5
Am Ende des Korridors im oberen Stockwerk ihres Hauses öffnete Danger die Tür zu dem Gästezimmer, wo Alexion eingehend eines der Fabergé-Eier betrachtete, die sie sammelte. Sie hatte vor etwa vierzig Jahren damit angefangen, weil sie sie an die Malowanki-Eier erinnerten, die ihr Vater von seinen Reisen nach Preußen mitgebracht hatte, wo er einmal im Jahr seine Großmutter besuchte. Bis zu dem Jahr, als sie gestorben war, hatte Babcia stets für sie alle Malowanki-Eier bemalt, um sie an ihr preußisches Erbe und die Schönheit des Osterfestes zu erinnern.
Keines der kostbaren bunten Eier, die Danger wie ihren Augapfel gehütet hatte, als sie noch ein Mensch gewesen war, hatte überlebt. Ihr Ehemann hatte sie als frivole Verschwendung der Aristokratie bezeichnet und sie nach ihrem Tod mit großer Befriedigung zerstört.
Wie sie diesen Mann hasste. Aber am meisten hasste sie sich selbst, weil sie jemandem ihr Vertrauen geschenkt und dadurch zugelassen hatte, so hinterhältig getäuscht zu werden.
Dieser Fehler würde ihr nie wieder unterlaufen.
Mit zusammengekniffenen Augen öffnete sie die Tür ein Stück weiter und musterte Alexion. Seine moderne Kleidung wirkte ein wenig deplatziert in diesem Raum, der die exakte Kopie des Zimmers war, in dem sie aufgewachsen war. Das handgeschnitzte Barockbett mit dem Baldachin aus goldfarbenem Stoff hatte sie aus Paris einfliegen lassen und mit Kissen und einer Tagesdecke aus blutroter und goldener Seide dekoriert. Sie hatte sehr viel Zeit mit der Suche nach den passenden Antiquitäten für diesen Raum verbracht.
Er war das letzte Erinnerungsstück an ihr altes Leben und in vielerlei Hinsicht eine Art Zeitkapsel. Hier glaubte sie manchmal, einen flüchtigen Blick auf ihren Vater erhaschen zu können … und das gedämpfte Lachen ihrer Geschwister zu hören.
Mon Dieu, wie sehr sie sie alle vermisste.
Eine Woge der Trauer überkam sie, doch sie kämpfte sie eilig nieder. Sie würde jetzt nicht weinen. Im Lauf der Jahrhunderte hatte sie bereits genug Tränen vergossen, um einen ganzen Ozean damit zu füllen.
Die Vergangenheit war vorbei, und dies war die Gegenwart. Tränen würden weder ihre Familie zurückbringen noch etwas ändern. Sie konnte nur versuchen, nach vorn zu sehen und dafür zu sorgen, dass sie nicht noch einmal von jemandem so arglistig getäuscht wurde.
Alexion – er war die Gegenwart. Und er war ihr Feind.
Er stand vor der kleinen Frisierkommode im neoklassizistischen Stil und hielt das Ei in seiner großen Hand, als könne er nachvollziehen, wie sehr sie ihre Sammlung liebte. Sie konnte nicht leugnen, dass sie die Behutsamkeit, mit der er das Ei wieder an seinen Platz legte, zutiefst rührte.
Er sah unglaublich gut aus, und ihr Körper reagierte mit einer Intensität auf seinen Anblick, die sie selbst erstaunte. Eigentlich sah es ihr nicht ähnlich, sich zu jemandem hingezogen zu fühlen, den sie gar nicht kannte. Von scharfen Hollywoodstars in Filmen und Zeitschriften einmal abgesehen musste sie sich üblicherweise sehr lange in der Gegenwart eines Mannes aufhalten, um dieses starke Verlangen nach seinem Körper zu empfinden. Falls es überhaupt so weit kam. Die meiste Zeit konnte sie auf Männer getrost verzichten.
Doch nun ertappte sie sich dabei, dass sie am liebsten die Hand ausgestreckt und ihn berührt hätte. Und das hatte es definitiv noch nie gegeben.
Alexion nahm ihre Gegenwart wie eine elektrisierende Berührung wahr. Es war, als trete sie mit seiner Seele in Verbindung, wann immer sie in seiner Nähe war. Was völlig ausgeschlossen war, denn er besaß seit neuntausend Jahren gar keine mehr.
