SECHZEHN

Als Tom in die Räume der Alexander Division zurückkehrte, stellte er fest, dass Vik bereits auf ihrer Stube gewesen war. Er hatte Tom eine Nachricht hinterlassen: Ich vermute, du bist geflohen, um der Schande der Niederlage zu entgehen – aber dafür wirst du zahlen, du Saukerl! Die Siegesparade findet unten statt.

Tom wappnete sich davor, dass ihm die Sache bald unter die Nase gerieben werden würde. Vorher steckte er noch den Kopf in Beamers Raum, um zu sehen, ob er ihn zum Abendessen aus dem Bett locken konnte.

»Beamer, willst du …« Tom hielt inne.

Beamers Bett war abgezogen worden. Olivia Ossare war gerade damit beschäftigt, Beamers Habe in einen Koffer zu packen: ein paar Zeitschriften, ein Bild seiner Freundin, Zivilkleidung.

»Wo ist Beamer?«, platzte Tom heraus.

»Hallo, Tom.«

»Wo ist er?«

Olivia legte die Hände zusammen und setzte sich auf den Rand von Beamers Bett. »Möchtest du nicht Platz nehmen?«

»Nein.« Tom blieb wie angewurzelt stehen. Das hier war eine Veränderung. Er hatte sich gerade an die Vorstellung gewöhnt, dass die Dinge wochenlang gleich bleiben konnten, und nun wurde alles wieder durcheinandergeworfen. Er merkte plötzlich, dass er Veränderungen nicht mochte.

»Stephen macht gerade eine schwere Zeit durch. Er wird ein paar Tage lang untersucht werden. Wir müssen herausfinden, ob er Hilfe benötigt.«

»Und warum packen Sie dann seine Sachen zusammen?«

Ihr Blick wurde unruhig. »Es wird wahrscheinlich länger als ein paar Tage dauern.«

»Ist er jetzt verrückt, so wie Blackburn es seinerzeit war?«

Olivia gab einen Laut von sich, als hätte sie beinahe gelacht, sich dann aber wieder gefangen. »Nein. Stephen leidet an einer Art Dysphorie. Wir haben ihm Zeit gegeben, aber es wird nur noch schlimmer bei ihm. Er muss uns verlassen und professionelle Hilfe bekommen.«

»Und was geschieht jetzt? Könnte man nicht neue Gehirnsubstanz bei ihm einsetzen? Würde ihn das nicht heilen? Ich habe irgendwo davon gelesen.«

Olivia zog den Reißverschluss des Koffers zu. »Tom, Neuronaltransplantionen führt man nur dann durch, wenn aus irgendeinem Grund bei der Geburt im Stirnlappen nur mangelhafte Gehirnsubstanz vorhanden ist. Das ist etwas für Soziopathen, Psychopathen, für Hirngeschädigte. Beamer braucht das nicht.« Sie stellte den Koffer hin. »Ich kann dir nicht versprechen, dass er wieder zurückkommt, Tom, aber ich finde, du solltest dir keine Sorgen um ihn machen. Er hat den Neuronalprozessor noch nicht so lange. Im schlimmsten Fall muss man bei ihm den Neuronalprozessor stufenweise entfernen, sodass Beamer in sein früheres Leben zurückkehren kann.«

Als Tom wieder in den Flur trat, war ihm, als hätte sich ein Abgrund vor ihm aufgetan. Es gab wirklich nichts Beständiges, nichts Zweifelfreies. Sogar hier, sogar an diesem Ort, wo er geglaubt hatte, etwas Dauerhaftes gefunden zu haben, konnte sich an einem einzigen Tag alles verändern. Alles konnte blitzschnell verloren gehen.

Unten stieß er auf Vik, Yuri und Wyatt und überbrachte ihnen die Nachricht.

Yuri war zu sehr damit beschäftigt, Wyatts Hand zu halten, und Wyatt damit, das Händchenhalten zu erdulden, als dass sie sich wirklich Gedanken über Beamer hätten machen können. Nur Vik schien den Paukenschlag zu vernehmen, den Tom übermittelte. Er nickte, wirkte jedoch nicht überrascht.

