EINUNDDREISSIG
Wenige Minuten später rissen General Marsh und Lieutenant Blackburn die Tür auf.
»Hervorragende Arbeit, Mr Raines …« Marsh hielt mit schockiertem Gesichtsausdruck inne, als seine wässrigen Augen die Situation erfassten: Tom neben einem umgestürzten Stuhl auf dem Fußboden liegend, Nigel an der Wand zusammengebrochen, ein Neuronalkabel in Schlangenlinien auf dem Teppich. »Was ist hier geschehen?«
»Der Kerl hier ist die undichte Stelle, General.« Tom wies mit dem Kopf auf Nigel. Als er das andere überraschte Gesicht sah, zog sich vor blankem Hass auf Blackburn alles in ihm zusammen. »Vielleicht sollten Sie lieber ihn in Ihren Memografen stecken und es mit eigenen Augen sehen. Oh, und er hat auch versucht, den Turm zu zerstören. Nur zu Ihrer Information.«
Blackburn und Marsh tauschten einen Blick aus.
»Ich habe keine Nachricht von Ihnen erhalten«, sagte Blackburn und senkte den Blick auf Tom. »Sie sollten mich doch über Netsend informieren, falls es Probleme geben würde, Raines.«
»Dazu hatte ich keine Gelegenheit«, erwiderte Tom zu seiner Verteidigung.
Blackburn verriegelte die Tür. Dann begannen Marsh und er, im Gespann zu arbeiten. Marsh hob den umgekippten Stuhl auf und hievte Tom darauf, dann legte er sich einen Finger auf den Stöpsel in seinem Ohr und gab seinen Leuten leise Anweisungen, den Korridor zu räumen. Blackburn kniete nieder, um Nigels Puls zu prüfen, und wandte sich anschließend Tom zu. Tom zwang sich dazu, ruhig zu bleiben, während Blackburn seine Immobilitätssequenz deaktivierte. Ihm dafür zu danken, brachte er nicht über sich.
»Der Weg nach draußen ist frei«, beschied Marsh Blackburn. »Bringen Sie Harrison in den Aufenthaltsbereich und kehren Sie zurück, bevor Sie jemand vermisst.«
»Ja, Sir.« Blackburn hievte sich Nigel über die Schulter und verschwand mit ihm im Flur.
Tom sah zu, wie die Tür sich schloss, erleichtert darüber, dass es Nigel war, der zum Memografen geschleppt wurde und nicht er selbst.
Nachdem Tom eine rasche Erklärung abgegeben hatte, beglückwünschte Marsh ihn und klopfte ihm auf die Schulter. Dann wies er ihn an, an Ort und Stelle zu warten, bis die Rundhalle sich geleert hatte. Schließlich glitt Marsh wieder aus dem Raum, und Tom sah auf dem Bildschirm, wie er in der Rundhalle wieder auftauchte und sich daran machte, diversen Managern der Koalition herzlich die Hand zu schütteln. Nicht imstande mitzuerleben, wie sie sich gegenseitig Honig ums Maul schmierten, starrte Tom zu Boden.
Eine irrsinnige Erleichterung und die wachsende Erkenntnis, was der Preis seines Sieges war, rangen in ihm. Seinen ersten Sieg über Medusa zu feiern, kam ihm nicht in den Sinn. Allein der Gedanke daran verursachte ihm Übelkeit.
Vielleicht fiel es ihm deshalb schwer, triumphierend zu lächeln, als die Tür erneut aufging und dieses Mal Dalton mit großen Schritten hereinstolzierte.
»Wer hat Sie denn hereingebeten?«, wollte Tom wissen.
»General Marsh weiß, dass ich ein Freund deiner Familie bin.« Dalton trat die Tür zu.
Statt dies zu kommentieren, bemerkte Tom: »Ich schätze, Sie haben das mit Nigel schon gehört.«
»Du überraschst mich, Tom.« Dalton wirbelte herum und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Tür. »Du lebst im Pentagon, und doch hat dir niemand von einer Doktrin namens ›Gleichgewicht des Schreckens‹ erzählt.«
»Major Cromwell hat uns alles darüber erzählt, aber das Gleichgewicht des Schreckens ist bei uns nicht gegeben, Dalton. Mein Kumpel Nigel« – Tom deutete mehrmals mit dem Daumen auf den leeren Stuhl hinter sich – »hatte echt noch ein paar interessante Geschichten zu erzählen, bevor ich ihn umgehauen habe.«
Dalton holte hörbar Luft.