Er wusste nicht, woran es lag, doch sein Körper reagierte mit einer unglaublichen Heftigkeit auf sie. Er wandte sich um und sah sie im Türrahmen stehen, wo sie ihn mit argwöhnischer, fast wütender Miene beobachtete.
Tief in seinem Innern spürte er, dass sie Angst vor ihm hatte und sich über sich selbst ärgerte, weil es ihr nicht gelang, sie zu überwinden. Doch sie bemühte sich nach Kräften, sich nichts anmerken zu lassen.
Wofür er ihr Respekt zollte.
Denn letztlich war es klug von ihr, sich vor ihm zu fürchten. Er könnte sie töten, ohne mit der Wimper zu zucken. Doch er wollte ihr nicht wehtun.
Aus unerfindlichen Gründen wollte er noch nicht einmal, dass sie ihn fürchtete, was eine völlig neue Erfahrung für ihn war. Gewöhnlich benutzte er bei seinen Ausflügen in die reale Welt die Angst, um die Dark Hunter einzuschüchtern und zur Räson zu bringen. In ihm schlummerte die Macht eines ausgewachsenen Gottes, die Fähigkeit, jederzeit einem Geschöpf das Leben zu nehmen, wenn ihm der Sinn danach stand …
Er hörte und sah Dinge, die weit über das hinausgingen, was Mensch, Apollit oder Dark Hunter sich vorstellen konnten.
Und doch hallte nur eines in seinem Kopf wider, als er in diesem Zimmer stand – ihr Lachen. Er hatte sie früher an diesem Abend schon lachen hören; bei ihrem Kampf gegen die Daimons. Es waren volle, melodiöse Laute, die förmlich über ihre Lippen zu perlen schienen. Laute, die von Herzen kamen.
Er wünschte, er könnte es noch einmal hören.
»Ich will Ihnen nichts tun, Dangereuse.«
Sie erstarrte. »Mein Name ist Danger«, gab sie zurück. »Dangereuse hat mich schon lange keiner mehr genannt.«
Er musterte sie mit schief gelegtem Kopf. Aus seinen Recherchen wusste er, dass sie nach der Großmutter von Eleonore von Aquitanien benannt worden war, die ihre Mutter sehr verehrt hatte – Dangerose, eine berühmte Gräfin, die einzig und allein nach ihren Regeln gelebt hatte, ohne sich um die gesellschaftlichen Konventionen der damaligen Zeit zu scheren. Es war ein Name, der perfekt zu der zierlichen Frau passte, die nun vor ihm stand. »Verzeihen Sie.«
Doch seine Entschuldigung konnte sie nicht beschwichtigen. »Und nur damit Sie es gleich wissen – ich habe keine Angst vor Ihnen.«
Ihre Tapferkeit entlockte ihm ein Lächeln. Sie war eine Frau, die hart im Nehmen war und genau wusste, was sie wollte, und er fragte sich, ob sie als Mensch wohl genauso gewesen war. Doch aus irgendeinem Grund bezweifelte er es. Die Welt, in die sie hineingeboren worden war, hätte einen solchen Wirbelwind von Frau niemals geduldet.
Man hätte ihr ihre Kampflust ohne jeden Zweifel ausgetrieben, statt sie gutzuheißen.
Sie trat einen Schritt in den Raum hinein. Ihre dunklen Augen bohrten sich ihn, als suchten sie nach einer Schwachstelle.
Viel Glück, ma petite. Da wirst du nichts finden.
»Und wie lautet Ihre Geschichte?«, fragte sie. »Sie sagten vorhin, Sie seien Ashs Squire. Aber sind Sie ein Blue Blood oder ein Blood Rite oder was?«
Alexion quittierte ihre Frage mit einem Lächeln. Blue Bloods entstammten einer langen Ahnenreihe von Squires. Blood Rites hingegen waren Squires, die speziell dafür auserwählt worden waren, die Einhaltung der Gesetze in ihrer Welt zu gewährleisten. Sie beschützten die Dark Hunter und fungierten als eine Art Polizei für die anderen Squires. Natürlich hatte er Acheron bereits gedient, bevor der Rat der Squire überhaupt gegründet worden war. Er war kein Squire im herkömmlichen Sinne. Er war Acherons Alexion, ein atlantäischer Begriff, für den es keine Entsprechung gab.
