NEUNZEHN
Um 05:32 am nächsten Morgen wärmte sich Tom gerade für seine morgendlichen Übungen auf, als Yuri bei ihm an der Tür klopfte.
Tom trat zu ihm auf den Flur, sorgsam darauf bedacht, Vik nicht aufzuwecken – vor allem weil ihn Viks Anblick mittlerweile mit einem merkwürdigen Abscheu erfüllte. Bei Yuri erging es ihm nicht besser.
Argwöhnisch fasste er den größeren Jungen ins Auge. Nach dem Vorfall von vergangenem Abend und seinem jüngsten Download hatte er Schwierigkeiten, sich daran zu erinnern, wie er diese Leute jemals hatte ertragen können.
»Ah, hervorragend, du bist wach, Tim«, sagte Yuri heiter, so als würde er den Ausdruck von Abscheu in Toms Gesicht gar nicht bemerken. »Du achtest mittlerweile sehr auf deine körperliche Fitness, nicht wahr?.«
»Verantwortungsvolle Menschen beschäftigen sich mit ihrem Körper«, beschied ihm Tom.
»Genau. Das fand ich auch immer. Deshalb bin ich gekommen, um dir vorzuschlagen, gemeinsam mit mir zu joggen.«
Tom spürte, wie tiefes Misstrauen in ihm aufkam. Er traute Yuri nicht über den Weg. »Danke, aber ich laufe lieber allein.«
Yuri nickte. »Ah, ich verstehe. Du machst dir Sorgen, du könntest nicht mit mir Schritt halten.« Er drehte sich um und begann zu joggen.
Tom reagierte mit Entrüstung. Nicht Schritt halten? Er stürzte Yuri hinterher, schloss zu ihm auf und hielt dessen Tempo.
Aber Yuri war besser in Form. Er joggte schon seit Jahren morgens, und Tom hatte es sich erst in den letzten Wochen angewöhnt. Doch jedes Mal, wenn er zurückfiel, biss er die Zähne zusammen und stürmte ihm weiter durch die Korridore und Treppenhäuser des Turms hinterher. Yuri schoss durch die Fitnesshalle und schob die Tür zum dahinterliegenden Kraftraum auf. Er steuerte direkt die Hantelbank an. Tom schwor sich, es ihm Pfund für Pfund gleichzutun.
»Ich lasse dich vorlegen«, sagte Yuri.
»Nein, ich lasse dich vorlegen«, knurrte Tom.
»Gut. Wenn du zu erschöpft bist, um anzufangen, dann tue ich es gerne.«
»Ich bin nicht zu erschöpft.« Tom ließ sich auf die Bank sacken.
Yuri schob Gewichte auf die Hantel. Tom sah zu, wie er immer mehr hinzufügte. »Äh …«
»Was denn, Tim? Ich wollte mein übliches Gewicht auflegen, aber vielleicht ist das ja für dich zu schwer?«
Tom biss die Zähne zusammen. »Nein. Vielleicht legst du ja ein bisschen mehr auf.« Als Yuri nickte, bereute er es sofort.
»Mache ich.« Er schob weitere Gewichte auf die Hantel.
Nervös biss sich Tom auf die Lippen. Aber er würde sie stemmen. Und wenn er sich dabei seine Gelenke kaputt machen würde, er würde diese Hantel stemmen.
Doch als Yuri ihm half, die Hantel von der Bank anzuheben und sie dann Toms Griff überließ, knickten Toms Arme ein, und er brauchte alle Kraft, um zu verhindern, dass das Gewicht ihm die Brust zerdrückte. Seine Arme zitterten, während die Hantel niedersank und sich auf seine Rippen legte.
»Okay, vielleicht doch nicht.« Tom brachte kaum ein Wort hervor, so sehr kämpfte er gegen das Gewicht der Langhantel an. »Yuri, hilfst du mir ein bisschen?«
»Darauf wirst du noch warten müssen, Tom.«
Yuri duckte sich weg, und nun erkannte Tom, dass er hereingelegt worden war. » Yuri!« Er mühte sich ab, um sich von der Hantel zu befreien, um unter ihr durchzurutschen, doch er hing fest, war auf der Bank gefangen.
Weitere Schritte näherten sich. »Hängt er fest?«
Das war Wyatt.
»Was … was …«, stotterte Tom.
»Er hängt fest.« Yuris Gesicht tauchte über ihm auf, nachdenklich, nein, berechnend.
»Siehst du, ich sagte dir doch, dass er so dämlich sein würde und versucht, sie zu stemmen«, kommentierte Wyatt.
