11
Die Fahrt zu Kyros’ Haus erwies sich als totaler Reinfall. Er war nicht zu Hause, und sein Squire weigerte sich, sie ins Haus zu lassen, bevor er zurückgekehrt war. Seufzend stand Danger neben Alexion auf der Veranda von Kyros’ weiß und blau gestrichenem Herrenhaus aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg.
In Aberdeen war es sehr ruhig. Nur eine leichte Brise ließ die Blätter der Eichen links und rechts der weißen Treppe erbeben. Die alte Stadt am Mississippi besaß einen besonderen Charme, nicht zuletzt, weil es den Anschein hatte, als wäre die Zeit hier stehen geblieben.
Am liebsten mochte Danger die kleine katholische Kirche, die das Flair vergangener Zeiten verströmte. Sie liebte diese kleine Stadt, die wie ein historisches Juwel im Verborgenen blühte, fernab der allgemeinen Öffentlichkeit.
Mit seinem urban-chicen Outfit aus schwarzem Rollkragenpullover, schwarzen Wollhosen und dem weißen Kaschmirmantel wirkte Alexion merkwürdig deplatziert. Er sah aus, als sei er soeben von einem Mailänder Laufsteg herabgestiegen. Und unglaublich maskulin und gut aussehend, zum Anbeißen …
Was hatte dieser Mann nur an sich? Könnte er seine sexuelle Anziehungskraft in Flaschen abfüllen und verkaufen, wäre er garantiert reicher als Bill Gates.
Und du hast wichtigere Dinge, über die du nachdenken solltest, als die Frage, wie er nackt aussieht.
Das stimmte, trotzdem hätte sie sich am liebsten auf ihn gestürzt, auch wenn ihr dieser scheinbar unbezähmbare Drang allmählich auf die Nerven fiel. Sie wünschte, sie wäre konzentriert und sachlich – so, wie sie es von sich gewohnt war.
»Was machen wir jetzt?«, fragte sie und schob ihre unzüchtigen Gedanken entschlossen beiseite. »Hier auf ihn warten?«
»Nein, es könnte Stunden dauern, bis er zurück ist. Wir sollten eine Weile herumfahren. Wenn die Daimons sich mit Kyros verbündet haben, sind sie heute Nacht sicher auf Beutezug. Wo halten sich hier am meisten Menschen auf?«
Danger dachte einen Moment nach. Tupelo war recht weitläufig, und abgesehen von einer Handvoll Clubs, die die Daimons gelegentlich aufsuchten, war in ihrer Heimatstadt nicht allzu viel von ihnen zu sehen. Ganz im Gegensatz zu anderen Gegenden am Mississippi, beispielsweise an der Küste in Tunica und einigen anderen Städten mit Colleges – was der Grund war, weshalb es sechs Dark Hunter im Goldenen Dreieck des Mississippi gab, wo Kyros stationiert war.
»Es gibt zwei Colleges, wo sie ziemlich häufig zuschlagen. Das W, die Frauenuniversität von Mississippi in Columbus, und die MSU in Starkville.«
»Wie weit ist es bis dorthin?«
»Nicht sehr weit. Columbus liegt etwa eine halbe Stunde entfernt, und nach Starkville sind es von dort aus vielleicht noch mal fünfzehn oder zwanzig Minuten.«
Er nickte. »Welche Uni ist größer?«
Sie sah ihn an. »Ich dachte, Sie hätten diese geheimnisvolle Kugel, die Ihnen solche Dinge verrät?«
Er starrte sie mit zusammengekniffenen Augen an, um ihr zu signalisieren, dass er ihre Neckereien keineswegs witzig fand.
»Sehen Sie mich nicht so finster an«, meinte sie lächelnd. »Starkville ist die größere von beiden. Dort sind über 15 000 Studenten eingeschrieben. Die Daimons besuchen dort mit Vorliebe Partys. Kyros, Squid und Rafael gehen regelmäßig hin, während Tyrell, Marco und Ephani sich eher in Columbus aufhalten.«
Alexion nickte in Richtung Wagen. »Dann sollten wir dort anfangen. Mit ein bisschen Glück finden wir Kyros.« Er ging die Stufen hinunter.
Danger folgte ihm und versuchte, die Tatsache zu ignorieren, dass sein Gang etwas Raubtierhaftes, beinahe Tödliches an sich hatte. Es war ein Gang, der Frauen stehen bleiben und ihn bewundernd anstarren ließ.
Als er auf die Beifahrerseite trat und einsteigen wollte, sah sie ihn verwirrt an. »Was, kein Hokuspokus diesmal? Sie steigen nicht einfach ein und fahren los?«
»Ich kenne den Weg nicht.«
Es erstaunte sie, dass er das so unumwunden zugab – ein Zug, der ihn beinahe menschlich wirken ließ. Bis jetzt war er so übermächtig erschienen, dass sie vermutet hatte, es gäbe nichts, was er nicht beherrschte. »Aber Sie haben doch auch ohne meine Hilfe hierhergefunden.«
»Ich habe getrickst. Es gab unterwegs Schilder, und als wir in Aberdeen waren, hatte ich keine allzu großen Schwierigkeiten, das Haus zu finden, weil es direkt an der Hauptstraße liegt. Ich habe es wiedererkannt, weil ich es in der sfora schon mal gesehen hatte. Aber Wegweiser nach Columbus oder Starkville habe ich nirgendwo gesehen.«
Danger lachte. Sie mochte Männer, die ehrlich waren … und relativ normal. »Okay. Jetzt ist ja der Automobilclub da. Los, steigen Sie ein.«
Sie ging zur Fahrerseite und schnallte sich an, während er sich neben sie setzte. Als sie den Motor starten wollte, fiel ihr auf, dass sie bei ihrer überstürzten Flucht vor dem Charonte die Wagenschlüssel vergessen hatte. »Äh, könnte ich vielleicht ein bisschen Hilfe bekommen?«
Er runzelte die Stirn, dann lächelte er. »Klar.«
Der Wagen erwachte schnurrend zum Leben.