Im Grunde tat er alles, was erforderlich war, um Acheron und Simi zu beschützen. Und zwar »alles« im wahrsten Sinne des Wortes.
Er hatte kein Gewissen. Keine Moral. In seiner Welt gab es nur ein Gesetz – Acherons Wille. Und Acherons Wille war das Einzige, was für Alexion zählte. Nun gut, gelegentlich konnte er ihm widersprechen und mit ihm debattieren, doch letzten Endes war er nichts anderes als Acherons Beschützer und würde stets das tun, was für Acheron das Beste war, unabhängig davon, welche körperlichen oder persönlichen Folgen es für ihn hatte.
Doch er konnte ihr unmöglich die Wahrheit über seinen Status verraten. Nur er, Simi und Acheron durften seine wahre Beziehung zu seinem Boss kennen.
»Ich bin Acherons Aufpasser«, sagte er nur.
»Wie lange stehen Sie schon in seinen Diensten?«
Er lachte auf. »Eine Ewigkeit. Zumindest kommt es mir meistens so vor.«
Argwohn flackerte in ihren Augen auf. Sie war schlauer, als gut für sie war. Und viel zu sexy, als gut für ihn war.
Doch sie war noch nicht fertig mit ihrem Verhör. Sie trat auf ihn zu und blieb vor ihm stehen … so dicht, dass ihm ihr Geruch in die Nase stieg. Ihr weicher, süßer Duft drohte ihm die Sinne zu rauben und beschwor Bilder ihres nackten, biegsamen Körpers in seinem Bett herauf.
»Wie funktioniert dieser Trick mit dem Messer, als Sie plötzlich neben mir standen, obwohl ich Sie gerade niedergestochen hatte?«
Sein Mundwinkel hob sich, und er beugte sich vor, um den Duft ihres Haars und ihrer Haut noch tiefer in seine Lunge zu saugen. Er drang durch seinen Körper wie uralter Whiskey – warm und belebend.
Augenblicklich begann sein Blut zu kochen, und er spürte, wie er hart wurde.
»Stellen Sie mir doch lieber die Frage, die Ihnen wirklich im Kopf herumgeht, Danger«, meinte er mit vor Lust belegter Stimme. »Ich habe nichts für Spielchen übrig. Wir wissen beide, dass ich kein Mensch bin, also besteht kein Grund, um den heißen Brei herumzureden.«
Danger schien seine Unverblümtheit zu schätzen zu wissen, obwohl er den Schauder spürte, der sie überlief. Sie sah ihn unter ihren dichten Wimpern hervor an – ein Blick, der Empfindungen in ihm heraufbeschwor, die er lange, lange Zeit nicht mehr gehabt hatte. Ihre Unsicherheit und Verwirrung rührten ihn so sehr, dass er sie am liebsten beruhigend in die Arme geschlossen hätte – eine Vorstellung, die ihn zutiefst schockierte.
»Sind Sie hier, um für Acheron zu spionieren?«
Er lachte. »Nein. Eines können Sie mir glauben – er braucht keinen, der für ihn spioniert. Wenn er etwas wissen will, findet er es schon selbst heraus.«
»Wie denn?«
Er musste all seinen Willen zusammennehmen, um nicht die Hand auszustrecken und ihre Wange zu berühren, um herauszufinden, ob sie so weich war, wie sie aussah. Ihre Haut war von einer makellosen Schönheit und würde sich unter seiner Zunge zweifellos noch viel weicher anfühlen …
»Ich habe es genauso gemeint, wie ich es gesagt habe. Acheron ist durchaus fähig, selbst herauszufinden, was er wissen will. Spionieren ist so ziemlich das Letzte, wofür er mich braucht.«
Danger spürte, wie die Wut in ihr aufstieg, als sie sich erneut der Anziehungskraft bewusst wurde, die dieser Mann auf sie ausübte, der so offenkundig nicht bereit war, ihre Fragen zu beantworten. Sie war nicht sicher, ob sie ihn küssen oder ihm einen Tritt verpassen sollte.
Sein Blick durchbohrte sie. Nervtötend. Und so intensiv, dass er sich wie eine Berührung anfühlte.
Mit einem Mal überkam sie das unerklärliche Bedürfnis, ihn zu streicheln. Atemlos trat sie vor, fest entschlossen, sein Verlangen gegen ihn zu verwenden, stellte sich auf die Zehenspitzen, so dass sich ihre Wangen beinahe berührten, und sah zu, wie er die Augen schloss und scharf den Atem einsog.