Tom grinste ihn unverfroren an. »Ja, er hat erzählt, wie Sie ihn dazu gebracht haben, Namen und IPs der CamCo-Mitglieder durchsickern zu lassen. Ich glaube, es gibt ein Wort dafür. Wie hieß das noch mal? Ach ja. Natürlich. Landesverrat.«
»Du kannst nichts beweisen.«
»Da bin ich anderer Meinung. Ihnen bleiben eine, maximal zwei Stunden, bis Lieutenant Blackburn ihn in den Memografen steckt und alles über Sie rauskommt.«
»Ja, und seine Erkenntnisse wird er dann an seine Vorgesetzten weitergeben, die dann mit meinen Vorgesetzten reden werden. Ein oder zwei Geldspenden für den Wahlkampf später wird Präsident Milgram persönlich die Anweisung erteilen, die ganze Sache unter den Teppich zu kehren.« Dalton setzte ein falsches Lächeln auf. »So funktioniert das nun mal.«
»Schön. Dann werde ich eben selbst den Memografen benutzen, um meine Erinnerung daran ans Licht zu bringen, wie Nigel mir von Dominions Plan erzählt hat, die Namen der Kombattanten durchsickern zu lassen. Ihrem Plan, Dalton. Und dann stelle ich das alles ins Internet.« Er sah, dass Dalton zusammenzuckte, als hätte er soeben einen Schlag erhalten. Tom lächelte. »Und so funktioniert das eben auch.«
Diese Drohung gab den Ausschlag. Tom sah zu, wie Dalton der Schweiß ausbrach, während er krampfhaft nach einer scharfen Erwiderung suchte. Er wusste, dass die Veröffentlichung im Internet das Ende jeder Hoffnung bedeutete, ein Geheimnis zu verbergen. Sosehr das Internet auch reguliert worden war, sosehr es im Lauf der Jahre zensiert und gefiltert worden war, so gab es doch zu viele Programmierer und zu viele mobile Netzwerke, als dass die Koalition die Sache hätte unter den Teppich kehren können.
»Du bist außergewöhnlich undankbar«, brachte Dalton schließlich hervor. »Ich hatte dir die Chance deines Lebens geboten.«
»Geboten? Mit dem Wort habe ich ein Problem, Dalton. Es unterstellt nämlich, dass Sie mir eine Wahl gelassen hätten.«
»Ich musste dich zwingen. Du warst zu dumm, als dass du kooperiert hättest! Wenn du einfach mit mir zusammengearbeitet hättest, wärst du womöglich der nächste Elliot Ramirez gewesen.«
Tom richtete seinen Blick auf den Bildschirm, auf dem gerade zu sehen war, wie Elliot in der Rundhalle Hände schüttelte und Höflichkeiten austauschte. Jedem zeigte er das gleiche Gesicht, keine Spur seiner wahren Gefühle war sichtbar, er spielte das Spiel mit. Irgendwie war Elliot dazu in der Lage, er konnte sich immer dieses Lächeln bewahren, ohne seine Seele dabei zu verkaufen.
Aber Tom konnte das nicht.
Er wusste jetzt, was es bedeutete, etwas von sich selbst wegzuwerfen, um zu gewinnen. Er erkannte, wie bedeutungslos das war. Vielleicht hatte er sich gerettet, hatte damit auch Yuri und Wyatt gerettet. Aber Medusa hatte er das Herz herausgerissen, und der Sieg schmeckte bitter. Die Vorstellung, jetzt in die Welt zu ziehen und die Leute, die er verabscheute, anzulächeln, verursachte ihm mehr als Übelkeit. Das konnte er nicht. Daran würde er ersticken. Wenn es bedeutete, sich selbst aufzugeben, um einen Platz bei Leuten wie Dalton zu erringen, war es das nicht wert.