Kopfschüttelnd legte sie den Gang ein. »So praktisch Ihre Kräfte sein mögen, könnten Sie jederzeit dafür verhaftet werden.«
Sein Lächeln wärmte ihr Herz. Ganz zu schweigen von seinem köstlichen Geruch, der ihr in die Nase stieg … nach Seife und nach Mann.
»Dann muss ich wohl aufpassen, wessen Motor ich starte«, gab er grinsend zurück, was ihr verriet, dass er ihre Doppeldeutigkeit sehr wohl verstanden hatte.
»Schön wär’s«, sagte sie halblaut und setzte rückwärts aus der Einfahrt. Sie wünschte, er würde ihren Motor nicht unablässig auf Hochtouren bringen. Es war schwierig, einen klaren Kopf zu behalten, während ihre Libido in seiner Gegenwart förmlich zu sabbern begann.
Wenigstens war sie nun, da sie hinter dem Steuer saß, gezwungen, sich aufs Fahren zu konzentrieren, und konnte nicht ständig darüber nachdenken, wie es wäre, ihn für eine kleine Testfahrt von seinen Klamotten zu befreien. Großer Gott, Danger, hör endlich mit diesen schwachsinnigen Auto-Anspielungen auf. Du benimmst dich ja wie die übelste Schlampe.
Es stimmte, trotzdem konnte sie es sich nicht verkneifen. Er war einfach so attraktiv.
Sie räusperte sich und zwang sich, ihre Gedanken auf die vor ihnen liegende Aufgabe zu lenken. »Haben Sie irgendeinen Trick, wie Sie herausfinden können, wo Kyros sich gerade aufhält?«
»Ich wünschte, es wäre so, aber leider nicht. Nicht ohne die sfora.«
»Wieso haben Sie sie nicht mitgebracht?«
Er seufzte. »Das ist verboten. Wenn sie in falsche Hände geriete, könnte sie verheerenden Schaden anrichten.«
»Ach, tatsächlich?«
Alexion musste sich ein Lachen verkneifen. Sie zu ermutigen, war so ziemlich das Letzte, was er beabsichtigte. Er war noch nie einer Frau begegnet, die so sarkastisch war wie sie. Trotzdem hatte diese Eigenschaft etwas überaus Amüsantes an sich.
Mehr noch – er fand sie bezaubernd. Sie war eine willkommene Abwechslung zu der Monotonie seines Daseins. Er lebte in einer Welt ohne jede Farbe und jedes Gefühl, einer Welt, die kalt und einsam war. Sie hingegen war voller Leben und Wärme. Er wünschte, er könnte einen Teil von ihr mit zurück nach Katoteros nehmen.
Doch dazu würde es niemals kommen.
Schon sehr bald würde er zurückkehren müssen.
Und sie würde sich nicht einmal mehr daran erinnern können, dass sie ihm je begegnet war. Er wäre nicht einmal die ferne Erinnerung eines Traums. Alles, was sie gemeinsam erlebt hatten, wäre unwiderruflich aus ihrem Gedächtnis getilgt.
Doch er würde sich erinnern, und er würde sie immer vermissen. Seltsam, dass ihm so etwas noch nie zuvor passiert war. Er dachte an die männlichen Dark Hunter, die ihn begleitet hatten, wenn er gekommen war, um Acherons Urteil zu vollstrecken, doch er empfand keinerlei Bedauern, dass er Kontakt zu ihnen nicht aufrechterhalten konnte.
Er kannte Danger erst seit kurzer Zeit, und doch wusste er bereits, dass sie ihm sehr fehlen würde.
Wie merkwürdig.
Er sah zu, wie sie den Wagen mit beeindruckender Sicherheit durch den Verkehr lenkte. Zum ersten Mal verspürte er so etwas wie Neugier.
Was mochte sie? Was nicht?
Normalerweise stellte er keine persönlichen Fragen. Nach all der Zeit, die er bei Acheron lebte, wusste er, wie sinnlos es war. Ganz zu schweigen davon, dass er niemanden näher kennenlernen wollte, den er später zurücklassen und nie wiedersehen würde.
Keine persönliche Bindung. So etwas wäre ein großer Fehler.
Trotzdem schob er seine Bedenken beiseite. »Sind Sie gern Dark Hunterin?«, fragte er, ehe er sich beherrschen konnte.
»An den meisten Tagen«, antwortete sie automatisch.
»Und an den anderen?« Hör auf! Doch es war einfacher gesagt als getan. Er wollte ernsthaft wissen, wie sie dachte.