»Ließ sich wohl nicht vermeiden. Was hast du denn geglaubt, als er damit angefangen hat, den Unterricht sausen zu lassen?«, führte Vik an. »Mit so etwas kommt man eben nicht davon.«

»Sie bestrafen ihn nicht, Vik. Sie glauben, er ist durchgeknallt.«

»Hör zu, Tom.« Vik fuhr sich mit der Hand durch das Haar. »Beamer ist ein super Typ. Echt. Er ist witzig und cool, aber manchmal ist genau das auch sein Problem. Er ist hierhergekommen, und was hat er getan? Andere würden sich den Arm abhacken, um hier sein zu können. Die würden sich wortwörtlich den Arm abhacken, wenn sie dadurch die Chance bekämen zu tun, was wir tun. Und was hat Beamer daraus gemacht? Er ist online gegangen, um mit seiner Freundin zu kommunizieren. Er hat immer nur wie verrückt im Turboverfahren heruntergeladen. Er ist bei Simulationen und Fitnessübungen so schnell abgenippelt, wie er nur konnte.«

Tom starrte Vik an und hatte dabei das Gefühl, ihn gar nicht zu kennen. »Du tust so, als hätte er es verdient.«

»Ich sage nur, dass er vielleicht überhaupt nicht hätte hier sein sollen. Vielleicht war er überhaupt nicht hierfür geeignet. Erinnerst du dich an diese ganzen Psychotests, die wir machen mussten, diese Screenings, bevor wir hierherkamen?«

Tom schaute Vik, Yuri und Wyatt an. Was denn für Tests? Warum nickten sie jetzt alle, als wüssten sie, von welchen Tests er sprach?

»Beamer hätte begreifen müssen, dass das hier eine ernste Angelegenheit ist«, fuhr Vik fort. »Vielleicht hat er es jetzt endlich begriffen.«

Die Worte trugen nicht dazu bei, dass Tom sich besser fühlte.

Während der nächsten Tage nagte ständig das merkwürdige Gefühl an Tom, dass etwas verkehrt lief. Er konnte es nicht genau ausmachen, aber er fühlte sich irgendwie fehl am Platz. Manchmal löste etwas – eine Rauchwolke in Angewandte Simulationen, der Dampf in den Duschen – eine Erinnerung an den Beringer Club aus, doch immer wurden dann die Worte Zugang verweigert auf seinem Infoscreen eingeblendet, und die Erinnerung in seinem Bewusstsein löste sich auf.

Er zog sich immer häufiger auf seine Stube zurück und sah sich Medusa bei den jüngsten Schlachten im Krieg an. Das war das Einzige, was das Gefühl der Fremdheit fernhielt. Oft dachte er an den Kampf vor den Mauern von Troja und an Medusas geheimnisvolles Lächeln bei seinem Tod. Und er war neugierig. Neugierig darauf, was passieren würde, wenn sie sich das nächste Mal begegneten.

Es konnte noch Jahre dauern, bis er in die Camelot Company kam, falls er es überhaupt jemals schaffte, und ebenso lange, bis er Medusa bei einem echten Kampf gegenüberstehen würde.

Tom beschloss, dass er nicht Jahre damit warten konnte.

Und so schlich er sich in die Etage der Offiziere. Dabei ging er clever vor. Wyatt hatte ihnen beim Mittagessen erzählt, dass Blackburn und sie am Abend im Kellergeschoss am Hauptprozessor des Turms arbeiten würden, um die neu formatierten Neuronalprozessoren für das Netzwerk zu konfigurieren.

»Wie lange dauert so etwas?«, fragte Tom sie, darauf bedacht, gleichgültig zu klingen.

»Drei Stunden. Vielleicht auch vier.«

Für das, was Tom vorhatte, waren drei Stunden mehr als genug. Als Wyatt dann mit Blackburn im Keller verschwand, stellte Tom sein GPS-Signal auf den Router um, den er von Wyatt bekommen hatte. Den Router ließ er im Bad und schlich sich in die Offiziersetage. Dieses Mal ging er nicht ins Lehrerzimmer, denn dort konnte jeder hereinkommen.