»Wieso sind Sie wirklich hier?«, flüsterte sie, als er keine Anstalten machte zurückzuweichen.
Seine Stimme war tief und belegt. »Um Sie zu beschützen.«
Danger hätte nicht verblüffter sein können, wenn er mit der Wahrheit herausgerückt wäre und zugegeben hätte, dass er Acherons Vollstrecker war. Sie trat einen Schritt zurück. Es war schwer, einen klaren Gedanken zu fassen, während dieser Mann sie anstarrte, als stellte er sie sich gerade splitternackt vor. »Wovor?«
Noch immer lag dieser lüsterne Ausdruck in seinen unheimlichen grünen Augen. »Vor denen, die Sie gern tot sehen möchten. Sie befinden sich in einer sehr heiklen Lage, Danger. Der Abtrünnige wird Sie auf der Stelle töten, wenn er herausfindet, dass Sie ihn verraten haben.«
Seltsam – Kyros hatte sich erstaunlich verständnisvoll gezeigt.
»Er kann mich nicht töten, das wissen Sie doch ganz genau. Kein Dark Hunter kann einem anderen Schaden zufügen.«
Er hob eine Braue. »Glauben Sie das wirklich? Es steht nirgendwo, dass ein Dark Hunter einen anderen nicht mit Handschellen an einen Zaun oder sonst wo anketten und ihn dann dort sitzen lassen kann, bis die Sonne aufgeht. Sie können einander nicht verletzen, das stimmt, aber es gibt eine ganze Reihe von Möglichkeiten, ihren Feinden zu schaden, ohne sich dabei selbst zu gefährden.«
Oh, das war ein Schlupfloch, das ihr noch nie in den Sinn gekommen war. Ihm hingegen sehr wohl, wie es schien.
»Und woher wissen Sie das? Wie viele Dark Hunter haben Sie denn schon dem Tageslicht ausgesetzt, nachdem sie Ihnen ihr Vertrauen geschenkt hatten?«
Er lachte verbittert. »Wenn ich Sie oder sonst jemanden tot sehen wollte, Danger, müsste ich wohl kaum warten, bis die Sonne aufgeht.«
»Wovor müssen Sie mich dann beschützen?«
Er wandte den Blick ab. »Das kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Versuchen Sie’s.«
»Nein«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Selbst wenn ich es täte – Sie würden mir nicht glauben.«
Sie steckten in einer ausweglosen Situation. Sie würde ihm erst vertrauen, wenn er ihr einen plausiblen Grund dafür gab – und wahrscheinlich nicht einmal dann –, und das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war ein Kerl im Haus, dem sie nicht über den Weg traute. »In diesem Fall werden Sie sicher verstehen, wenn ich Sie bitte, in ein Hotel zu gehen, während Sie hier für Acheron spionieren, ja?«
Er stieß ein kurzes, drohendes Lachen aus. »Sie haben sich heute Abend mit Kyros getroffen, und er hat versucht, Sie für seine Rebellion zu gewinnen. Haben Sie ihm abgekauft, was er Ihnen erzählt hat?«
Woher wusste er davon? Schließlich hatte sie das Treffen nicht an die große Glocke gehängt. Verdammt. Er war derselbe Geheimniskrämer wie Acheron und ging ihr allmählich auf die Nerven. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«
Er trat näher. Seine Gegenwart schien den gesamten Raum auszufüllen, übermächtig und doch seltsam tröstlich. Es war, als wäre etwas in seinem Innern, das beruhigend auf sie wirkte. Ganz zu schweigen von seinen Pheromonen, die in Flaschen abgefüllt und verkauft werden sollten. Er verströmte eine Aura der Sexualität, der sich niemand entziehen konnte. Sie kannte nur einen Mann außer ihm, der sein Gegenüber förmlich aufforderte, ihm die Kleider vom Leib zu reißen und sich nach allen Regeln der Kunst mit ihm zu vergnügen – Acheron.
Was ist nur los mit mir?
Eine solche Lust hatte sie noch nie empfunden.
»Für eine Schauspielerin sind Sie eine erbärmliche Lügnerin«, sagte Alexion mit einer Stimme, bei der sie ein Schauder überlief.