Sie schenkte ihm ein gewinnendes Lächeln, bei dessen Anblick Bewegung in seine Lendengegend kam. Sie war bezaubernd, nicht nur wegen ihres Aussehens. Ihre Lebensfreude hatte etwas Ansteckendes. Sie zog ihn geradezu magisch an und beschwor die Sehnsucht nach etwas herauf, was er nie würde haben können.
»Es ist wie mit allem im Leben«, fuhr sie fort. »Manche Tage sind wunderbar, andere nerven. Spätabends, wenn keiner mehr auf der Straße ist, kann es ziemlich einsam werden. Manchmal fragt man sich, ob man die richtige Wahl getroffen hat. Ob man in seiner Wut vielleicht überstürzt gehandelt und einen Pakt geschlossen hat, von dem man lieber die Finger hätte lassen sollen. Keine Ahnung. Ich war nicht lange genug tot, um mich daran zu erinnern oder um entscheiden zu können, ob der Tod besser ist als das Leben, das ich heute führe, insofern habe ich ja vielleicht doch die richtige Entscheidung getroffen.«
Sie sah ihn an. »Tja, Mr. Superschlau, vielleicht wollen Sie mir ja verraten, wie die Alternative aussieht? Erinnern Sie sich daran, wie es war, tot zu sein?«
Er dachte einen Moment darüber nach. »Ja. Wenn man nicht gerade als Shade unterwegs ist, kann es recht friedlich sein. Als Sterblicher dachte ich immer, ich würde die Ewigkeit im Kreise meiner Familie im Elysium verbringen.«
»Und was hat Sie bewogen, stattdessen einen Pakt mit Artemis zu schließen?«
Der alte Schmerz bohrte sich durch sein Herz. Es war seltsam, dass nach all den Jahrhunderten der Gedanke an seine über alles geliebte Frau und ihren hinterhältigen Verrat immer noch so wehtat. Doch wie Acheron so oft sagte – es gab Wunden, die nicht einmal die Zeit heilen konnte. Die Menschen lernten aus ihrem Schmerz. Er war ein notwendiges Übel, um wachsen zu können.
Ja klar. Manchmal fragte er sich, ob Acheron Sadist oder Masochist war. Doch er wusste, dass das nicht stimmte. Acheron verstand den Schmerz in einer Art und Weise, wie es nur wenige taten. Wie Alexion lebte auch er unablässig damit und hätte ihn nur zu gern verjagt, wenn er es nur gekonnt hätte.
Er sah Danger an, deren Züge vom Schein der Straßenbeleuchtung erhellt wurden. Abgesehen von Kyros, Brax und Acheron wusste niemand mehr von ihm als seinen Namen. Er war eine vage Legende und galt als der erste seiner Gattung, der zum Shade geworden war.
Er war gewissermaßen der Buhmann, ein Beispiel dafür, was aus einem wurde, wenn die falsche Person versuchte, einem seine Seele zurückzugeben. Das war zumindest die offizielle Version, die man ihnen erzählt hatte.
Keiner von ihnen wusste von der Schande, dass er seiner Frau vertraut hatte, obwohl diese sich längst einem anderen Mann zugewandt hatte. Sie wussten nicht, was für ein blinder, vertrauensseliger Narr er gewesen war.
Kyros und Brax hatten in all den Jahrhunderten eisern Stillschweigen bewahrt. Das war einer der Gründe, weshalb Alexion gekommen war, um Kyros zu retten, wenn es irgendwie möglich war.
Selbst im Tod war dieser Mann noch sein Freund gewesen.
Alexion holte tief Luft. »Als ich das erste Mal starb, wurde ich ermordet«, sagte er schlicht. »Von jemandem, dem ich fälschlicherweise vertraut habe; genauso wie Sie.«
Sie runzelte mitfühlend die Stirn. »Wer hat Sie getötet?«
»Der Liebhaber meiner Frau.«
Sie verzog das Gesicht. »Autsch.«
»Genau.«
»Und dann hat Ihre Frau das Medaillon fallen lassen, anstatt Ihre Seele zu retten«, sagte sie mit zornerfüllter Stimme. »Ich kann nicht glauben, dass sie Ihnen so etwas angetan hat.«
Alexion nahm ihre Wut mit Genugtuung zur Kenntnis. »Eine verdammt üble Art herauszufinden, dass die eigenen Kinder nicht das eigen Fleisch und Blut sind.«
Zu seiner Verblüffung streckte sie die Hand aus und legte sie beschwichtigend auf seine. Die unerwartete Zärtlichkeit dieser Geste ließ ihn erschaudern. Es bedeutete ihm sehr viel, dass sie ihn wie einen normalen Mann behandelte, obwohl sie beide wussten, dass er keiner war. »Es tut mir sehr leid.«
Er legte seine andere Hand auf ihre und drückte sie leicht. Die zarten Knochen unter ihrer weichen Haut straften die Kraft, die in dieser Frau steckte, Lügen.
