22

Danger blieb vor dem Haus stehen, in dem sich die Dark Hunter versammelten. Nach den Autos auf dem Parkplatz zu schließen, deren Wert etwa dem Bruttoinlandseinkommen eines Kleinstaats entsprach, waren sie bereits eingetroffen, und trotzdem …

»Ich spüre nicht, wie meine Kräfte nachlassen«, sagte sie zu Alexion. »Wie ist das möglich?«

»Das ist ein Trick. Irgendwie schafft Stryker es offenbar, es zu verbergen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Vielleicht kennt er eine Methode, um zu verhindern, dass wir uns gegenseitig die Kräfte wegnehmen.«

Der Ausdruck auf seinem Gesicht jagte ihr einen Schauder über den Rücken. »Vertrau mir, Danger«, sagte er und blieb stehen, um sie anzusehen. »So eine Methode gibt es nicht. Stryker wäre niemals fähig, die Fähigkeit dafür zu entwickeln. Es gibt nur eine Möglichkeit, wie so etwas passieren könnte – wenn Acheron hier wäre. Und da er es nicht ist … ist es völlig ausgeschlossen. Die Götter würden es niemals erlauben.«

Sie war sich da nicht so sicher, trotzdem glaubte sie ihm. Wenn jemand die Wahrheit kannte, dann war es Alexion.

Als sie auf die Eingangstür zugingen, rechnete Danger beinahe damit, dass jemand vortrat, um sie aufzuhalten. Doch es gab keine Wachen, keine Squires …

Nichts.

Das Gebäude stand bereits seit Jahren leer und war folglich alles andere als sauber und einladend. Überall hingen Spinnweben von den Wänden, und der Fußboden war von Dingen übersät, über die sie lieber nicht genauer nachdenken wollte. In der Luft hing ein schaler, leicht säuerlicher Gestank, so dass sie lieber durch den Mund atmete.

Merkwürdig war, dass die Lichter brannten.

Andererseits war Stryker ein Gott …

»Woher kommt dieses Licht da oben?«, fragte sie Alexion.

»Keine Ahnung. Vielleicht haben sie einen Generator angeschlossen, oder Stryker hat seine Kräfte eingesetzt.«

Sie gingen die Treppe im hinteren Teil des Gebäudes hinauf. Stimmengewirr drang an ihre Ohren, doch es war zu leise, um die Worte ausmachen zu können.

Danger fragte sich, welche Lügen Kyros und Stryker den anderen gerade auftischen mochten.

Und wie viele der Dark Hunter kauften sie ihnen ab?

Als sie vor die Tür am Ende des Korridors traten, hielt sie Alexion an, um einen Augenblick lang zu horchen, was drinnen gesprochen wurde. Sie spürte bereits, dass ihre Kräfte leicht zu schwinden begannen, doch nicht sehr stark.

»Wie sollen wir Acheron besiegen?«

Beim Klang von Squids Stimme zuckte Danger zusammen. Dieser miese kleine Dreckskerl. Doch sie hatte es ohnehin geahnt. Er hasste Acheron aus tiefster Seele.

Als sie aufsah, bemerkte sie den eisigen, entschlossenen Ausdruck auf Alexions Zügen.

»Er ist ein Daimon«, hörten sie Stryker sagen. »Ihr tötet ihn genauso wie jeden anderen von unseren Leuten.«

Als Nächstes ergriff Kyros das Wort. »Seid ihr auf unserer Seite, Brüder und Schwestern?«, rief er laut.

Danger zuckte zusammen, als die Anwesenden ihre Zustimmung kundtaten.

Alexion zog sie zurück. »Ab jetzt übernehme ich.« Er küsste sie flüchtig auf den Mund, ehe er die Hand ausstreckte und mit einer raschen, abrupten Bewegung die Stahltür aus den Angeln hob.

Selbstbewusst betrat Alexion den Raum, obwohl er wusste, dass Stryker durchaus über die Macht verfügte, ihn zu töten. Sollte es der elende Dreckskerl doch versuchen. Falls ja, war er auf einen erbitterten Kampf vorbereitet.