»Was tut ihr hier?«, fauchte Tom die beiden an. »Ich hatte euch doch gesagt …«
»Uns nicht mit dir anzulegen?« Wyatt beugte sich zu ihm herunter. »Du hast doch nicht wirklich geglaubt, nach der Nummer, die du gestern Abend abgezogen hast, würde ich die Sache auf sich beruhen lassen, oder?«
»Lasst mich raus!«
»Nein. Weißt du, wir haben es hier nämlich mit dem neuen Tom zu tun«, sagte sie. »Und wir hassen den neuen Tom.«
Er versuchte, den Kopf von ihr wegzudrehen, doch Yuri presste ihm seine Hände auf die Wangen, um ihn ruhigzustellen.
Tom sah, dass sie ein Neuronalkabel in den Händen hielt. »Wozu ist das?«
»Ich hatte gehofft, Lieutenant Blackburn würde den Bug selbst aus dir entfernen. Aber davon hast du ihn ja abgehalten, deswegen musste ich mein Programm früher fertig bekommen. Es ist eine Art Firewall.«
»Die Mutter aller Firewalls«, sagte Yuri mit Bewunderung in der Stimme. »Sie hat es selbst programmiert.«
»Es ist alles in Klondike codiert«, erklärte Wyatt. »Es hat ein paar Anti-Virus-Funktionen – es spürt Rootkits auf und entfernt Malware. Zum großen Teil meine Codierung. Es könnte da noch ein paar Probleme geben, die ich noch nicht entdeckt habe. Wenn dem so ist, tut mir leid, Tom, aber wir verpassen dir das hier jetzt trotzdem.«
»Nein!« Tom hatte nicht die Erlaubnis, sich unautorisierte Software herunterzuladen. Eine Warnleuchte blinkte immer wieder auf seinem Infoscreen auf, und Stromschläge teilten ihm mit, dass dies nicht erlaubt war. »Aufhören!«
»Schnell, Wyatt«, drängte Yuri.
»Du wirst uns dankbar dafür sein«, versprach sie und klinkte das Kabel an dem Port an seinem Stammhirn ein.
Tom bekam nur halb mit, wie Yuri ihm die Langhantel wieder von der Brust nahm. Sein Gehirn summte vor lauter Datenströmen mit Codes, die noch nach der kleinsten Spur der Software von Dominion Agra und der Verhaltensänderung suchten. Sämtliche Daten, die im Verlauf der letzten einunddreißig Tage implantiert worden waren, wurden neutralisiert, entfernt und durch Sicherheitsunterprogramme ersetzt. Der Vorgang dauerte siebenundvierzig Minuten. So lange dauerte es auch, bis Tom erkannte, was geschah und was zuvor geschehen war.
Programm zur Deinstallation von Bugs abgeschlossen, leuchtete auf seinem Infoscreen auf. Tom öffnete die Augen. Yuri und Wyatt richteten sich beide auf, und ihre gemurmelte Unterhaltung verebbte. Sie erstarrten, waren beide mucksmäuschenstill und warteten auf seine Reaktion.
»Tom?«, riskierte Wyatt es schließlich kleinlaut.
»Ich bin’s.« Er setzte sich aufrecht. »Wirklich ich.«
»Ich wusste doch, dass es da ein Softwareproblem in deinem Kopf gab«, rief Wyatt. »Was ist passiert?«
»Dominion.« Seine Stimme bebte vor Wut. »Ich bringe Dalton Prestwick um.«
Wyatt ging ein Licht auf. »Das ist doch der Typ, den du beim Elternwochenende getroffen hast, oder? Dein Stiefvater?«
»Er ist nicht mit meiner Mom verheiratet.« Tom rieb sich die gequetschte Haut auf seiner Brust. »Er arbeitet für Dominion Agra. Sie haben … Sie haben etwas mit mir gemacht.« Der Albtraum des vergangenen Monats zog noch einmal an seinem inneren Auge vorbei …
Für Karl bellen … Für Dalton Anzüge anprobieren … Für diese hohen Tiere von Dominion Agra lächeln und höflich sein, zuzustimmen, dass sein Dad irgendwo in seinem eigenen Erbrochenen lag …
Tom sprang auf die Beine und schleuderte ein Gewicht von sich. Es landete krachend an einem Regal mit Ausrüstung, das daraufhin mit ohrenbetäubendem Lärm umstürzte. Yuri sprang erschreckt auf, während Wyatt wie erstarrt auf der Hantelbank sitzen blieb.
Yuri klappte der Mund auf. »Fühlst du dich jetzt besser, Tom?«
»Nein!« Nichts würde besser werden. Erst wenn er sie in der Luft zerrissen hatte. Wenn er Dalton das Gesicht gehäutet und Karl die Eingeweide herausgerissen hatte.
Tom umklammerte die stählerne Hantel mit den Fäusten. Er hatte das Gefühl, als könnte er sie mit bloßen Händen zerbrechen. Zorn durchströmte ihn, und seine Finger umkrampften die Hantelstange, bis sie schmerzten. Ihm wurde übel vor Wut. Er war so außer sich, dass er sich an gar nichts mehr erinnerte. Dann aber erinnerte er sich sehr wohl.