»Danke. Und mir tut es leid, dass Ihr Ehemann so ein Drecksack war.«
Danger lachte. Sie hatte nicht damit gerechnet, ein solches Wort aus seinem Mund zu hören. Unwillkürlich spürte sie, wie ihr Misstrauen ihm gegenüber schwand. Es war lange her, seit sie sich so mit einem Mann unterhalten hatte. Die meisten Menschen, mit denen sie in Kontakt kam, waren andere weibliche Dark Hunter, die sie bereits seit Jahrzehnten kannte. Dieses Gespräch war eine willkommene Abwechslung. »Und sind Sie zurückgegangen, um Ihre Frau zu töten?«
»Nein.« Er ließ ein bitteres Lachen hören. »Ich muss zugeben, das war nicht gerade eine Glanzstunde meines Lebens … oder Todes. Ich kam mir wie der letzte Idiot vor, als ich dortlag und miterlebte, wie sie mir beim Sterben zusah. In ihren Augen stand nicht einmal ein Anflug von Mitleid oder Reue, sondern höchstens Erleichterung, dass ich endlich starb.«
Der Ärmste. Sie wusste aus eigener Erfahrung, dass es nicht nur schmerzlich, sondern auch überaus demütigend war, sich so gründlich in jemandem geirrt zu haben. »Und was wurde aus ihr?«
Sein Mundwinkel hob sich zu einem boshaften Grinsen. »Acheron hat sie versteinert. Ihre Statue steht im Korridor vor meinem Zimmer.«
Danger riss die Augen auf. »Im Ernst?«
»Absolut. Ich werfe ihr jeden Morgen einen Luftkuss zu, wenn ich an ihr vorbeigehe.«
»Mann«, sagte sie kopfschüttelnd, »das ist echt gnadenlos.«
»Finden Sie?«
»Ehrliche Antwort? Überhaupt nicht. Ich wäre noch viel gemeiner gewesen.«
Alexion war neugierig, welche Bestrafung sie sich als noch schlimmere ausgedacht hätte. »Inwiefern?«
»Ich hätte ihre Statue in einen Park gestellt, damit die Vögel auf sie scheißen können.«
Er lachte. Okay, das schlug seine Lösung um Längen. »Erinnern Sie mich daran, dass ich es mir nie mit Ihnen verscherze.«
»Ja. ›Die Hölle selbst kann nicht wüten wie eine zornige Frau‹, hat meine Mutter immer gesagt.«
»Ich dachte, es heißt ›wie eine verschmähte Frau‹.«
»Zornig, verschmäht, völlig egal. Ich blicke auf eine lange Tradition rachsüchtiger Frauen zurück. Im Vergleich zu meiner Großmutter ist Madame Defarge das reinste Waisenkind.«
Er nickte. »Ich werde darauf achten, diese Seite an Ihrer Persönlichkeit nicht unnötig zu reizen. Mein Bedarf an Auseinandersetzungen mit rachsüchtigen Frauen ist mehr als gedeckt, herzlichen Dank.«
Danger seufzte, unsicher, ob sie seine Bemerkung amüsant finden sollte. Vielmehr wurde ihr trotz seines lässigen Tonfalls das Herz schwer. »Wohl wahr.«
Wieder drückte sie seine Hand. »Und was wurde aus Ihren Kindern, nachdem Ash ihre Mutter in Stein verwandelt hatte?«
»Acheron hat ein gutes Zuhause für sie gefunden. Er ist kein Mann, der ein Kind für etwas leiden lässt, woran er die Schuld trägt.«
»Ja, das ist mir auch schon an ihm aufgefallen.«
Eine Zeitlang schwiegen sie, während sie den restlichen Weg zum MSU-Campus zurücklegten. Es war eine bewölkte, mondlose Nacht, und das wenige Licht, das durch die Äste und Zweige fiel, tauchte die Stadt in unheimliche Schatten.
Danger war gern nachts mit dem Wagen unterwegs. Es hatte so etwas Friedliches – wenn man von der Tatsache absah, dass sich das eine oder andere Wildtier in selbstmörderischer Absicht auf die Straße wagte.
Diese Sorge brauchte sie in Starkville allerdings nicht zu haben, denn während der vergangenen Jahre war die Stadt so sehr gewachsen, dass dieses Problem wohl erst kurz vor Tupelo wieder auftauchen würde.
Alexion sah aus dem Fenster, als Danger an den Verbindungshäusern vorbei zum zentralen Campus fuhr. Es sah aus, als steige in einem der Häuser eine Party. Er sah Autos auf dem Parkplatz und jede Menge plaudernder junger Leute. Überall auf der Veranda und im Garten hatten sich kleine Grüppchen gebildet, während sich im Haus etliche Tanzwütige tummelten.
»Sehen Sie nur«, sagte er leise. »Erinnern Sie sich, wie es war, so jung und am Leben zu sein?«
Sie warf einen Blick auf das Partyvolk. »Ja, allerdings. Ich dachte damals, ich würde eine der größten Schauspielerinnen Frankreichs meiner Zeit werden, so wie meine Mutter. Und ich dachte, Michel und ich würden irgendwann aufs Land ziehen, einen Stall voller Kinder großziehen und später unseren Enkeln beim Spielen zusehen.« Sie seufzte, als wäre die Erinnerung zu schmerzlich, um sich lange damit zu befassen. »Was ist mit Ihnen?«
Alexion ließ seine Gedanken all die zahllosen Jahrhunderte zurückreisen – etwas, was er sich aus einer Vielzahl von Gründen nicht sehr oft gestattete. Doch die alten Träume starben niemals, sondern existierten immer weiter, als reumütige Erinnerung daran, was hätte sein können.
