17
Sekunden später hatte er seine menschliche Gestalt zurückgewonnen und stand vor Danger, die ihn mit in die Hüfte gestemmten Händen erwartete.
Er betastete seine Brust, als könne er nicht glauben, dass er zurückgekehrt war.
»Und? Ist die Seele weg?«, fragte sie.
Er nickte langsam.
»Gut. Dann kannst du ja jetzt aufhören, dich wie der letzte Drecksack zu benehmen.« Sie wandte sich zum Gehen.
Noch immer fassungslos, dass er seinen Körper zurückgewonnen hatte, packte Alexion ihre Hand und zwang sie, stehen zu bleiben. »Woher wusstest du, was du tun musst?«
»Ich wusste es nicht. Das war reine Spekulation. Aber als ich unten mit Rafael telefoniert habe, kam mir ein Gedanke. Die oberste Dark-Hunter-Regel lautet, dass man den Wirt einer Seele töten muss, um sie zu befreien. Stryker meinte, du müsstest deinem Leben selbst ein Ende setzen und damit deinen endgültigen Tod heraufbeschwören, dabei hat er aber geflissentlich unterschlagen, was passiert, wenn jemand anderes dich ›tötet‹.«
Alexion war noch immer völlig verblüfft. Sie hatte recht. Wann immer ein Dark Hunter einen Daimon erstach und sein Körper in einer Wolke zerbarst, kehrte die gestohlene Seele an ihre letzte Ruhestätte zurück.
Sie stieß ein bitteres Lachen aus. »Ich bin strenge Katholikin. Und Unterlassungssünden beherrschte meine Mutter ganz besonders gut. Deshalb habe ich schon früh gelernt, auf das zu hören, was sie sagte, anstelle von dem, was bei mir ankam. Und am wichtigsten war es, genau auf das zu achten, was sie nicht sagte. Da Stryker dir die Seele eingepflanzt hat, während du zerborsten bist, war ich mir sicher, dass sie wieder befreit werden kann, indem dich jemand anderes ein zweites Mal zum Zerbersten bringt. Weshalb hätte er sonst behaupten sollen, dass du dich selbst mit einem Messer töten musst?«
Alexion war sprachlos vor Verblüffung. Ein Teil von ihm wäre ihr am liebsten an die Gurgel gesprungen, ein anderer hingegen war zutiefst beeindruckt von der Messerschärfe, mit der sie Strykers Logik analysiert hatte.
»Ich habe mich überhaupt nicht wie ein Drecksack benommen«, erklärte er trotzig.
Sie sah ihn nur vielsagend an. »Doch, hast du.«
»Nein«, widersprach er in aller Aufrichtigkeit. »Ich bin nur, was ich bin. Ich bin hergekommen, um …«
»Du, Alexion«, unterbrach sie ihn, »bist ein liebevoller Mann. Daran gibt es nicht den geringsten Zweifel.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich bin Alexion. Mein einziges Ziel ist, Acheron zu beschützen.«
Sie legte ihre Hand auf seine Wange. »Aber es war kein kaltes, gefühlloses Etwas, das gestern mit mir geschlafen hat, und auch kein gefühlloser, ›andersartiger‹ Mann, den Kyros’ Verrat zutiefst gekränkt hat. Du bist immer noch menschlich.«
»Nein«, widersprach er nachdrücklich. »Das bin ich nicht.«
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und zog seinen Kopf zu sich herab, um ihn küssen zu können. Seine eiskalte Haut wurde augenblicklich warm, als er seine Hände um ihr Gesicht legte und sein Mund ihre Lippen berührte.
Sie spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte, als seine Zunge in ihre Mundhöhle glitt.
Danger löste sich von ihm. »Du bist weder gefühllos noch lieblos. Und ich bezweifle auch, dass du es jemals gewesen bist.«
Alexion schwirrte der Kopf von ihren Worten und seiner Reaktion auf ihren Kuss. Sie hatte recht. In ihrer Gegenwart war er ein völlig anderer.
Aber wie war das möglich?
»Zwischen uns kann niemals etwas sein, Danger.«
»Ich weiß.« Er hörte den Schmerz in ihrer Stimme. »Ich bin erwachsen, Ias, und kann auf mich selbst aufpassen. Aber du … In meiner Gegenwart musst du mit dieser Vollstrecker-Nummer aufhören. Ich mag es nicht.«
Er runzelte die Stirn. »Wieso hast du mich gerade Ias genannt?«
»Weil Ias der Mann ist, der einen Dämon als seine Tochter betrachtet. Weil Ias der Mann ist, der mich heute Abend geweckt hat, indem er mit einer Rose meine Wange gestreichelt hat.«
»Aber ich bin auch Alexion.«
Sie schenkte ihm ein Lächeln, das all die Eisigkeit seines Daseins zum Schmelzen brachte. »Jeder von uns hat auch seine dunkle Seite. Du solltest dankbar sein, denn genau diese dunkle Seite hat mich veranlasst, dich niederzustechen.«
Er lachte, dann wurde er wieder ernst. »Ich weiß nicht, was ich empfinde, wenn ich in deiner Nähe bin.«
»Ja, ich bin auch völlig durcheinander. Ich kann nicht fassen, dass ich dir helfe, meine Freunde zu töten.«
»Ich will niemanden töten, Danger.«
»Nein? Was ist dann mit der Liste der hoffnungslosen Fälle, die du da gerade zusammengestellt hast?«
Er blickte zu der Liste auf dem Schreibtisch hinüber. »Das ist keine Namensliste, es sind nur ein paar Anweisungen für Keller, damit der Dämon ihn nicht frisst.«
Sie lachte. Typisch Alexion, an so etwas zu denken. »Ich hätte in der Schule Griechisch lernen sollen.«
Sie nahm seine Hand. »Also sind wir wieder Freunde?«
»Ja, ich denke schon.«
»Akri!«
Ash drehte sich im Bett um, als er Simi den Korridor vor seinem Zimmer entlangpoltern hörte. Augenblicke später platzte sie ins Zimmer und warf sich auf sein Bett.