Es war höchste Zeit, endlich seine Mission zu erfüllen.

Zwanzig Dark Hunter hatten sich im Raum eingefunden – achtzehn Männer und zwei Frauen, gemeinsam mit einem runden Dutzend Daimons. Es war gut, dass das Blut der Dark Hunter für die Daimons giftig war, sonst hätten sie sich garantiert sofort auf die Dummköpfe gestürzt, die sich hier eingefunden hatten wie blinde Schafe, die sich zur Schlachtbank führen ließen.

Doch Alexions Blick richtete sich zuerst auf Kyros, der mit einem Ausdruck blanken Hasses in den Augen vor die Gruppe getreten war.

Seufzend schüttelte Alexion den Kopf. »Was für Dummköpfe Unsterbliche doch sein können«, meinte er. »Auf einen Daimon zu hören und Opfer seiner Lügen zu werden.«

»Zu Opfern sind wir bereits vor Jahrhunderten geworden«, knurrte Squid. »Kein Einziger hier kann von sich sagen, er sei nicht von Acheron benutzt worden.«

Alexion hatte nur Mitleid für ihn übrig. »Ich bin nicht hergekommen, um mich noch länger mit euch herumzustreiten, sondern um euch eine letzte Chance zu geben, euch selbst zu retten. Diejenigen, die die morgige Nacht noch erleben wollen, treten jetzt auf die rechte Seite. Die anderen, die Stryker diesen Unsinn abkaufen und heute sterben wollen, bleiben, wo sie sind.«

»Habt keine Angst vor ihm«, schaltete sich Stryker ein. »Was soll ein einzelner Mann euch schon anhaben können?«

Alexion verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. »Wenn ich so harmlos bin, Stryker, wieso hast du mich dann nicht längst getötet?«

Er ließ den Blick über die Dark Hunter schweifen. »Werft euer Leben nicht so sinnlos weg. Ihr alle habt viel zu viel hinter euch, um so verdammt dämlich zu sein.«

Er hielt inne und sah Kyros an. »Und dich, adelfos, habe ich auf meinem Rücken getragen, als du verwundet warst. Ich habe mein Brot mit dir geteilt, als ich den letzten Bissen in der Hand hielt. Sieh mich an und sag mir ins Gesicht, dass du das Wort eines Daimons über meines stellst.«

Kyros sah Stryker an, der höhnisch applaudierte. »Tolle Ansprache. Musstest du lange dafür üben?«

Alexion hob die Hand und schleuderte Stryker rückwärts an die Wand. »Entscheidet euch, Dark Hunter! Jetzt!«

Die Daimons stürzten sich auf ihn und wurden von der unsichtbaren Wand, die er um sich errichtet hatte, zurückgeworfen. Dennoch versuchten sie es weiter, als versuchten sie, eine Lücke in seiner Verteidigung zu finden.

Er sah zu, wie die Dark Hunter nervöse Blicke tauschten, ehe zu seiner Erleichterung sechzehn von ihnen auf die rechte Seite des Raums traten.

Sekunden später registrierte er tiefe Verwirrung auf ihren Gesichtern.

»Was zum Teufel ist hier los?«, rief Eleanore, eine der beiden weiblichen Dark Hunter. »Ich fühle mich auf einmal so schwach.«

Zweifellos spürten sie erst jetzt, da sie sich nicht länger unter Strykers Einfluss befanden, wie ihre Kräfte von Sekunde zu Sekunde schwanden.

Kyros trat einen Schritt vor, blieb jedoch stehen, als Stryker Alexions Schutzwall durchbrach und zu einem Schlag ausholte, dessen Wucht ihn nach hinten warf.

Alexion sog scharf den Atem ein, als ihn der Schmerz durchfuhr. Wieder und wieder schlug Stryker auf ihn ein. Der Schmerz war unerträglich. Er versuchte sich hochzustemmen, als Danger ihm zu Hilfe eilte.

Eine düstere Vorahnung beschlich ihn. »Los, ihr müsst verschwinden, du und die anderen Dark Hunter«, stieß er hervor.