»Ich wollte den Krieg hinter mir lassen, hinter dem ich von Anfang an nicht aus vollem Herzen stand. Aber mein Vater hatte darauf bestanden. Als sie in unser Dorf kamen, schnappte er mich und meinen älteren Bruder und warf uns den Rekrutierungsoffizieren regelrecht vor die Füße. Er wollte, dass mehr aus uns wurde als einfache Bauern, die mithilfe des kargen Bodens, der zum Leben zu viel und zum Sterben zu wenig abwarf, zu überleben versuchen. Er dachte, als Krieger hätten wir die Chance auf ein besseres Leben.«
»Was ist aus Ihrem Bruder geworden?«
Bei der Erinnerung an Darius’ Gesicht hielt Alexion inne. Sein Bruder war lebensfroh gewesen und hatte keinen größeren Wunsch gehabt, als ein Leben als Bauer zu führen, mit einer netten, anständigen Frau an seiner Seite. Er hatte nur ein Thema gehabt – endlich nach Hause zurückzukehren, die Tiere anzuspannen und den Acker zu pflügen.
Sein Herz schmerzte bei der Erinnerung daran, was ihnen beiden widerfahren war. »Er ist etwa ein Jahr vor mir umgekommen. Hätte ich zu dieser Zeit nicht unter Kyros’ Führung gekämpft, hätte es mich auch erwischt. Aber aus irgendeinem Grund, den ich nie ganz verstanden habe, hat er mich unter seine Fittiche genommen.«
»War er älter als Sie?«
»Nur drei Jahre, aber damals kam es mir vor, als wäre er längst ein erwachsener Mann, während ich bloß ein verängstigter Junge war.«
Danger entging die Bewunderung in seiner Stimme nicht. Es war offensichtlich, dass er seinen Freund sehr schätzte. Kein Wunder, dass er ihn retten wollte.
»Die anderen hatten keine besonders hohe Meinung von mir«, fuhr er fort. »Ebenso wie Kyros stammten sie aus alten Soldatenfamilien und fanden, ich sollte so schnell wie möglich auf meinen Acker zurückkehren. Sie wollten ihre Zeit nicht vergeuden, indem sie jemanden ausbildeten und durchfütterten, der sowieso bald sterben würde. In ihren Augen war es klüger, das für einen aufzusparen, der sich am Ende bezahlt macht.«
Sie brauchte keine sfora, um vor sich zu sehen, wie sie ihm das Leben schwer gemacht hatten. Neuntausend Jahre später war der Schmerz in seiner Stimme noch immer unüberhörbar.
»Aber Sie sind dabeigeblieben.«
»Wie Nietzsche schon sagte: Was dich nicht umbringt …«
»Lässt sich mit einem kurzen Krankenhausaufenthalt wieder in Ordnung bringen. Und wenn man Dark Hunter ist, reicht auch eine anständige Mütze voll Schlaf.«
Alexion lachte. Diese Frau hatte eine wirklich einzigartige Sicht auf die Dinge und einen guten Humor.
Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Campus und die Autos, die mit hämmernden Bässen und vor purer Lebensfreude kreischenden Jugendlichen an ihnen vorbeipreschten.
Wie er sie beneidete. Abgesehen von den Gesprächen mit Danger, die ein unglaubliches Talent besaß, den Finger in die Wunden zu legen, die ihn am meisten schmerzten, fühlte er normalerweise überhaupt nichts. »Sie haben keine Ahnung, wie wunderbar die Welt ist. Eigentlich hat sich seit Ihrer Geburt nicht allzu viel verändert, aber seit meiner …«
»Ja, ja, schon klar. Wann wurden Sie noch mal geboren? In der Bronzezeit?«
Alexion schnaubte. »Nein. Ich bin sogar noch älter. Wir waren so primitiv, dass wir eigentlich Dinosaurier als Reittiere hätten haben müssen.«
»Inwiefern primitiv?«
Er wand sich innerlich vor Scham bei der Erinnerung daran, wie sein Volk gelebt hatte und was die Menschen hatten tun müssen, um am Leben zu bleiben. Es war ein Überlebenskampf in seiner reinsten, unverfälschtesten Form gewesen. Die »modernen« Menschen hatten keine Ahnung, wie gut es ihnen ging.
»Wir hatten keine Schwerter, keine richtigen Metalle und keine Keramik. Unsere Schaufeln und Speere bestanden aus Stein, den wir mit den Händen bearbeitet haben, bis sie bluteten. Unsere Rüstungen waren aus Leder, aus den Häuten der Tiere gefertigt, die wir wegen ihres Fleischs jagten. Wir kochten und zerlegten sie eigenhändig. Wir hatten keine vernünftigen Herrscher oder Gesetze. Wenn man betrogen wurde, gab es niemanden, an den man sich wenden konnte, um Gerechtigkeit zu verlangen. Entweder man kümmerte sich selbst darum oder ließ es dabei bewenden.«
Seufzend dachte er an die Härten seines menschlichen Lebens zurück. »Es gab weder Polizei noch Richter oder Politiker. Stattdessen bestand die Gesellschaft aus zwei Schichten: den Bauern, die für ihren eigenen Lebensunterhalt aufkamen, und den Kriegern, die die Bauern vor denjenigen beschützten, die sie bestehlen und töten wollten. Mehr gab es nicht.«
»Auch keine Priester?«
»Wir hatten einen. Er war früher Bauer gewesen, hatte aber seine rechte Hand bei einem Brand verloren. Da er nicht mehr selbst für seinen Lebensunterhalt aufkommen konnte, hat er Zeichen gedeutet, und die Bauern haben ihm dafür zu essen gegeben.«
Danger versuchte sich die Welt vorzustellen, die er beschrieb. Und sie hatte ihr Leben ohne anständige Toilette als primitiv empfunden. Schlagartig erschien ihr die Welt des 18. Jahrhunderts, in dem sie gelebt hatte, modern, ja geradezu hightechmäßig.