In Blackburns Büro konnte ihn nur einer stören, und wo dieser eine für die nächsten Stunden sein würde, wusste Tom.

Er klinkte sich in den neuronalen Zugangsport an Blackburns Schreibtisch ein. Dabei bemühte er sich zu ignorieren, dass ihm sein Herz auf einmal den Brustkorb zu sprengen drohte. Er konnte das hier, hatte es bereits zweimal getan.

Er konzentrierte sich auf den Neuronalprozessor, auf das Summen in seinem Gehirn, auf die Verbindung zum Turm – und es geschah erneut. Er fuhr aus sich selbst heraus und verband sich mit dem Netzwerk des Turms. Auf diese Weise ließ er sich treiben, und sein Gehirn verschmolz zunächst mit den Satelliten und dann mit jenen Schiffen, die sich in der Nähe von Merkur aufhielten, sowie mit den Palladium-Minen von Stronghold Energy. Und schließlich fing er erneut jenen Datenstrom auf, der zur Sun-Tzu-Zitadelle in der Verbotenen Stadt führte.

Die IPs der in dieses Netzwerk eingeklinkten Neuronalprozessoren schnellten durch sein Bewusstsein. Er blätterte die Dateiverzeichnisse durch. Dabei ging er kühl und sachlich vor und machte sich immer wieder klar, dass er ein Jemand und nicht ein Etwas war. Ein Mensch und nicht einer jener unermesslichen Ströme von Nullen und Einsen, die von allen Seiten auf ihn eindrangen …

Und dann meldete sich jene IP an, loggte sich unter der Adresse ein, die in den Datenbanken des Turms als zugehörig zum Kombattanten Medusa aufgezeichnet war: 2049:st9:i71f::088:201:4e1.

Er schoss zwischen seinem eigenen Körper – diesem kalten, tauben Ding, das auf einem Stuhl zusammengesackt war – und seinem Bewusstsein in dem fremden Netzwerk hin und her. Die Netsend-Funktion in seinem Neuronalprozessor löste einen Gedanken aus, und er verband sich mit Medusas IP genau in dem Moment, als sie in seinem Bewusstsein schwirrte. Und schließlich ging er das höchste Risiko seines Lebens ein:

Du hast mich durch den Schmutz gezerrt und mich getötet. Ich will Rache. Mit freundlichen Grüßen, dein Gestörter. Er hängte die URL für die Internetseite an, auf der seine Lieblings-VR-Simulation mit Duellen lief, und hinterlegte das Ganze direkt auf Medusas Neuronalprozessor.

Ruckartig kehrte Tom wieder in sich zurück. Die Kühnheit dessen, was er gerade getan hatte, ließ ihn vor Aufregung am ganzen Körper zittern. Seine Hände waren schweißnass, und sein Herz hämmerte nach wie vor wie wild in seiner Brust. Hatte es funktioniert? Hatte Medusa die Nachricht erhalten?

Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden.

Er loggte sich ins Internet ein und ging auf die besagte URL. Er machte sich darauf gefasst, lange und möglicherweise vergeblich zu warten. Das, was er wahrnahm, veränderte sich. Um ihn herum erwuchsen Steinmauern, in deren Nischen flackernde Fackeln eingelassen waren. Jemand hatte bereits ein Duell vorbereitet, was bedeutete, dass Medusa bereits hier sein musste.

Tom fing zu lachen an, ein Freudentaumel überkam ihn.

Das hier passierte wirklich. Es passierte.

Er bewegte sich – und stellte überrascht fest, dass seine Muskeln sich wölbten. Der Neuronalprozessor nahm die normalen Parameter des Videospiels und stellte sie ihm dreidimensional dar. Tom schaute an sich herunter. Eine Informationsblase verzeichnete die Identität seiner Figur: Siegfried, ein legendärer Held von unübertrefflicher Kraft.