Sie erstarrte. »Entschuldigung?«
»Sie haben genau verstanden, was ich gesagt habe. Welche Lüge hat Kyros Ihnen aufgetischt? Ich hoffe, er war ein bisschen kreativer und ist ausnahmsweise nicht auf seiner uralten ›Acheron ist ein Daimon‹-Nummer herumgeritten.«
Sie wusste nicht, was sie mehr verblüffte. Die Tatsache, dass er genau wusste, was sie über Acheron gesprochen hatten, oder dass er von Kyros redete, als kenne er ihn persönlich. »Woher wissen Sie von Kyros?«
»Glauben Sie mir, ich weiß alles über ihn.«
Danger war noch verwirrter. Sagte Alexion die Wahrheit? Oder benutzte er die Wahrheit, nämlich dass Acheron ein Daimon war, als Ablenkungsmanöver? Gab es eine bessere Methode, als das ins Lächerliche zu ziehen, was durchaus die Wahrheit sein konnte?
Wem sollte sie glauben? Kyros, der sich regelrecht in einen Wahn hineinsteigerte, oder diesem Mann, bei dem es sich allem Anschein nach um einen Killer handelte?
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und musterte ihn eindringlich. »Und? Ist Acheron ein Daimon?«
Seine unheimlichen Augen fixierten sie. »Was glauben Sie?«
»Keine Ahnung.« Und das war die Wahrheit. »Es klingt durchaus einleuchtend. Er ist Atlantäer, und wir alle wissen, dass die Daimons ursprünglich von dort stammen.«
Alexion schnaubte nur. »Acheron wurde in Griechenland geboren und ist in Atlantis aufgewachsen. Das macht ihn wohl kaum zum Daimon oder zum Apolliten.«
Trotzdem mussten noch mehrere Faktoren in Betracht gezogen werden. »Er isst nie etwas.«
»Sind Sie da sicher?«, fragte er. »Nur weil er es nicht vor Ihnen tut, muss das noch lange nicht bedeuten, dass er überhaupt nichts zu sich nimmt.«
Okay, dieses Argument hatte er widerlegt. Die Gewissheit, dass Kyros möglicherweise ein wahnwitziger Dummkopf war, beruhigte sie ein klein wenig.
Trotzdem gab es einen Punkt, der keinerlei Sinn ergab. Einen Punkt, den Alexion ihr würde erklären müssen. »Und was ist mit Ihnen? Wenn Kyros so völlig danebenliegt, woher wusste er dann, dass Sie einen weißen Mantel tragen und versuchen, Acherons Urteil an uns allen zu vollstrecken?«
Alexion erstarrte. Die Frage schnitt sich durch sein Bewusstsein wie eine spitze Glasscherbe. »Wie bitte?«
Ein süffisantes Grinsen spielte um ihre Lippen. »Darauf haben Sie keine Antwort, was?«
Nein, die hatte er nicht. Das konnte Kyros unmöglich herausgefunden haben. »Wie kann er von mir wissen? Niemand weiß, dass ich existiere.«
»Dann hat er also recht«, erklärte sie vorwurfsvoll. »Sie haben mich belogen, was Ihre Aufgabe angeht. Sie sind hier, um uns alle zu töten. Sie sind Acherons Killer.«
Alexion schnappte nach Luft. Wie konnte jemand davon wissen? Das war schlicht und einfach unmöglich. Acheron hatte alles darangesetzt, dass niemand von seiner Existenz wusste. »Nein, das bin ich nicht. Ich bin hier, um so viele von euch zu retten, wie ich kann.«
»Und weshalb sollte ich Ihnen das glauben?«
»Weil es die Wahrheit ist.«
Sie musterte ihn zweifelnd. »Dann beweisen Sie es.«
Das war leichter gesagt als getan. »Wie denn? Die einzige Möglichkeit, Ihnen zu beweisen, dass ich Sie nicht töte, ist doch, Sie nicht zu töten. Und soweit ich mich erinnere, waren Sie diejenige, die mit dem Messer nach mir geworfen hat, nicht umgekehrt.«
Danger starrte ihn feindselig an. »Was sollte ich denn davon halten? Ich komme nach Hause und sehe meinen sonst so lebhaften Squire wie ein Häuflein Elend auf dem Sofa sitzen. Der arme Kerl sieht aus, als hätte er ordentlich Prügel bezogen, und mein Fernseher ist völlig zertrümmert. Dann sitzt da ein blonder Mann, von dem ich gehört habe, er würde kommen, um mich zu töten, und als er aufsteht, sehe ich, dass er einen weißen Mantel trägt; genauso wie man es mir angekündigt hatte. Wie hätten Sie an meiner Stelle reagiert?«
»Ich hätte gesagt: ›Hallo, kann ich Ihnen helfen?‹«
Sie verdrehte die Augen. »Na klar.«
Er hätte es tatsächlich getan, andererseits hatte er ihr gegenüber einen entscheidenden Vorteil – er konnte nicht sterben. Zumindest nicht durch die Hand von einem Wesen, das hier auf der Erde geboren war.