»Meine Leute hätten sich eine Welt wie diese nicht einmal in ihren kühnsten Träumen vorstellen können«, fuhr Alexion fort. »Eine Welt, in der man so viel besitzen kann, ohne sich krumm zu arbeiten. Aber trotz allen Fortschritts sind die Menschen geblieben, wie sie waren. Sie bringen sich gegenseitig um, nur um noch mehr zu besitzen oder etwas zu beweisen, was nur der Mörder versteht. Sie quälen einander und machen sich das Leben wegen Dingen schwer, die in hundert Jahren keinerlei Rolle mehr spielen werden.«
Dangers Augen füllten sich mit Tränen, als die Worte eine Saite in ihrem Innern zum Schwingen brachten. »Wem sagen Sie das? Genauso wie überall auf der Welt sind auch in Frankreich die Reichen immer noch die Reichen. In meiner Heimat gibt es zahllose Menschen, die Hunger leiden, und nicht, weil sie freiwillig fasten oder unter Anorexie leiden. Sie können sich nichts zu essen leisten, während die Reichen ihr Geld für irgendwelchen Unsinn verschleudern. Meine gesamte Familie wurde getötet – ich eingeschlossen –, um ein besseres Frankreich zu erschaffen, wo niemand je wieder würde hungern müssen. Wann immer ich von hungernden Menschen in Paris höre, frage ich mich, wozu die Revolution gut gewesen sein soll. Letztlich hat sie nichts bewirkt, sondern nur Tausende von Menschen das Leben gekostet.«
»Chronia apostraph, anthrice mi achi.«
Sie runzelte die Stirn. »Was heißt das?«
»Das ist atlantäisch. Acheron sagt es oft. Grob übersetzt bedeutet es: Die Zeit schreitet voran, die Menschen bleiben, wie sie sind.«
Danger dachte darüber nach. Das Sprichwort hatte etwas sehr Wahres, und es klang typisch für Ash. »Können Sie sich die Welt vorstellen, wie sie zu seiner Zeit gewesen sein muss? So rückständig wie Ihre …«
»Seine Welt war extrem fortschrittlich«, unterbrach Alexion. »Die Atlantäer lebten definitiv nicht in der Steinzeit.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Die Welt, in die er hineingeboren wurde, war hoch entwickelt. Sie hatten allerlei Fahrzeuge, Medizin, Metallverarbeitung und noch viel mehr. Das Griechenland und das Atlantis, das er kannte, waren ihrer Zeit um Jahrtausende voraus.«
»Was ist passiert? Wie konnte all das verloren gehen?«
»Durch den Zorn einer Göttin, wenn man es auf den Punkt bringen will. Dass Atlantis in den Fluten unterging, war keine Naturkatastrophe, sondern geschah durch die Wut einer Frau, die sich an allen rächen wollte. Sie hat ihren eigenen Kontinent mit all seinen Bewohnern zerstört, ehe sie nach Griechenland ging, um sie alle ins Zeitalter der Dinosaurier zurückzuversetzen.«
»Aber warum?«
Er stieß erschöpft den Atem aus. »Sie haben ihr etwas weggenommen, was sie unbedingt zurückhaben wollte.«
Danger nickte, als der Groschen fiel. »Ihr Kind.«
Verblüfft starrte er sie an. »Woher wissen Sie das?«
»Ich bin eine Frau, und das ist so ziemlich der einzige Grund, der eine Frau dazu bringen könnte, ihr gesamtes Volk zu töten.«
Er schwieg. Der Verlauf ihrer Unterhaltung schien ihn zutiefst zu beunruhigen. Wüsste sie es nicht besser, hätte sie geschworen, dass er ihr etwas vorenthielt.
Bevor sie ihn danach fragen konnte, erstarrte er schlagartig.
»Was ist los?«
»Biegen Sie rechts ab.«
Sein Tonfall ließ keine Widerrede zu. Danger bog von der Creelman Street in die kleine Straße ab, die vor dem McCarthy Sportclub verlief und an mehreren Parkplätzen vorbeiführte.
»Anhalten!«
Kaum hatte sie gehorcht, ging der Motor ohne ihr Zutun aus. Alexion sprang aus dem Wagen und lief auf das Haus zu, dicht gefolgt von Danger.
Unmittelbar vor dem Sportclub holte sie ihn ein und verlangsamte ihre Schritte. Ihr Herz begann zu hämmern.