»Elliot ist in Ordnung.« Dieses Eingeständnis überraschte Tom noch immer. »Aber ich möchte niemals so sein wie er.«
»Wenn das wirklich so ist, bist du genauso ein Narr wie dein Vater.«
»Mein Dad ist kein Narr.«
»Ich weiß alles über ihn, Tom. Er hält es an keinem Arbeitsplatz länger aus, deshalb tut er so, als wäre das eine Auflehnung gegen die Gesellschaft. Er kann es nicht und tut deshalb so, als wollte er es nicht. Aber ich weiß es besser. Die nackte, harte Wirklichkeit ist die: Jeder will ein Elliot Ramirez sein.«
Tom starrte ihn bloß an. Er war überrascht über Daltons Unfähigkeit, sich vorzustellen, dass es Menschen gab, für die nicht die gleichen Dinge wichtig waren wie für ihn. Aber wieso war das eine Überraschung? Jemand wie Dalton würde jemanden wie seinen Dad niemals verstehen. Neil hatte seine Fehler. Viele, viele Fehler. Aber manche Sachen durchschaute er vollkommen. Nie würde er den Scheiß mit dem Image und den Machtspielen akzeptieren. Niemals würde er es akzeptieren, gefangen in einer Gesellschaft zu sein, die ihn beherrschte. Selbst wenn er gelegentlich von oben Tritte bekam, würde er sich nie »vor den Karren unternehmerischer Knechtschaft spannen lassen.« Dafür war sein Dad zu dickköpfig, zu stolz.
Zum ersten Mal begriff Tom, dass darin etwas Bewundernswertes lag. Man musste Mumm haben, so zu sein wie sein Dad; man musste Mut haben, um einen Weg zu gehen, den sich der Rest der Gesellschaft nicht zu gehen getraute. Dalton Prestwick spielte das Spiel genau auf die Art, wie es gespielt werden musste, und ihm war nicht einmal klar, dass er in der Falle saß. Er musste sein ganzes Leben lang als Dalton Prestwick leben. Das war wirklich ein schlimmeres Schicksal als alles, was Tom ihm zufügen konnte.
Tom erhob sich. Er wollte nur noch, dass dieser Mann aus seinem Leben verschwand. Für immer.
»Wir treffen eine Vereinbarung, Dalton. Sie halten sich fern von mir, kapiert? Sie und ich werden uns nie wieder sehen. Nicht einmal im Turm will ich Sie mehr sehen. Pfuschen Sie bei keinem von uns mehr am Gehirn herum. Nicht einmal bei Karl, so sehr er es auch verdient haben mag. Wenn er anfängt, sich das Haar zu gelen und Eau de Cologne aufzutragen, werde ich dem Pentagon sagen, die sollen nach Software von Dominion Agra in seinem Prozessor suchen. Und was meinen Vater angeht – für Sie existiert er gar nicht mehr. Erwähnen Sie nicht einmal mehr seinen Namen.«
Daltons Augen wurden zu Schlitzen, und sein Gesichtsausdruck wurde berechnend. »Ist das alles?«
»Wenn Sie das alles einhalten, sende ich niemandem eine Kopie meiner Erinnerung. Halten Sie sich nicht an die Abmachung, poste ich alles ins Internet, das schwöre ich.«
»Gut. Abgemacht.« Er bot ihm die Hand. »Schlägst du ein?«
Tom wandte ihm den Rücken zu. »Ihnen gebe ich nicht die Hand, Dalton. Gehen Sie einfach.«
Wie bei allen anderen im Turm, die nicht der CamCo angehörten, war auch Toms Identität ein Staatsgeheimnis. Daher wartete er im Separee, bis all diejenigen, die nicht dem indo-amerikanischen Bündnis angeschlossen waren, gegangen waren. Als nur noch Militärs und die Repräsentanten der indo-amerikanischen Konzerne anwesend waren, trat er auf den Flur hinaus.