»Ich glaube, du bist mir eine Antwort schuldig.«

Die Frauenstimme klang tief und nachhallend. Tom wirbelte herum. Die hochgewachsene, muskulöse Blondine stand auf der gegenüberliegenden Seite der ausgedehnten Felskammer. Ein rundes Becken, in dem ein Feuer brannte, befand sich zwischen ihnen beiden. Der flackernde Lichtschein der Flammen huschte über ihr Gesicht, und auf seinem Infoscreen erschienen die Informationen über sie: Brunhilde, eine legendäre Walküre, die aus der Walhalla vertrieben worden war. Sie war die Königin von Island und die mächtigste Kriegerin der Welt – abgesehen von Siegfried, ihrer wahren Liebe und dem einzigen Mann, der imstande war, sie zu besiegen.

Tom lachte. Er konnte nicht anders, denn diese beiden Figuren hätte sich ein Junge niemals ausgesucht. »Ich wusste, dass du im echten Leben ein Mädchen bist. Ich wusste es.«

Sie schluckte den Köder nicht. »Wie hast du es geschafft, mir heimlich eine Nachricht in meinen Neuronalprozessor zu senden?«, wollte sie wissen, während sie langsam auf ihn zuging.

»Mit der Netsend-Funktion. Dein Neuronalprozessor muss sie auch haben, sonst hättest du sie nicht empfangen können. Du kannst etwas eintippen oder es auch nur hinausdenken, und es wird gesendet. Tippen ist allerdings viel einfacher.« Er hatte über die Gedankenschnittstelle versucht, Vik eine Nachricht zu schicken, doch wirre Gedanken, die ihm durch den Kopf schossen, hatten die Nachricht völlig verzerrt. Er hatte es nicht gewagt, so etwas bei Medusa zu riskieren.

Sie dachte darüber nach. »Du hast also direkt auf dieses Programm in meinem Neuronalprozessor zugegriffen. Das beantwortet aber nicht meine andere Frage. Wie bist du an unserer Firewall vorbeigekommen?«

»Vielleicht bin ich ja einfach der Hammer«, deutete Tom an.

»Das ist keine Antwort.«

»Ich würde eher sterben, bevor ich es dir verrate.« Er hoffte, dass diese Worte sie in Kampflust versetzen würden.

Sie taten es. »Oh, keine Sorge, sterben wirst du«, erwiderte Medusa unverblümt. »Wieder.«

Tom stieß ein amüsiertes Lachen aus, ließ seine Figur die Pike zücken und griff an. Siegfried war kraftvoll genug, um über die Flammen in dem Feuerbecken zu springen. Er sauste auf die blonde Frau hinab. Kaum berührte sein Pikenschaft ihr Schwert, bildeten die beiden Waffen zwei Flammensäulen.

Tom trat einen Schritt zurück und hob seinen Spieß, um ihn zu bewundern. »Feuerwaffen. Ist ja krass.«

»Ich bin häufig auf dieser Site. Ich habe die Add-ons programmiert.«

»Sie ist super.«

»Danke.« Medusa zielte auf seine Kehle.

Es war die Umkehrung ihres ersten Kampfes: Er war stärker, sie war beweglicher. Es gelang ihm, ihr das Schwert aus der Hand zu schlagen, doch die Wucht, die hinter seinem Hieb lag, brachte ihn aus dem Gleichgewicht – und sie zog sich hoch auf seine Schulter und sprang von dort über das Feuerbecken.

»Netter Zug, Medusa.« Tom trat das Becken in ihre Richtung, und glühende Funken stoben auf.

Zu seiner Freude fing einer der Wandteppiche Feuer. Medusa packte ihn und schleuderte ihn Tom entgegen, als dieser sich ihr erneut näherte. Der Schmerz raubte ihm den Atem. Dann setzte sie zu einem Dolchstoß in Richtung seiner Rippen an. Er griff nach ihr, bevor sie zustoßen konnte, und versuchte, ihr den Hals umzudrehen. Er sah, wie ihre Hände auf dem Tisch unter dem brennenden Wandteppich herumtasteten und sich um einen Kerzenhalter schlossen. Tom umklammerte weiterhin ihren Hals, doch in diesem Moment rammte sie ihm den Kerzenständer zwischen die Beine.

