wären sie von einer Art Nebel umgeben, der das, was sie normalerweise mit ihm machte, abschwächte. Vielleicht pulsierte sein Gesicht auch einfach noch zu sehr von den Schlägen, als dass Heather ihre übliche Wirkung auf ihn entfalten konnte.

Er bewegte sich so, dass ihre Hand von ihm abrutschte und trat in den Aufzug. »Das brauchst du nicht«, erwiderte er. »Es geht mir super.« Bevor sie noch ein Wort sagen konnten, glitten die Türen zu.

Nachdem Krankenpfleger Chang seine blutende Nase mit Verbandsmull tamponiert hatte, erzählte ihm Tom von der Sache mit dem CA. Prompt huschte ein besorgter Ausdruck über das Gesicht des Mannes.

»Was ist denn?«, fragte Tom bestürzt. »Was bedeutet das?«

»Nichts, gar nichts«, erwiderte der Krankenpfleger hastig und ließ Dr. Gonzales ausrufen. »Schauen wir uns mal Ihre Schultergelenke an.«

Toms Gelenke hatten schon geschmerzt, bevor Karl ihm freundlicherweise fast die Arme ausgekugelt hatte. Als Chang nun Toms Bewegungsradius testete, konnte dieser nicht einmal mehr die Arme hinter die Schultern heben. Chang verabreichte ihm ein Schmerzmittel. Als er ein paar Minuten später in einer kegelförmigen Maschine lag, die seine Knochendichte maß, hatte Tom fast schon wieder vergessen, warum er hierhergekommen war. Er hatte sich gerade den blutigen Mull aus der Nase gezogen, als Olivia Ossares Stimme ihn aufschreckte.

»Tom, wie geht es dir?«

Überrascht spähte er zu ihr hinüber. Er hatte gar nicht gewusst, dass sie auch an Wochenenden arbeitete. Sein Neuronalprozessor blendete ein:

Name: Olivia Ossare

Zugehörigkeit: Sozialdienst der Vereinigten Staaten

Sicherheitsstatus: Confidential LANDLOCK-3

Seit seinem ersten Tag im Turm hatte er nicht mehr mit Olivia gesprochen. Allerdings hatten die anderen Auszubildenden von ihr erzählt. Ihm selbst hatte sie erklärt, sie sei wegen der Kids hier, um sie moralisch zu unterstützen und so. Doch Tom hatte mittlerweile begriffen, dass eigentlich kein Mensch zu ihr ging. Und falls doch, dann sprach er definitiv nicht darüber.

Unter den Auszubildenden kursierte ein Witz, ein Spruch, mit dem sie sich über Leute, die als Weichei galten, lustig machten. »Oh, wenn es dir hier nicht gefällt, warum gehst du dann nicht zur Sozialarbeiterin und heulst dich bei ihr aus, Rekrut?«

Es beschämte ihn, Olivia nun mit besorgtem Gesicht vor sich zu sehen. Er knüllte den Mull in seiner Hand zusammen und schaute zur Tür in der Hoffnung, dass niemand vorbeikam und glaubte, sie wäre hier, weil er mit ihr reden musste.

»Prima. Es wird gerade meine Knochendichte gemessen oder so, aber das ist keine große Sache.«

Sie zog ihre schwarzen Augenbrauen zusammen. »Der Pfleger hat mir gesagt, dass du dir die Bänder angerissen hast. Und dein Gesicht ist … Tja, was ist passiert?«

»Oh. Ja, also ich bin gestolpert. Es ist wirklich nichts.«

»Der Neuronalprozessor hat die Aufgabe, dir zu helfen, das Gleichgewicht zu bewahren.«

»Hat dieses Mal nicht geklappt.«

Er hoffte, damit die Befragung zu beenden. Aber sie blieb hartnäckig. »War bis jetzt alles in Ordnung?«

»Alles super«, antwortete Tom.

»Nein, nicht super«, fiel ihm jemand ins Wort. Dr. Gonzales kam auf ihn zu, während er Toms Laborberichte studierte.

Name: Alberto Gonzales

Dienstgrad: Lieutenant, Medical Doctor

Einheit: US Air Force 0-3, Aktiver Dienst

Sicherheitsstatus: Topsecret LANDLOCK-8

Tom blinzelte den Text weg, während der Arzt ihn informierte: »Sie weisen Zeichen von Überanstrengung an den Gelenken und zu geringer Dichte in Ihren Knochen auf. Außerdem ist Ihr Kalziumspiegel zu niedrig. Sie müssen ein Kribbeln in den Extremitäten verspüren. Dieser Wachstumsschub überfordert Ihren Körper.«

Tom überlief es kalt. »Ich sagte doch, ich bin hingefallen. Deshalb habe ich mich verletzt.«

Dr. Gonzales schüttelte den Kopf. »Ihre Verletzungen spielen nur eine untergeordnete Rolle. Es geht hier um die allgemeine Belastung, der Ihr Körper ausgesetzt ist. Ihre Verletzungen sind nicht die Ursache hierfür. Ihr Körper besitzt nicht die Ressourcen, um diese Knochenerweiterung weiterhin zu unterstützen. Ich muss mir Zugang zu Ihrem Neuronalprozessor verschaffen, um die HGH-Spitze abzuschalten.«

»Aber Sie können sie dann später doch wieder anschalten, oder? Wenn mein Körper mehr, äh, Ressourcen gebildet hat?«

»Das würde keinen Sinn ergeben.«

»Wie meinen Sie das, keinen Sinn?«

Doch Dr. Gonzales verließ den Raum, ohne ihm eine Antwort zu geben. Tom setzte sich auf, wobei er angesichts des Knirschens in seinen Gelenken die Zähne zusammenbeißen musste. »Wie meint er das, es hätte keinen Sinn?«, fragte er den Krankenpfleger, der gerade etwas in einen Computer eingab.