»Ich weiß, dass Sie keinen Grund haben, mir zu glauben, Danger. Vor dem heutigen Abend hatten Sie noch nie von mir gehört. Aber Sie kennen Acheron. Haben Sie je gehört, dass er einem Dark Hunter etwas angetan hat? Denken Sie doch mal nach. Wenn Ash wirklich ein Daimon wäre, weshalb würde er dann die Dark Hunter unterstützen und sie beschützen?«
»Weil er uns benutzt, um gegen seinesgleichen zu kämpfen, damit seine Mutter ihn nicht tötet.«
Alexion erstarrte. Wo zum Teufel kamen all diese Lügen her?
Acheron würde ausflippen, wenn er das hörte. Genauer gesagt, kein Dark Hunter würde das Ganze überleben. Acheron würde sie allesamt töten, ohne mit der Wimper zu zucken. Was die Existenz seiner Mutter anging, ging Acheron keinerlei Risiko ein.
Und er zeigte keinen Funken Gnade.
»Was wissen Sie von der Frau, von der behauptet wird, sie sei seine Mutter?«, fragte er in der Hoffnung, dass Acheron nicht ausgerechnet diesen Moment wählte, ihm nachzuspionieren.
»Dass sie ihn aus dem Reich der Daimons vertrieben hat und er uns jetzt benutzt, um sich an ihr und seinen Leuten zu rächen.«
Er schnaubte abfällig. »Das ist ja wohl das Albernste, was ich je gehört habe. Und glauben Sie mir, mir ist schon eine Menge Schwachsinn zu Ohren gekommen. Es ist eine idiotische Lüge.«
Sie schnaubte ebenfalls. »Das Problem ist nur, dass ich Ihnen nicht über den Weg traue. Keinen Zentimeter weit.«
»Aber Kyros trauen Sie?«
Er sah die Antwort in ihren dunklen Augen. Nein, sie vertraute auch Kyros nicht. Doch es sprach für sie, dass sie ihrem Dark-Hunter-Bruder nicht in den Rücken gefallen war. Sie schützte Kyros immer noch. Dafür konnte er sie nur bewundern.
»Danger, hören Sie doch auf Ihr Herz und Ihren Instinkt. Was sagen sie Ihnen?«
»Dass ich meinen Squire schnappen, so schnell wie möglich von hier verschwinden und euch das Ganze allein ausfechten lassen soll.«
Er stieß ein düsteres Lachen aus.
Danger wünschte, sie könnte dasselbe tun, doch leider fand sie die Situation nicht im Geringsten witzig. »Aber das kann ich ja wohl nicht tun, oder? Also weiß ich nicht, wem ich glauben soll, und ich bin frau genug, es auch zuzugeben. In beiden Geschichten gibt es eklatante Lücken. Damit muss ich eine Antwort auf die Frage finden, wer hier den ›Ich habe Übles im Sinn‹-Teil unterschlägt.«
Alexion sah sie amüsiert an. »Dann will ich es mal so erklären: In unserer Welt gibt es nur selten Schwarz oder Weiß. Manchmal hat das, was wir als gut empfinden, auch eine abgrundtief böse Seite, und das abgrundtief Böse wird Ihnen immer erzählen wollen, dass es das Gute ist. Es wird wohl niemals freiwillig zugeben, dass es schlecht ist.«
Danger legte den Kopf schief. Er klang genauso wie Vater Anthony, der Priester ihrer Pariser Gemeinde, als sie noch ein junges Mädchen gewesen war. »Und wenn ich Sie nun fragen würde, ob Sie auf der Seite des Guten stehen?«
»Das tue ich. Aber ich werde nicht zögern zu tun, was nötig ist, um die Menschen und Acheron zu schützen. Ich bin hier, um diejenigen zu retten, die gerettet werden können.«
»Und der Rest?«
Er wandte den Blick ab.