Der Schmerz war furchtbar. Tom krümmte sich und würgte. Ihm war, als würde dies wirklich geschehen. Auf einmal fragte er sich, ob es ein Fehler gewesen war, sich einzuklinken, um ihr gegenüberzutreten.

Medusa tänzelte zur Seite, während er auf die Knie fiel.

Erstickt stieß er hervor: »Du … bist … ein Mädchen.«

Ihr Schwert blitzte im Lichtschein des Feuers auf. Er vernahm ihr gackerndes Lachen.

»Du musst eines sein. So etwas würde kein Typ tun!«, fügte Tom hinzu.

»Das habe ich nie bestritten.« Die Flammen, die an der Wand hinter ihr emporzüngelten, umgaben sie wie ein Heiligenschein. Ihre Hitze brannte ihm in der Kehle. Keuchend schöpfte er nach Atem und versuchte dabei, nach seinem Lanzenschaft zu greifen. Doch sie kickte diesen außerhalb seiner Reichweite und hielt ihm ihr Schwert an die Kehle.

»Warum hast du mir wirklich eine Nachricht hinterlassen?«, fragte ihn Medusa, während sie ihn über die Klinge hinweg beäugte.

»Wegen dem hier.«

»Bloß damit ich dich wieder töte?«

Tom bedachte sie mit einem milden Lächeln. »Nein, damit ich dich töten kann.« Er trat ihr die Füße unter den Beinen weg, drückte ihren Schwertarm hinunter – und wurde von einem Dolch an seiner Kehle zum Einhalten gezwungen.

»Wenn du das nächste Mal sterben möchtest, dann hacke dich nicht in meinen Prozessor ein«, beschied ihm Medusa. »Jemand könnte dir auf die Spur kommen.«

»Das Risiko gehe ich ein«, entgegnete er.

»Das würde ich an deiner Stelle nicht tun. Ich schicke dir eine URL für ein Forum, auf dem wir uns persönliche Mitteilungen hinterlassen können. Auf diese Art ist es sicherer. Ich werde das Forum im Auge behalten, und wenn du mir dort etwas postest, komme ich nur zu gerne, um dich zu töten.«

Tom stellte sich sein Posting vor. »Gestörter sucht Furcht einflößende Kriegerin?«

»Versuch es mit ›Scheußliche Bestie‹«, vollendete sie für ihn.

Tom betrachtete sie über die Spitze ihres Dolches hinweg. Er wünschte, er könnte ihr richtiges Gesicht sehen, wünschte, er wüsste, ob sie diese Sache wirklich mit ihm durchziehen würde. »Wirst du auch reinschauen?«

»Ich werde reinschauen«, versicherte sie ihm. Dann schlitzte sie ihm die Kehle auf.

Fix und fertig schlug Tom in Blackburns Büro die Augen auf. Sie hatte zugestimmt, sich erneut mit ihm zu treffen. Sie hatte tatsächlich zugestimmt. Er rieb sich die Kehle an der Stelle, wo die Haut von der Erinnerung an diesen Dolchhieb brannte.

Als er das Blinken in seinem Neuronalprozessor bemerkte, gefror ihm das Blut in den Adern.

Er hatte den Alarm so eingestellt, dass er Blackburns GPS-Signal im Turm verfolgte und anging, sobald dieser in den zehnten Stock zurückkehrte. Doch Tom war zu sehr in den Kampf versunken gewesen, um es zu bemerken. Nun schnürte es ihm die Kehle zu, denn Blackburn trat in diesem Moment aus dem Fahrstuhl, und Tom hatte keine Zeit mehr, sich den Flur entlang aus dem Staub zu machen.

Er stürzte unter den Schreibtisch, als auch schon die Tür aufglitt.

»… und alle neuen Programme sollte man erst auf einem simulierten Neuronalprozessor ausprobieren.« Blackburns schwere Schritte erfüllten den Raum, gefolgt von Wyatts leichteren. Hinter den beiden glitt die Tür wieder zu. Tom spürte, wie ihm der Schweiß auf der Stirn ausbrach. Mit wild klopfendem Herzen drückte er sich, so weit er konnte, unter den Schreibtisch. Das hier war nicht gut. Überhaupt nicht gut.