Er keuchte, als sie geradewegs auf seine Brust sprang. »Ich schlafe, Simi.«
»Ich weiß, aber ich habe Alexion schon wieder rufen hören. Simi will gern zu ihm, akri. Lass mich doch gehen. Bitte, bitte.«
Ash spürte das vertraute krampfhafte Ziehen in der Magengegend. Es fiel ihm sehr schwer, ihr diesen Wunsch abzuschlagen. Aber er konnte es ihr nicht erlauben.
Die beiden letzten Male, als Simi allein losgezogen war, hatte es in einer Katastrophe geendet. In Alaska war sie beinahe umgekommen, und in New Orleans …
Noch heute konnte er nicht daran denken, ohne dass blanke Wut in ihm aufstieg.
»Das geht nicht, Simi.«
»Aber wieso nicht?«
Er seufzte tief. »Ich kann sein Schicksal nicht beeinflussen. Das weißt du ganz genau. Er erfüllt seine Aufgabe, und wenn ich ihm antworte, werde ich höchstwahrscheinlich bloß tun, worum er mich bittet. Deshalb habe ich zu unser aller Wohl seine Stimme in meinem Kopf ausgeschaltet und kann dir nur raten, dasselbe zu tun.«
Schmollend zog sie die sfora aus ihrer pinkfarbenen sargförmigen Handtasche. »Dann mach wenigstens, dass dieses Ding funktioniert, damit ich ihn sehen kann.«
»Nein.«
Sie grollte. »Aber was, wenn er verletzt wird? Wenn er stirbt?« Sie wurde bleich. »Du kannst ihn nicht sterben lassen, akri. Simi hat Alexion so lieb.«
Er hob die Hand und strich ihr das lange schwarze Haar aus dem Gesicht. »Ich weiß, edera«, sagte er – das atlantäische Wort für »mein süßer Schatz«. »Aber sein Schicksal liegt jetzt in seinen Händen, nicht in meinen. Ich werde es nicht verändern.«
Sie schmollte noch mehr. »Du kontrollierst das Schicksal. Jedes Schicksal. Du kannst machen, dass alles wieder gut wird. Bitte tu es für Simi, ja?«
Das war leichter gesagt als getan. Er war das lebende Beispiel für die Katastrophe, die genau dann passierte, wenn jemand versuchte, das Schicksal eines anderen zu manipulieren. Sein ganzes Leben, sowohl als Mann als auch als Gott, war zerstört worden, nur weil andere versucht hatten, sein Schicksal zu beeinflussen. Er würde so etwas niemals wieder bei jemand anderem tun. »Simi, das ist nicht fair, und das weißt du ganz genau.«
»Aber es ist auch nicht fair, dass ich Alexion in meinem Kopf höre und ihm nicht helfen kann. Er klingt nicht gut, akri. Ich glaube, die Leute dort sind gemein zu ihm. Lass Simi gehen und sie aufessen.«
Ash schloss die Augen und versuchte Alexions Zukunft zu sehen, um Simi beruhigen zu können.
Doch da war nichts als undurchdringliche Schwärze. Verdammt. Er hasste es, dass er die Zukunft derer, die ihm am nächsten standen, ebenso wenig sehen konnte wie seine eigene.
Er überlegte, Atropos zu rufen, die griechische Schicksalsgöttin, die mit der Durchtrennung des Lebensfadens betraut war. Sie würde ihm sagen können, ob Alexion sterben würde. Doch er verwarf den Gedanken wieder. Sie hasste ihn aus tiefster Seele.
Keine der griechischen Schicksalsgöttinnen würde ihm je die Zukunft vorhersagen. Sie hatten sich schon vor Jahrhunderten von ihm abgewandt. Für sie war er längst tot und vergessen.
»Wir werden abwarten müssen, was passiert.«
Schaubend stand Simi auf, ging zur Tür hinaus und schlug sie krachend hinter sich zu.
Ash massierte sich die Schläfen, als der Lärm von den Wänden widerhallte. Da er emotional nicht an die Dark Hunter in Mississippi gebunden war, wusste er, wer von ihnen sterben und wer am Leben bleiben würde – ein Wissen, das ihn mit großer Traurigkeit erfüllte. Er konnte nur inbrünstig hoffen, dass es Alexion gelang, sie rechtzeitig zur Umkehr zu bewegen und sie vor diesem Schicksal zu retten.
Nur mithilfe ihres freien Willens würde es ihnen gelingen, dem zu entgehen, was ihnen bevorstand.
Aus diesem Grund hatte er Alexion zu Danger geschickt. Schon seit der Zeit ihrer Ausbildung hatte er eine Schwäche für sie. Die zierliche Französin verbarg ihr weiches Herz unter einer tödlich giftigen Schale, um sich andere vom Leib zu halten, doch er wusste, was sie vor ihnen verbarg. Sie war eine anständige Frau, die von anderen aufs Übelste verraten worden war. Sie tot zu sehen, war das Letzte, was er wollte. Und doch war ihm klar, wie sinnlos sein Wunsch nach dem war, was hätte sein können.
Dangers Tage waren gezählt, und wenn nicht gerade ein Wunder passierte, gab es nichts und niemanden, der sie retten konnte.