Schließlich wagte sich Tom in die Rundhalle und ging auf Elliot zu. »Wie geht’s?«
Elliots Kragen war durchgeschwitzt. Er riss ihn auf, als bekäme er sonst keine Luft mehr. »Weißt du noch, als ich sagte, ich wolle meine eigenen Schlachten austragen? Tja, vergiss es. Ich bin glücklich – nein, überglücklich – einen Vertreter zu haben.« Er legte Tom seine große Hand auf die Schulter. »Gut gemacht, Tom.«
»Hey, wenn du zu Beginn schon vernichtet worden wärst, hätte ich nicht gewinnen können«, sagte Tom. »Du hast dich gegenüber Medusa behauptet, Mann. Das ist schon was.«
Elliot strahlte ihn an. »Danke. Und, hey, Marsh hat mir das mit Nigel gesteckt. Du hast uns den Arsch gerettet, was?« Er grinste. »Einer meiner Rekruten hat uns alle gerettet.«
»Ich hatte Hilfe. Wyatts Virus hat Nigel außer Gefecht gesetzt. Ich wollte nämlich eine linke Tour fahren, aber ich bekam keine Gelegenheit dazu.«
Elliot schaute sich um und beugte sich dann näher zu ihm vor. »Da ist etwas Merkwürdiges geschehen. Ich kann es nicht erklären. Ich schwöre, ich habe eine Weile dort draußen die Kontrolle über meinen Neuronalprozessor verloren. Ich glaube, Svetlana ging es auch so.«
Tom versuchte, sich schnell etwas auszudenken, damit Elliot die Sache vergessen würde. »Vielleicht hast du ja bloß …«
»Raines.«
Die Stimme hinter ihm ließ ihm fast das Herz in die Hose rutschen. Tom spannte sich am ganzen Körper an. Wütend drehte er sich langsam um und sah Lieutenant Blackburn dicht vor sich stehen.
Ich habe gerade den Gipfel im Kapitol gewonnen, hielt Tom sich vor Augen. Er kann mir nichts anhaben.
Dann kam ihm die Erkenntnis: Blackburn konnte ihm wirklich nichts anhaben. Prompt musste Tom grinsen, und ein Gefühl von Macht überwältigte ihn.
»Schön Sie zu sehen«, sagte Tom. »Ich hatte bereits darauf gehofft, Gelegenheit zu bekommen, mit Ihnen zu sprechen, Sir.«
Blackburn blinzelte verdutzt, so als wüsste er nicht, wie er darauf reagieren sollte. Es bereitete Tom ein grimmiges Vergnügen.
»Gibt es ein Problem?«, schaltete sich Elliot ein und sah mit gerunzelter Stirn erst den einen, dann den anderen von ihnen an.
»Ganz und gar nicht. Bis später, Elliot.« Tom vergrub die Hände in seinen Taschen und ging aus der Rundhalle in den schummrigen, von Statuen gesäumten Korridor. Instinktiv spürte er, dass Blackburn ihm auf dem Fuße folgte.
Kaum waren sie außer Hörweite der anderen, wollte Blackburn von ihm wissen: »Habe ich Sie gerade dabei unterbrochen, wie Sie Elliot Ramirez von Ihrer Fähigkeit berichtet haben?«
Schäumend vor Wut drehte Tom sich um. Noch nie hatte er auf jemanden einen solchen Hass verspürt.
»Nein, Sir. Beim letzten Mal ist mir das nicht so gut bekommen, nicht wahr?«
Blackburns Augen verengten sich. »Sie begreifen nicht einmal, wie glücklich Sie sich schätzen können, dass ich derjenige bin, der es zuerst herausbekommen hat.«
»Ja«, stimmte Tom ihm sarkastisch zu. »Ich schätze mich derart glücklich, dass Sie versucht haben, mir das Gehirn auseinanderzureißen. Ich kann mir nicht vorstellen, was ein Konzern, sagen wir wie Obsidian, stattdessen getan hätte. Puh, die hätten womöglich etwas richtig Böses getan.«
»Hätten Sie bloß diese eine Erinnerung preisgegeben …«
»Das Gespräch darüber ist beendet!«, brüllte Tom ihn an. »Ich liege hier nicht gefesselt unter dem Memografen!« Er senkte die Stimme zu einem giftigen Flüstern. »Außerdem weiß ich, was Sie wollen.«
»Tatsächlich?«
»Es geht Ihnen einzig und allein um Obsidian und Vengerov. Er hat es mit einer Gruppe Erwachsener in Russland vermasselt, und dann ist er hierhergekommen und hat es mit Ihnen und Ihren Leuten ebenfalls vermasselt. Es muss Sie schmerzen, dass er mit dem, was er Ihnen angetan hat, ungeschoren davongekommen ist, und für Sie am Ende nur, tja … Roanoke herausgekommen ist.«
Blackburn spannte sich am ganzen Körper an.