Er lockerte den Griff um die Hantel, und die schockierende Erkenntnis verschaffte ihm einen klaren Kopf. Er sah Yuri an.
»Du hast mich Tom genannt. Du hast es gesagt. Gerade eben. Du hast meinen richtigen Namen verwendet. Du …« Blitzartig ging ihm auf, worauf das schließen ließ.
Die Mutter aller Firewalls …
»Wyatt«, sagte Tom im Flüsterton.
Yuri seufzte und schaute zu Wyatt. Sie nickte steif.
»Ich habe diese Firewall auch, Tom«, bestätigte Yuri.
»Ich habe sie gestern Abend bei ihm getestet.« Sie verschränkte die Arme. »Ich musste sehen, ob sie komplexe Malware wie Yuris neutralisiert, damit ich wusste, ob sie auch bei deiner funktionieren würde. Und danach, na ja, ich wollte es nicht wieder rückgängig machen.«
»Du hast ihn decodiert«, sagte Tom geschockt.
»Er ist kein Spion«, erwiderte Wyatt hitzig.
»Das bin ich wirklich nicht, Tom«, schwor Yuri.
Er musste die Besorgnis in Toms Gesicht gesehen haben, denn er rutschte mit seinem breitschultrigen Körper unbehaglich auf der Hantelbank hin und her.
»Ich wurde in Russland geboren, ja, aber ich lebe hier jetzt schon viele Jahre. Ich wollte immer Kosmonaut werden, aber heute fliegt kein Mensch mehr ins All. Als mein Vater dann mit uns in die USA gezogen ist, wollte ich mich den Intrasolaren Streitkräften anschließen, falls sich daran eines Tages etwas ändern sollte. Ein Freund meines Vaters erfuhr von meinem Traum und hat mir geholfen, hierherzukommen …«
»Vengerov.« Tom zischte den Namen, sich an den Mann aus dem Beringer Club erinnernd.
Yuri bestätigte es, indem er den Kopf senkte. »Er hat Einfluss. Als mein Land anfing, mit Neuronalprozessoren zu experimentieren, ist Vengerov mit dieser Technologie nach Amerika übergelaufen. Er hat bei der Entwicklung des Programms mitgeholfen, und aus alter Freundschaft zu meinem Vater konnte er dafür sorgen, dass ich hier aufgenommen wurde. Ich habe stets versucht, ein guter Auszubildender zu sein. Auch als ich nach zwei Jahren nicht befördert wurde, bin ich hiergeblieben und habe mich noch mehr angestrengt. Warum sollte ich spionieren? Wenn es so wäre, dass ich für Russland kämpfe und du für Amerika, wäre das eine Sache, aber meine Eltern sagen immer, dass dies bei diesem Krieg gar nicht mehr der Fall ist. Beim Krieg geht es heute gar nicht mehr um Länder.«
Tom musste plötzlich daran denken, was sein Dad gesagt hatte. »Es geht um die Konzerne.«
»Genau«, stimmte Yuri zu. »Was hat das also für mich für eine Bedeutung, wer gewinnt? Das hat nie eine Rolle gespielt.«
Tom rieb sich die pochende Schläfe. Er war sich nicht sicher, was er davon halten sollte. Er konnte im Moment überhaupt keinen klaren Gedanken fassen.
Yuri ergriff Wyatts Hände, woraufhin sie erschreckt zusammenfuhr, so als hätte sie einen Moment vergessen, dass er da war.
»Wenigstens kenne ich jetzt deinen Namen«, sagte Yuri zu ihr.
In seiner Stimme klang etwas Wehmütiges mit, und Tom fühlte sich deshalb wie ein Mistkerl. Yuri sah nun alles zum ersten Mal – und wusste jetzt auch, dass seine Freunde die ganze Zeit das Spielchen mitgemacht hatten.
»Hör zu, Mann, es tut mir leid.«
»Um ganz ehrlich zu sein« – Yuris Blick fiel auf seine Finger, die Wyatts umschlungen hatten – »wünschte ich fast, ich wäre so geblieben. Es war total komisch zu begreifen, dass ich nicht die richtigen Namen meiner Freunde kannte.«
Wyatt blieb eine Weile stocksteif stehen. Dann streckte sie die Hand aus und klopfte Yuri ein paarmal unbeholfen auf die Schulter. Nach einem Moment verstand Tom, dass sie ihn damit nicht etwa halbherzig schlug, sondern ihn trösten wollte.
»Du darfst es keinem erzählen, Tom«, sagte Wyatt eindringlich. »Yuri und ich würden beide wegen Hochverrats angeklagt.«
»Das werde ich auch nicht. Ich bin euch beiden etwas schuldig.«
»Thomas wird es nicht verraten.« Yuri beugte sich vor und heftete seinen Blick auf Tom. »Ich weiß, dass er unser Geheimnis hüten wird.«
»Eher sterbe ich, als dass ich es jemandem erzähle.« Und das meinte er mit jeder Faser seines Herzens.