»Sie werden uns töten.« Das war eine Feststellung.
Ihre Blicke begegneten sich. Seine Augen schimmerten in einem tiefen, satten Grün – unirdisch und nicht einmal ansatzweise menschlich. »Nein. Sie treiben sich durch ihre Dummheit selbst in die Verdammnis. Ich muss zugeben, dass es mich nicht im Mindesten kümmert, wer von euch überlebt und wer nicht. Ich bin hier, um zu tun, was getan werden muss, damit die Ordnung gewahrt bleibt.«
»Welche Ordnung?«
»Die Ordnung unserer Existenz. Unseres Universums. Nennen Sie es, wie Sie wollen. Am Ende werden diejenigen sterben, die sich gegen Acheron stellen und die Menschheit zu vernichten versuchen, und zwar durch meine Hand.«
Es war unglaublich. Er gab also zu, dass er derjenige war, der sie am Ende irgendwann töten würde. »Dann sind Sie also unser Richter?«
Seine Miene war grimmig. »Euer Richter, eure Geschworenen und euer Vollstrecker.«
Seine Worte ließen ihre Wut auflodern. Sie trat so dicht vor ihn, dass sich ihre Zehenspitzen beinahe berührten. »Und wie kommen Sie darauf, dass ausgerechnet Sie aufs Geratewohl entscheiden können, wer leben darf und wer sterben muss? Woher wissen Sie denn, dass Ihre Entscheidung die richtige ist?«
Er schnaubte. »Ihr wisst alle selbst, was richtig ist und was nicht. Dafür braucht ihr mich nicht. In der Nacht, als Sie zur Dark Hunterin wurden, leisteten Sie den ewigen Schwur, Artemis zu dienen und in ihrem Auftrag die Daimons zu jagen. Jeder von euch wurde dafür mit Reichtum, Dienern und Privilegien belohnt. Alles, was ihr im Gegenzug dafür tun müsst, ist, die Menschen zu beschützen und selbst am Leben zu bleiben. Solange ihr euch an die Regeln haltet, steht es euch frei, euer Glück zu finden, wie es auch immer aussehen mag. Ihr alle kennt die Regeln. Ich bin nur hier, um deren Einhaltung durchzusetzen, falls einer von euch glaubt, dass sie für ihn oder sie nicht gelten.«
Das reichte. Sie wollte niemanden, der so herzlos war, unter ihrem Dach haben. Es war ihm tatsächlich egal, wen er tötete. Die Dark Hunter waren ihm völlig gleichgültig. Doch für sie waren ihre Brüder wie eine Familie.
Er würde morden oder selbst sterben, um Acheron zu beschützen, und sie würde morden oder selbst sterben, um ihre Familie zu schützen.
So einfach war das. Und doch so kompliziert.
»In diesem Fall möchte ich, dass Sie mein Haus verlassen.«
Er schüttelte den Kopf. »So geht das nicht. Wenn Acheron mich schickt, weist er mich einem Dark Hunter zu, von dem er will, dass er gerettet wird. Es funktioniert leider nicht immer, aber rein theoretisch betrachtet: Wenn Sie kooperieren, sollten Sie das Ganze unbeschadet überleben. Ich werde Sie als freundlichen, vertrauenswürdigen Dark Hunter benutzen, damit Sie mich den Verrätern vorstellen und ich herausfinden kann, wer es wert ist, gerettet zu werden.«
»Und wenn ich mich weigere?«
»Dann werden Sie sterben.« Sein Tonfall verriet ebenso wenig Gefühlsregung wie seine Miene. Es kümmerte ihn nicht im Geringsten, ob er sie töten musste oder nicht.
Danger starrte ihn mit vor Wut hämmerndem Herzen an. »Dann hoffe ich nur, Sie rücken mit einer Armee an, denn es wird schon ein bisschen mehr nötig sein, um mich umzubringen.«
Sie machte einen Satz nach vorn, doch es war, als pralle sie gegen eine unsichtbare Wand. Sie versuchte es noch einmal, doch es schien keine Möglichkeit zu geben, an ihn heranzukommen. Es war fast, als sei er von einem Kraftfeld umgeben, das ihn vor jedem Angriff schützte.