»Ich weiß alles über Roanoke.« Tom lehnte sich an die Wand hinter ihm. Von eiskalter Berechnung gepackt, beobachtete er Blackburns Gesicht. »Und verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe das nicht von Wyatt gehört. Sie hat nie in Ihrer Personalakte gewühlt. Der einzige Fehler, den sie jemals begangen hat, Sir, bestand darin, Ihnen zu vertrauen. Gut, dass Sie das rasch beendet haben.« Seinen Blick auf Blackburns unergründliches Gesicht gerichtet, ließ er die Bemerkung wirken, bevor er hinzufügte: »Nein, ich habe wegen Joseph Vengerov davon gehört.«
Blackburn schaute sich abrupt um, zurück in Richtung der Rundhalle, wo Vengerov eben noch gestanden hatte. Fast war es so, als rechne er damit, dieser würde sich von hinten an ihn heranschleichen.
Tom lächelte. »Ja, mein alter Kumpel Joe. Ich habe neulich mit ihm im Beringer Club abgehangen. Und wissen Sie was? Das ist es. Hören Sie, hier wird kein Experiment mit Menschen gemacht, hier gibt es keine Verschwörung. Ich habe nie etwas vor Ihnen verborgen. Ich bin Vengerov nur dieses eine Mal begegnet. Aber wissen Sie was? Jetzt, da Sie mir die Idee in den Kopf gesetzt haben, könnte ich eigentlich mit Joe eine Verschwörung anzetteln. Vielleicht hätten Joe und ich uns eine Menge zu erzählen. Immerhin würden Sie nach meiner Einschätzung nichts in der Welt mehr verabscheuen, als dass Joe immer reicher und mächtiger würde – und das würde er definitiv, wenn er eine Fähigkeit wie die meine in die Finger bekäme. Sie müssen zugeben, dass es kinderleicht für mich wäre, einfach zurück in die Rundhalle zu marschieren und ihm alles darüber zu erzählen.«
Blackburn trat drohend einen Schritt auf ihn zu. Doch Tom blieb an die Wand gelehnt stehen und ließ sich nicht einschüchtern. »Das wäre das Allerdümmste, was Sie anstellen könnten, Raines. Das würden Sie Ihr Leben lang bereuen.«
»Schon komisch«, sagte Tom mit harter Stimme, »ich denke, dass ich es eher mit Joe darauf ankommen ließe, als mir von Ihnen das Hirn verbrutzeln zu lassen. Und zu wissen, wie sehr Sie die Sache verabscheuen würden, würde es für mich umso reizvoller machen.«
»Sie Narr«, zischte Blackburn. »Meinen Sie etwa, ich könnte Ihr Hirn nicht noch einmal hacken und Sie aufhalten?«
Tom zuckte mit den Schultern. »Aber dann würde Ihnen das andere Geheimnis entgehen. Das, welches ich vor Ihnen versteckt habe. Hier ist es: Ich bin nicht der Einzige, der so etwas kann.«
Blackburn wich einen Schritt zurück. »Es gibt also noch andere«, stieß er leise hervor.
»So ist es. Der Abzugshahn ist gespannt, und ich muss gar nicht derjenige sein, der ihn betätigt. Jeder von uns könnte zu Joe gehen und ihm das, was wir für Obsidian tun könnten, zur Verfügung stellen und ihn so zum CEO des Jahres machen. Mich können Sie aufhalten, klar, aber Sie können uns nicht alle aufhalten. Wissen Sie, was das meiner Meinung nach bedeutet, Sir? Ich glaube, es bedeutet, dass Sie sich nie, nie wieder mit mir anlegen.«
Einen langen, vor Spannung knisternden Moment schaute Blackburn ihn an. Offenkundig versuchte er abzuschätzen, ob Tom die Sache durchziehen würde. Er musste etwas von Toms Miene abgelesen haben, das ihm nicht gefiel, denn er hob die Hände und trat einen Schritt zurück. »Gut. Wir sind fertig miteinander. Ich lasse Sie in Ruhe.«
Ein Triumphgefühl durchfuhr Tom. Das war alles, was er wollte. Das, und dann noch Blackburn den Kopf abreißen – aber das würde ihm nicht vergönnt werden.