Blackburn ging um den Schreibtisch herum, sodass Tom seine Stiefel keinen halben Meter vor sich hatte. Der Schreibtisch rumpelte, als eine Schublade aufgerissen wurde. Falls Blackburn ein wenig zurücktrat oder sich vorbeugen würde, um in einer anderen Schublade herumzuwühlen, würde er ihn entdecken.

Er hörte, wie Blackburn die Schublade durchforstete. Dann musste er gefunden haben, was er suchte, denn der Schreibtisch rumpelte erneut, als die Schublade wieder zugeschoben wurde.

»Hier, arbeiten Sie damit, Enslow. Initiieren Sie ein Programm, wie Sie es normalerweise tun würden. Es liefert Ihnen alle Informationen, die Sie in Bezug darauf benötigen, wie der Prozessor und die Physiologie der Person auf Ihre Codierung reagiert. Damit bleiben Sie bei dem Experiment auf der sicheren Seite und brauchen nicht andere Auszubildende als Versuchskaninchen zu benutzen. Ach ja, und hier ist noch etwas, das hilfreich sein könnte.«

Etwas knallte auf den Schreibtisch, und Tom zuckte zusammen. Er schaute nach oben und fragte sich, was es war.

»Ein Lehrbuch der Kognitionswissenschaften?«, ertönte Wyatts Stimme.

»Ja, ja, ich weiß, es ist lästig, wenn man die Seiten eine nach der anderen lesen muss …«

»Das macht mir nichts.«

»Tut es wirklich nicht, nicht wahr?« In seiner Stimme schwang Anerkennung mit. »Nun, das Militär sieht keine Notwendigkeit, das hier in Ihre Upload-Einspeisung einzugeben. Dabei habe ich mich sehr bemüht, sie davon zu überzeugen, dass Menschen mit einem Computer im Gehirn etwas über diese Gehirne lernen sollten, nicht bloß über die Computer. Ein Teil der Forschung in diesem Buch hier ist veraltet, deshalb habe ich die entsprechenden Stellen durchgestrichen. Aber lesen Sie es. Dieses Buch hat mir den Weg gewiesen. Es ist eine klare, verständliche Einführung. Wollen Sie lernen, so zu programmieren wie ich? Dann müssen Sie damit anfangen, das menschliche Gehirn kennenzulernen.«

Blackburn machte es sich auf seinem Sessel bequem, die Knie waren auf der Höhe von Toms Kopf. Tom drückte sich gegen die Rückseite des Schreibtischs und zog die Beine an die Brust, um zu verhindern, dass Blackburns Stiefel ihn berührten. Das Geräusch von umgeblätterten Seiten durchschnitt die Luft.

»›Die Dopaminhypothese der Schizophrenie‹«, las Wyatt laut vor. Sie schwieg einen Moment und sagte dann zu ihrer Verteidigung: »Es ist genau auf dieser Seite aufgeschlagen. Es war nicht meine Absicht, es dort zu öffnen.«

»Es hat sich genau dort geöffnet, weil ich mir dieses Kapitel ein Jahr lang fast jeden Tag durchgelesen habe. Dort habe ich angefangen. Als ich meinen Prozessor das erste Mal neu programmiert habe, versuchte ich, das Dopamin unter Kontrolle zu bekommen. Wie sich herausstellte, musste ich noch eine Menge mehr unternehmen, aber es war ein erster Schritt.«

»Sie haben einfach so mit Ihrem eigenen Gehirn herumexperimentiert?«

»Ich hatte ja nichts zu verlieren. Mein Verstand war dahin, meine Karriere vorbei, meine Frau …« Er hielt abrupt inne.

Schweigen hing in der Luft. Tom spürte förmlich, wie Wyatt damit rang, ihn etwas zu fragen – so gut kannte er sie mittlerweile.

»Wie ist das, verrückt zu sein?«, platzte Wyatt schließlich heraus.

Wyatt, nein, dachte Tom und zuckte zusammen, überzeugt davon, dass Blackburn sie die Frage bereuen lassen würde.