»Ich kann nicht sterben, Danger«, erklärte er düster. »Aber Sie. Und eines kann ich Ihnen versichern – als Dark Hunter zu sterben ist eine wirklich üble Sache.«
Sie drosch mit der Hand auf die unsichtbare Wand ein und starrte ihn an. »Sie wollen, dass ich meine Brüder verrate, nur um meine eigene Haut zu retten? Vergessen Sie’s. Ich scheiß auf Sie und Acheron.«
»Nein«, erklärte er mit ernster Miene und schüttelte den Kopf. »Ich bitte Sie darum, Ihre Brüder zu retten. Wenn wir sie dazu bringen, Ihnen zu vertrauen und mir zu glauben, wenn sie akzeptieren, dass Kyros ein Lügner ist, können sie nach Hause gehen, und es ist alles vorbei und vergessen.«
»Und wenn wir es nicht tun?«
»Dann sind sie Geschichte.«
Angewidert wich sie zurück. »Sie könnten ruhig ein bisschen mehr Mitgefühl an den Tag legen, wenn Sie so etwas sagen. Bedeuten wir Ihnen denn gar nichts? Und was ist mit Acheron?«
Sie spürte einen feinen Luftzug, als wäre die Wand wieder verschwunden, und sah in Alexions unheimliche grüne Augen.
»Acheron bedeuten die Dark Hunter durchaus etwas. Wenn nicht, wäre ich jetzt nicht hier, und ihr alle wärt längst tot. Er braucht mich nicht, um euch zu töten. Er kann es sehr gut allein, ohne dass er dabei auch nur ins Schwitzen käme. Glauben Sie mir – auch mir macht es keinen Spaß zu töten. Und die Entscheidung, wer überlebt und wer nicht, ist auch für mich nicht leicht. Das Ganze ist kein Spiel für mich. Es ist aber auch nicht das Ende der Welt.«
Sie schluckte den Kloß hinunter, der sich beim Gedanken daran, dass all ihre Freunde sterben würden, in ihrem Hals gebildet hatte. »Sie haben es verdient, gerettet zu werden. Sie alle. Aber Sie haben ja keine Ahnung, wie schwer es ist, einer von uns zu sein. Man hat uns erschaffen und dann einfach alleingelassen. Einige von uns existieren jahrzehntelang oder sogar noch länger, ohne ein Wort von Acheron zu hören. Und keiner von uns sieht Artemis jemals wieder …«
Er gab ein abfälliges Schnauben von sich. »Seien Sie froh, dass Ihnen das erspart bleibt.«
Sie hielt inne, als ihr Strykers Worte über Artemis’ Tod wieder in den Sinn kamen. »Lebt Artemis überhaupt noch?«
»Allerdings. Artemis lebt und ist bester Dinge. Und sie tanzt Acheron ständig auf der Nase herum.«
Aus irgendeinem Grund fühlte sie sich sofort besser – vorausgesetzt, Alexion log nicht. »Dann bedeuten wir ihr also doch etwas.«
»Nein«, widersprach er bitter. »Nur Acheron bedeutet Artemis etwas. Ihr anderen seid nur da, damit sie ihn kontrollieren kann. Deshalb erschafft sie weiterhin neue Dark Hunter und ersetzt diejenigen, die sich für die Freiheit entscheiden. Der Tag, an dem Acheron sich nicht länger um die Dark Hunter kümmert, ist der Tag, an dem Artemis sich von euch abwenden wird. Und höchstwahrscheinlich wird das euer Ende sein. Also erzählen Sie mir nicht noch einmal, Acheron schere sich keinen Pfifferling um euch. Und ihr fallt ihm jeden Tag aufs Neue in den Rücken.«
Seine Worte hallten in ihren Gedanken wider. Stimmte es etwa, was er sagte?
Sie kannte Ash, und seine Erklärung klang erheblich einleuchtender als die Vermutung, er könnte ein Daimon sein.
Andererseits klang Kyros’ Theorie ebenfalls plausibel genug, um wahr sein zu können.
Wenn sie doch nur wüsste, wem sie vertrauen konnte.
Alexion trat so dicht vor sie, dass sie seinen Atem auf ihrer Wange spüren konnte. »Sie müssen sich entscheiden, Danger. Werden Sie mir helfen, einige der Dark Hunter zu retten, oder soll ich sie alle töten und dann wieder von dannen ziehen?«