»Worauf warten Sie noch?«, blaffte Blackburn ihn an. »Husch, husch, Raines. Gehen Sie mir aus den Augen.«
Tom schüttelte den Kopf. »Nein, verstehen Sie, so läuft das nicht. Ich habe gewonnen. Das wissen wir beide. Das bedeutet, dass Sie mir aus den Augen gehen, Sir.«
Blackburn wölbte die Brauen. Dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck, und er verzog die Lippen, als wolle er sagen, die Runde ginge an Tom. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und verschwand durch den Korridor. Die Kapitulation, die in seinen leiser werdenden Schritten mitklang, ließ eine Siegesfreude in Tom aufkommen.
Manchmal fügten sich die Dinge eben doch zum Guten.
Gleich nach seiner Rückkehr in den Turm sprach Tom mit Olivia Ossare. Sie riet ihm, mit dem Zurückziehen der Klage zu warten, bis der Verteidigungsausschuss das nächste Mal zusammentrat. Schließlich ließ der Verteidigungsausschuss verlauten, er habe Nigels Erinnerungen das Beweismaterial entnommen und ihm offiziell die Schuld an dem Leck zugewiesen. Jedwede weitere Untersuchung von Tom wurde untersagt.
Als sie davon hörte, drückte Olivia Tom die Hand. »Wir haben gewonnen.«
»Sie haben mir das Leben gerettet«, sagte Tom zu ihr.
»Es ist mein Job, euch Kids zu schützen. Ich bin froh, dass ich endlich die Gelegenheit hatte, es auch zu tun.«
Seinen guten Ruf wiederherzustellen war die leichtere Übung. Seinen Dad dazu zu bewegen, einen Rückzieher zu machen, stand auf einem anderen Blatt.
Die Einzelheiten kannte Neil nicht. Er wusste nur, dass Tom im Turm des Pentagons einer Bedrohung ausgesetzt gewesen war. Und das genügte, um ihn in Wut zu versetzen. Er ließ die Sorgerechtsklage nicht fallen. Tom musste sich mit ihm in VR treffen, um beruhigend auf ihn einzureden. Neil bestand darauf »meinen Jungen so zu sehen, wie er wirklich aussieht« und nicht »so einen künstlichen Avatar«.
Tom hatte vermutet, sein Vater würde sich als Ort ihres Gesprächs ein Kasino oder vielleicht den Las Vegas Strip aussuchen. Doch als er sich in VR einklinkte, fand er Neil auf dem Gipfel des Mount Everest, von wo er auf die ausgedehnten schneebedeckten Berggipfel um ihn herum hinabschaute.
In der weißen Landschaft wirkte sein Dad älter, als Tom ihn in Erinnerung hatte, und irgendwie kleiner. Als er Toms knirschende Schritte hörte, drehte er sich um. Er starrte ihn an. »Mein Gott, so siehst du jetzt aus?«
»Habe mein Aussehen heute aktualisiert.« Unsicher schaute Tom an sich herab. »Bin bloß in einem Wachstumsschub.«
»Dein Gesicht. Schau sich das einer an.« Neil trat auf ihn zu. »Deine Haut …«
Die Spannung fiel von Tom ab, denn das hier war sein Vater. Er brauchte sich keine Sorgen zu machen. Mit ihm konnte er vernünftig reden. »Regelmäßiges Duschen, Dad. Das hilft. Hast du das Geld bekommen, das ich für dich im Dusty Squanto habe hinterlegen lassen?«
»Sag mir einfach, dass derjenige, den du abgezockt hast, es auch verdient hat«, erwiderte Neil trocken.
»Glaub mir, das hat er.«
Der Blick von Neils Avatar verengte sich. Er musterte Tom eingehend. »Lächeln, Tom.«
»Lächeln?«, wiederholte Tom.
»Ja. Lächele.«
Verwirrt lächelte Tom.
»Heb die Brauen«, sagte Neil mit nach wie vor verengtem Blick.
Nun verstand Tom sehr gut, warum ihn Neil dazu aufforderte: Genau wie damals, als er das Interview mit Elliot im Fernsehen gesehen hatte, musste ihm etwas Falsches an Toms Gesicht aufgefallen sein, an der Art, wie er sich bewegte, wie der Neuronalprozessor seine Gesichtsausdrücke regulierte. Der Computer in Toms Gehirn war das Letzte, worüber sein Dad Bescheid wissen musste.