Eine endlose Zeit lang antwortete Blackburn ihr nicht. Tom hörte, wie er mit den Fingern auf den Schreibtisch trommelte. »Es kommt wirklich darauf an, Enslow. Wie ist das, taktlos, grob und unhöflich zu sein?«

Wyatt schien auf dem falschen Fuß erwischt worden zu sein. »Oh! Es tut mir leid, ich wollte nicht …«

Tom hörte sie durch den Raum tappen, und als sie sich in den anderen Sessel setzte, quietschte er. Er hoffte, dass sie sich nicht auf eine längere Unterhaltung einstellten.

»Ich wollte nicht unhöflich sein«, sagte sie. »Meine Mom hat mal im Sommer ihren ehemaligen Schauspiellehrer einfliegen lassen, damit er bei uns wohnen und mir beibringen konnte, wie man mit Leuten redet, aber letztendlich hat sie mir bloß geraten, am besten gar nichts zu sagen, wenn jemand in der Nähe ist.«

Blackburn gluckste. »Verständlich.« Er streckte die Beine aus, und seine Stiefel ruhten nun nur noch wenige Zentimeter vor Toms Hüfte. Um ihnen auszuweichen, verrenkte er sich unbeholfen. »Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen. Verrückt sein ist wie … Damals fühlte es sich so an, als hätte ich einen sehr langen Moment der Erkenntnis.«

»Ist es so, wie wenn man den Neuronalprozessor implantiert bekommt und hinterher einfach Dinge weiß, die man vorher nicht gewusst hat?«

»Noch viel intensiver. Ich hatte das Gefühl, als könnten sich meine Gedanken direkt durch die Ebenen der Wirklichkeit arbeiten und erkennen, wie alles zusammenhängt. Damals glaubte ich, es sei der Prozessor, der mir dieses Verständnis von der Welt vermittelte. Ich wollte diese neue Sichtweise mit anderen teilen, doch die Leute schenkten mir keine Beachtung. Das war das Frustrierendste, was man sich nur vorstellen kann. Allmählich hegte ich den Verdacht, sie wären absichtlich ignorant. Irgendwann dachte ich, sie hätten sich gegen mich verschworen. Ich war wahnhaft und glaubte, der einzige normale Mensch in einer Welt zu sein, die dem Wahnsinn verfallen war. Alles, woran ich einmal geglaubt hatte, nahm ich wie durch ein dunkles Glas wahr. Und selbst heute, nach all dieser Zeit … Es gibt da Dinge, die nicht unbemerkt bleiben können, wenn einem erst einmal die Augen dafür geöffnet wurden.«

Ein bedrückendes Schweigen legte sich über den Raum.

»Noch mehr heikle Fragen, die Sie gerne loswerden möchten?«, ermunterte Blackburn sie. »Bringen wir das jetzt hinter uns. Ich sagte Ihnen ja, dass Vertrauen das Wichtigste ist, wozu ich Sie bitte – und ich gebe mir alle Mühe, es zu erwidern. Es ist besser, Sie fragen mich jetzt, als dass Sie später einen anderen fragen.«

»Äh, tja … das mit Ihrem Gesicht. Die Leute erzählen, Sie hätten versucht, sich die Haut vom Gesicht zu ziehen, als Sie verrückt waren.«

Er lachte.

»Ich dachte mir schon, dass das nicht der Grund für Ihre Narben ist«, fuhr Wyatt fort.

»Das war bloß die Art meiner Exfrau, mir zärtlich Lebewohl zu sagen. Mit den Fingernägeln.«

»Oh.«

»War es das?« Seine Stimme klang angespannt. Nach kurzem Schweigen sagte er: »Gut. Und damit ist die Stunde gegenseitiger Fürsorge offiziell beendet, Enslow.« Er erhob sich von seinem Sessel, und Tom konnte seine Knie, die er die ganze Zeit gegen die Brust gedrückt hatte, endlich entspannen. Er hörte, wie Wyatts Sessel quietschte, als auch sie aufstand.

»Es ist eigentlich gar nicht meine Art, über so etwas Fragen zu stellen«, stieß Wyatt hervor.