Kyros hatte sich über eine am Boden liegende Gestalt gebeugt, bei der es sich allem Anschein nach um Marco, einen Dark Hunter aus dem Baskenland, handelte.
»Was ist passiert, Kyros?«, fragte sie atemlos.
Sie wusste, dass Kyros Marco nicht getötet hatte. Kein Dark Hunter konnte einen anderen töten; und wann immer ein Dark Hunter einen anderen angriff und verletzte, musste er zehnmal mehr für das Blut und die Schmerzen büßen, die er dem anderen zugefügt hatte.
Hätte Kyros Marco getötet, wäre er längst tot.
Kyros drehte sich langsam zu ihr um. Er sah blass und zutiefst erschüttert aus. »Leg dich nicht mit mir an, Danger. Nicht heute Abend.«
»Kyros?«
Abrupt fuhr er zu Alexion herum. Wenn sein Gesicht bis zu diesem Moment blass gewesen war, wirkte es nun wie eine kalkweiße Wand. Er starrte Alexion an, als hätte er einen Geist vor sich, was ja auch der Wahrheit entsprach.
»Ias?«
Alexion ging langsam auf ihn zu. »Ich muss mit dir reden, Bruder.«
Sie sah, wie Kyros die Augen zusammenkniff, als sein Blick über Alexions weißen Mantel wanderte.
»Du?« Jenseits der abgrundtiefen Verachtung hörte Danger den Hauch einer Kränkung in seiner Stimme. »Du bist Acherons rechte Hand? Du bist derjenige, der seine Ultimaten verkündet?« Ungläubig schüttelte er den Kopf. »Das ist völlig unmöglich. Du bist tot. Du bist längst tot.«
»Nein«, sagte Alexion ruhig und trat einen weiteren Schritt vor. »Ich lebe.«
Kyros wich zurück. »Du bist ein Shade.«
Alexion streckte die Hand nach ihm aus. »Ich bin real. Nimm meine Hand, Bruder, und überzeug dich selbst.«
Mit angehaltenem Atem verfolgte Danger, was passierte – halb in der Erwartung, dass Kyros sich jede Sekunde auf Alexion stürzte.
Doch er tat es nicht.
Stattdessen streckte er ebenfalls die Hand aus, doch in der Sekunde, als er Alexions Finger berührte, wich er zurück.
Kyros wollte es nicht wahrhaben.
»Es ist okay«, beschwichtigte Alexion und trat einen weiteren Schritt auf den zornigen und sichtlich erschütterten Griechen zu.
»Fass mich nicht an!«, herrschte Kyros ihn an.
Alexion blieb stehen. Sie sah den Schmerz in seinen Augen, den die harten Worte verursacht hatten.
Kyros schüttelte noch immer den Kopf, als könne er nicht glauben, was er sah. »Das kannst nicht du sein. Du kannst nicht Acherons Zerstörer sein. Völlig ausgeschlossen.«
»Ich bin nicht sein Zerstörer. Ich bin hier, um dir zu helfen, keinen fatalen Fehler zu begehen. Was immer du tust – du darfst Stryker nicht trauen. Glaub mir, Kyros. Wir waren einst Brüder. Damals hast du mir vertraut.«
Kyros’ Augen begannen zu glühen. »Das ist neuntausend Jahre her. Damals waren wir noch Menschen.«
Alexion suchte nach den richtigen Worten, die seinen Freund bewegen könnten, ihm zu glauben. Doch er sah, dass es unmöglich war. Zu viel Zorn und Misstrauen herrschte zwischen ihnen. Es war, als suche Kyros förmlich nach einem Grund, ihn zu hassen.
»Kyros, ich bitte dich, vertrau mir.«
»Vergiss es.«
»Dann vertrau mir«, warf Danger ein und trat einen Schritt näher. »Du kennst mich seit fünf Jahren. Du hast mir ausreichend vertraut, um mir Stryker vorzustellen und ihn diesen Unsinn über Acheron verbreiten zu lassen.« Sie sah zu Alexion, der beklommen neben ihr stand. Er wollte seinen Freund retten, und sie wollte ihm unbedingt dabei helfen. »Ich glaube Alexion, Kyros. Voll und ganz. Stryker belügt uns. Er will dich tot sehen.«
Kyros starrte Alexion an. »Ich habe vor Kummer über deinen Tod beinahe den Verstand verloren. Wieso hast du mir nicht gesagt, dass du lebst und dass es dir gut geht? Wieso hat Acheron es nicht getan?«
»Weil ich nicht in dieser Welt leben kann«, antwortete Alexion im selben sachlichen Tonfall. »Was hätte es gebracht, es dir zu sagen?«
Seine Worte schienen Kyros’ Wut noch zu schüren. »Wir waren Brüder. Darum geht es hier. Deshalb warst du es mir schuldig, mir zu sagen, dass es dir gut geht.«
»Vielleicht war es ein Fehler, aber jetzt bin ich hier, um dich zu retten.«
»Blödsinn. Das ist nur ein Spielchen. Oder?« Kyros blickte gen Himmel, als halte er nach etwas Ausschau. »Siehst du das, Acheron? Ich scheiß auf dich, du verlogener Dreckskerl! Wie konntest du mir das verschweigen?«
Kyros wandte sich ab.