Chang kam zu ihm herüber und stellte sich neben Olivia an sein Bett. »Tom, der Neuronalprozessor übernimmt eine Reihe natürlicher Funktionen des menschlichen Gehirns. Das Gehirn ist ein Organ, für das gilt: ›Wer rastet, der rostet‹, wie man so schön sagt. Die Bereiche des Gehirns, die überflüssig werden, verkümmern nach und nach. Darunter sind auch die Bereiche, die das Wachstum regulieren. Deswegen lassen wir die Prozessoren euer HGH-Wachstumshormon aufpeppen, wenn ihr hierherkommt, um sicherzustellen, dass die Wachstumsschübe nicht ausbleiben, die ihr normalerweise während der kommenden fünf Jahre hättet.«

»Wenn ich also jetzt nicht mehr größer werde, dann werde ich es nie mehr«, resümierte Tom. »Schön, ich verstehe, dass Sie es abschalten müssen, aber können Sie denn nicht noch ein paar Tage damit warten? Bloß bis ich so einen Meter fünfundachtzig bin?«

Dr. Gonzales kehrte in das Zimmer zurück und trat an den Computer, ohne ihn anzuschauen. »Nein. Ich kann nicht einmal mehr eine Stunde warten. Sie hätten sofort zu mir kommen sollen, als der Schmerz das erste Mal aufgetreten ist. Ihr Körper hat begrenzte Ressourcen, um das Knochenwachstum zu unterstützen. Wir versuchen, den Prozess durch Nahrungsergänzungsmittel zu fördern, aber vierzehn Jahre schlechte Ernährungsgewohnheiten lassen sich durch nichts kompensieren. So verraten mir die Ablagerungen in Ihren Arterien, dass Sie sich dauerhaft von Junkfood ernährt haben und noch nie im Leben Gemüse auf dem Teller hatten.«

»Das stimmt nicht.« Er aß doch ständig Pommes frites.

»Schließen Sie das mal für mich an.« Dr. Gonzales reichte ihm ein Neuronalkabel.

Tom nahm es nicht an. »Ich will noch warten.«

»Natürlich, das können Sie, Mr Raines«, erwiderte Dr. Gonzales lakonisch. »Und wenn Sie dann Ihren Knochen das Kalzium entzogen und sich mit Mitte dreißig Osteoporose zugezogen haben, können Sie mich wegen ärztlicher Kunstfehler verklagen.«

Mitte dreißig? Das war doch noch ewig hin. »Ich werde nicht klagen. Das schwöre ich. Ich unterschreibe eine …« Wie hieß das Vertragsdingsbums noch, das Heather gegen Karl einsetzte? »Eine eidesstattliche Erklärung, wenn Sie wollen.«

Dr. Gonzales machte eine verächtliche Geste. »Diese Entscheidung obliegt nicht Ihnen. Lieutenant Chang, schließen Sie das Kabel an.«

Der Pfleger tat wie ihm geheißen. Das betäubende Gefühl spürend, mit dem eine Neuronalverbindung durch seine Muskeln sickerte, sackte Tom auf dem Bett zusammen. »Warum es Ihre Entscheidung sein sollte, sehe ich aber nicht ein. Das ist mein Körper. Meine Osteoporose. Ich bin nicht Eigentum des Militärs.«

»Nein, aber der Neuronalprozessor in Ihrem Kopf, der Ihre Hirnanhangsdrüse reguliert, ist Eigentum des Militärs.«

Tom spürte Olivias Hand auf seinem Arm. »Eines Tages wirst du ihm dankbar dafür sein.«

Tom kochte vor Wut, während er hörte, wie Dr. Gonzales immerfort auf den Tasten herumhackte, um damit die Produktion seines Wachstumshormons zu dämmen. Er würde nicht dankbar dafür sein. Niemals. Er würde sein ganzes Leben lang als kleiner Kerl durchkommen müssen.

Na ja, so klein nun auch nicht mehr. Aber nicht der Typ, der er gerne gewesen wäre. Ein großer Kerl. Ein Riese, dem Karl Marsters nie dumm kommen würde. Er begriff nicht, warum ein anderer diese Wahl für ihn treffen durfte. Ja, es war ihr Prozessor, aber es war sein Gehirn.

Er schloss die Augen und versuchte, das Echo der Worte seines Vaters auszublenden: Für die bist du bloß ein Ausrüstungsgegenstand …