Sie gingen beide zur Tür. Tom lehnte den Kopf gegen das Holz hinter ihm, und Erleichterung durchflutete ihn. Nun würde er doch noch ungesehen davonkommen.

»Dann ist ja noch nicht Hopfen und Malz bei Ihnen verloren. Kommen Sie. Von allein konfigurieren sich diese Prozessoren nicht.« Die Tür glitt auf und wieder zu.

Tom wartete eine Minute, bis er sicher war, dass Blackburns GPS-Signal abermals aus dem Keller gesendet wurde, bevor er unter dem Schreibtisch hervorkam. Dann stürmte er, ohne entdeckt zu werden, aus dem Büro und in den Aufzug.

Bewusstsein initiiert. Es ist jetzt 00:00.

Als er die Augen aufschlug, hatte Tom zwei Stunden geschlafen. So etwas war noch nie geschehen. Er wachte nie mitten in der Nacht auf.

Verwirrt starrte er in die Dunkelheit und fragte sich, warum er wach geworden war. Er hörte Viks gleichmäßigen Atem, warf die Bettdecke von sich und stand auf, ohne genau zu wissen, warum er das eigentlich tat. In seinem Gehirn pulsierte das Verlangen hinauszugehen, hinaus auf den Flur.

Tom folgte dem Impuls, doch als er im Flur stand, fiel die Unruhe nicht von ihm ab. Er musste die Alexander Division verlassen, und das war nach 23:00 verboten, aber Tom tat es trotzdem. Er betrat den Gemeinschaftsraum und blieb dort im Dunkeln stehen.

Was tue ich hier? Was tue ich?, fragte er sich.

In diesem Moment glitt die Tür zu einer anderen Division auf. Karl Marsters füllte den Türrahmen zur Dschingis Division aus. »Komm schon«, sagte er und wartete gar nicht erst darauf, dass Tom zu ihm getrottet kam, bevor er in den Flur voranging.

Tom drängte sich hinter ihm her, um noch durch die Tür zu gelangen, bevor sich diese wieder schloss. Doch sein Gehirn konnte es nicht fassen. Was tat er hier? Was geschah hier?

Karl ging die Stufen hinauf zu den höher gelegenen Stockwerken der Dschingis Division. Er öffnete die Tür zu einer nicht belegten Stube, und Tom folgte ihm.

»Na schön, komm endlich, Bello.« Karl ließ einen Koffer aufschnappen und holte einen tragbaren, mit einem Neuronalkabel verbundenen Datenchip heraus.

Tom sah sich um. »Ich weiß gar nicht, warum ich hier bin.«

»Ja, ist mir schon klar. Hinlegen. Gesicht nach unten.«

Toms Herz hämmerte immer wilder. Er streckte sich auf dem Bauch liegend aus, auch wenn er sich innerlich bis ins Mark dagegen sträubte. Karl konnte ihn zusammenschlagen, wenn er es wollte, und Tom hatte nichts, womit er hätte erklären können, warum er sich nach dem Ausschalten des Lichts auf dem falschen Stockwerk aufhielt.

»Ich war ziemlich sauer, als sie mir gesagt haben, ausgerechnet du würdest für Dominion arbeiten«, erklärte Karl. »Ist doch eigentlich mein Ding, oder? Aber ich muss schon sagen, ich habe mich kaputtgelacht, als ich mitbekam, dass du Nein gesagt hast. Ich werde mit großer Freude zuschauen, wie sie dich kastrieren, Bello. Du hältst dich wohl für einen echt toughen Typ, was? Tja, dann wollen wir doch mal sehen, wie es ist, wenn du erst einmal diese ganzen Programme ins Hirn gestopft bekommen hast. In ein paar Wochen wirst du bloß noch dahinvegetieren.«

Tom, der auf der Matratze lag, biss die Zähne zusammen. So sehr gehasst hatte er Karl noch nie.

»Ich will das nicht«, brachte Tom hervor, als Karl sich ihm mit dem Kabel näherte.

»Zu schade aber auch. Mach ein Schläfchen, Lassie.« Karl steckte das Kabel in den Port an Toms Stammhirn.