Alexion packte seinen Arm. »Was ist mit Marco geschehen?«
Kyros schob Alexion beiseite. »Was kümmert dich das? Du bist doch sowieso nur geschickt worden, um ihn zu töten.«
Das stimmte. Marco war dem Tode geweiht gewesen, weil er in der Nacht zuvor die College-Studentin getötet hatte. »Er hatte sich so weit von uns entfernt, dass es keine Rettung mehr für ihn gab. Aber du … Für dich ist immer noch Zeit. Ich kann dich retten, Kyros. Wenn du mich lässt. Sei kein Narr, adelfos.«
Kyros blickte ihn verächtlich an. »Ich will deine verdammte Hilfe nicht. Ich will überhaupt nichts von dir.«
Alexion hatte Mühe, seine Wut zu zügeln. Er musste kühlen Kopf bewahren, obwohl er Kyros am liebsten geschüttelt hätte, weil er so blind und dumm war. »Acheron ist kein Daimon.«
»Was dann?«
Alexion wandte den Blick ab. Er konnte diese Frage nicht beantworten. Trotzdem war er hin und her gerissen – ein Teil von ihm wollte Acheron verraten und seinem Freund die Wahrheit sagen, die er hören musste, wenn er sein Leben retten wollte.
Doch wenn er das tat …
Nein, er stand zu tief in Acherons Schuld, um sein Vertrauen zu missbrauchen.
»Er ist einer von euch«, sagte er stattdessen mit einer Ruhe, die er innerlich nicht empfand.
»Ja, ja«, ätzte Kyros. »Wieso kann ich dann nicht tagsüber rausgehen?«
Das war ein Argument. »Okay, du hast recht. Acheron ist ein klein wenig anders als ihr.«
»Ein klein wenig? Und was bist du?«
»Völlig anders.«
»Und ich bin völlig außer mir vor Wut.« Kyros schob sich an ihm vorbei und schlug den Weg zum Parkplatz ein.
Alexion schloss die Augen und überlegte fieberhaft, was er jetzt tun sollte. Was er sagen sollte.
Wie konnte er Kyros dazu bringen, ihm zu glauben?
In diesem Moment fiel ihm etwas ein. »Es war nicht deine Schuld, dass Liora mich getötet hat.«
Kyros blieb abrupt stehen. »Ich hätte dir sagen müssen, dass sie eine Hure ist«, sagte er, ohne sich umzudrehen.
Alexion registrierte dankbar, dass sein Tonfall mittlerweile fast normal war. »Ich hätte dir nicht geglaubt. Niemals. Ich hätte dich sogar dafür gehasst, wenn du versucht hättest, mich zu retten. Bitte, mach nicht denselben Fehler wie ich, Kyros.«
Er wandte sich um. »Keine Sorge«, sagte er und durchbohrte Alexion förmlich mit einem Blick aus seinen schwarzen Augen. »Das werde ich nicht tun. Dein Fehler war, dass du deinem Freund nicht geglaubt hättest, wenn er dir die Wahrheit gesagt hätte. Mein Fehler wäre, wenn ich jetzt auf meinen Freund hören würde … Andererseits bist du nicht mein Freund, oder? Mein Freund ist vor neuntausend Jahren gestorben, und wäre er am Leben, hätte er es mir gesagt und mich nicht jahrhundertelang mit meinen Schuldgefühlen weiterleben lassen.«
Damit wandte Kyros sich um und stapfte mit zornigen Schritten weiter in Richtung Parkplatz.
»Kyros …«
»Dialegomaiana o echeri«, sagte Kyros, ohne sich noch einmal umzudrehen.
»Was für eine Sprache ist das?«, fragte Danger.
»Unsere Muttersprache.«
»Und was hat er gesagt?«
Alexion stieß entnervt den Atem aus. »Er hat mich wissen lassen, dass es ihn nicht interessiert.«
Sie sah ebenso niedergeschlagen drein wie er. »Sollen wir ihm nachgehen?«
»Weshalb? Ich kann ihm die Vernunft nicht einprügeln, auch wenn ich es noch so gern tun würde. Es ist seine Entscheidung.«
Verdammt. Manchmal hasste er das Recht auf einen freien Willen aus tiefster Seele. Kein Wunder, dass Acheron ihn immer verfluchte. Sein Boss hatte völlig recht – freier Wille war Mist.
Sein Blick fiel auf Marco. Der arme, unselige Dark Hunter, in dessen Brust noch ein Messer steckte, das ihm jemand, aller Wahrscheinlichkeit nach ein Daimon, hineingerammt hatte. Alexion trat vor ihn und zog das Messer heraus. Natürlich hatte ihn nicht der Messerstich getötet. Sein Kopf lag wenige Meter neben ihm.
Danger trat hinter ihn und blickte auf den enthaupteten Leib hinunter. Er spürte ihren Ekel, doch sie riss sich zusammen und bemühte sich, kühl und professionell zu bleiben. »Sie glauben doch nicht, dass Kyros das getan hat, oder?«
»Er kann es nicht gewesen sein.«
»Wer dann?«
Die Stimme, die antwortete, drang aus den Schatten herüber. »Dein freundlicher Daimon von nebenan.«
Alexion lehnte sich ein Stück zurück, um hinter Danger blicken zu können.
Dort, in den Schatten, wartete eine Gruppe von sechs Daimons …