»Dad«, log Tom, »das ist ein Avatar. Wenn ich anders aussehe, dann liegt das daran, dass es sich um ein projiziertes Bild handelt. So sieht mein Gesicht nicht wirklich aus.«
»Bist du dir sicher?«
»Ich bin mir sicher. Pixel verzerren die Darstellung. Das ist eine sehr komplexe Technologie, und ich glaube kaum, dass du willst, dass ich näher darauf eingehe.«
Neil rieb sich am Kinn.
»Das mit der VR hast du ja sowieso noch nie gemocht«, sagte Tom.
»Die richtige Welt ist hässlich, Tom. Aber ich verschließe nicht die Augen vor ihr. Dein Großvater hat das getan – er hat World of Warcraft mehr Aufmerksamkeit geschenkt als uns. Also, bist du dir sicher, dass …« Er machte eine unbestimmte Geste, aber Tom wusste, was er fragen wollte. Es ging um die Klage.
»Ja, ich bin mir sicher, dass du die Klage fallen lassen solltest. Ich steckte in der Klemme, aber jetzt hat sich die Sache wieder bereinigt. Immerhin wohne ich ja noch im Turm.«
Neil senkte die Stimme und rückte ein wenig näher heran, so als könnte sie in Virtual Reality jemand belauschen. »Tom, bist du dir sicher? Wenn das Militär dir Probleme macht, werde ich eine Lösung finden.«
»Dad, es ist jetzt echt wieder in Ordnung. Ich brauchte dich in dieser Situation bloß als Trumpfkarte in meinem Blatt. Ich war …« Er suchte nach einem Weg, es so auszudrücken, dass Neil es akzeptieren würde, nach einem Weg, bei dem er nichts Geheimes preisgeben würde. Dann kam er darauf. »Ich habe geblufft.«
»Geblufft?«
»Ja. Ich habe um etwas gespielt. Und ich habe gewonnen.«
Sein Vater musterte ihn eine Weile. Dann verzogen sich seine Lippen zu einem wissenden Lächeln. »Ich wette, ich weiß, worum du gespielt hast.«
Tom fragte sich, welche Theorie sein Dad wohl haben würde. »Wirklich?«
Neil beugte sich zu ihm vor. »Du hattest es darauf abgesehen, bei diesem Gipfel im Kapitol zu fliegen, nicht wahr?«
Tom zuckte zusammen. »Was?«
»Es kam überall, Ausschnitte davon, wie wir in diesem Jahr gewonnen haben. Ich habe auf den ersten Blick gewusst, dass nicht dieser junge Ramirez fliegt. So draufgängerisch? Nein, als ich das gesehen habe, wusste ich, dass es mein Junge war.«
»Wieso hast … wie konntest du …« Tom hielt inne, da er begriff, schon zu viel verraten zu haben.
»Ich habe dich in Tausenden Videogames spielen sehen. Meinst du, ich wüsste nicht, wie dein Gehirn funktioniert, Tommy?«
Tom starrte auf den Kragen seines Vaters. Neil hatte ihn über Jahre hinweg Games spielen sehen. Er hatte ihn beobachtet.
»Äh, gestern habe ich etwas mitbekommen«, sagte Tom. »Zweimal im Jahr gibt es bei uns Beförderungen. Ich habe gehört, dass ich befördert werde.« Warum er plötzlich wollte, dass Neil es wusste, war ihm nicht klar. »Ich werde in den Mittleren Dienst befördert. Noch nicht in die Camelot Company, aber vielleicht komme ich ja bald dort rein. Vielleicht bin ich eines Tages eines der Rufzeichen in den Nachrichten.«
Neil wandte sich von ihm ab und verkniff geblendet vom Licht der Sonne die Augen. »Steigst in den Rängen auf, was?«
Tom starrte auf Neils Rücken und wartete auf eine spitze Bemerkung darüber, der »Kriegsmaschinerie der Konzerne« zu dienen.
Doch Neil überraschte ihn mit den Worten: »Tut mir leid, dass ich nicht dabei sein kann, um es mir anzusehen.«
Tom war sprachlos, brachte kein einziges Wort hervor.
Er drehte sich um und schaute auch in die Ferne, genau wie sein Dad es gerade tat. Während er neben ihm auf dem Gipfel des Mount Everest stand, schnürte es ihm die Brust zu. Zum ersten Mal begriff er, dass sein Vater stolz auf ihn war, sosehr er das, was Tom tat, auch verabscheuen mochte.