Ehe sie etwas erwidern konnte, griff Stryker auch sie an.

Mit einem Fluch wandte sich Alexion dem Halbgott zu und schoss erbittert zurück.

»Spathis!«, rief Stryker und tauchte unter Alexions Schlag hindurch. »Tötet die Dark Hunter! Alle!«

Die Daimons griffen alle gleichzeitig an. Danger zog das Messer aus ihrem Stiefel und stürzte sich ins Gefecht.

»Zurück, Danger!«, rief Alexion und versuchte, die Daimons mithilfe seiner Kräfte zu zerschmettern, doch es gelang ihm nicht.

Stryker lachte. »Sie sind stärker als du, Alexion. Wir sind nicht die jämmerlichen Schwächlinge, mit denen du es sonst zu tun hast.«

Alexion kniff die Augen zusammen. »Xirena, nimm Gestalt an!«

Der Dämon löste sich von seiner Brust und materialisierte sich in Sekundenbruchteilen.

Danger lächelte über das Ass, das er aus dem Ärmel gezogen hatte. Gegen Xirena hatten die Daimons keine Chance.

»Du hinterhältiges Miststück!«, blaffte Stryker den Dämon mit einem boshaften Grinsen an.

Xirena flog auf ihn zu, doch Stryker holte aus und hieb mit seinem Dolch nach ihren Flügeln. Der Dämon stieß ein lautes Kreischen aus und stürzte zu Boden, wo er liegen blieb, unfähig, sich zu erheben, während Stryker erbarmungslos weiter auf ihn einhieb. Verzweifelt versuchte Xirena fortzukriechen, bevor er sie tötete.

Danger lief zu ihr, um ihr zu helfen.

Alexions Herzschlag setzte aus, als er sah, was Stryker in der Hand hielt – den atlantäischen Dolch, die einzige Waffe, mit der sich sogar Charontes töten ließen. Doch viel wichtiger war, dass er selbst Dangers Existenz damit ein Ende setzen konnte.

Verdammt! Seine Kräfte waren groß genug, um von hier zu verschwinden, aber nur mit einer von ihnen. Er musste sich zwischen Danger und dem Dämon entscheiden …

Doch er konnte unmöglich die Dark Hunter im Stich lassen, deren Kräfte mit jeder Sekunde weiter schwanden und die den Daimons schon bald kaum noch Widerstand entgegensetzen konnten.

»Was ist hier los?«, fragte Squid nur einen Wimpernschlag später, bevor ihn einer der Daimons tötete.

»Lauft!«, schrie Kyros den anderen zu. »Sie haben uns geschwächt, damit sie uns töten können.«

»Danger«, sagte Alexion und trat schützend vor den Dämon, »nimm Xirena und bring sie raus.«

Gerade als sie sich in Bewegung setzte, zog Stryker ein rotes Medaillon hervor. »Wenn du den Dämon anfasst, werde ich deine Seele zerstören.«

Alle Anwesenden erstarrten. Alexion sah das Entsetzen auf den Gesichtern der Dark Hunter, die erst jetzt bemerkten, was Stryker in der Hand hielt. Wenn Dangers Seele zerstört wäre, bliebe ihr der Weg in die Freiheit für immer verwehrt.

Mehr noch – sie würde zwangsläufig zum Shade werden.

Mit erschütterter Miene hielt Danger Xirena in den Armen.

Alexion registrierte Strykers Drohung mit Erstaunen. Der Anflug von Panik, den er bei seinen Worten verspürt hatte, verebbte, als ihm etwas bewusst wurde. »Nimm Xirena und lauf, Danger. Das ist nicht deine Seele, die er da in der Hand hat.«

Stryker lachte und warf Danger einen mitleidigen Blick zu. »Wie herrlich. Dein Liebhaber denkt, er könnte mich zwingen, Farbe zu bekennen. Er glaubt, ich bluffe nur.«

»Das ist kein Bluff«, erklärte Alexion und musterte den Daimon eisig. »Ich weiß nicht, was du da in der Hand hast, ihre Seele ist es jedenfalls nicht.«

Strykers Blick war kalt und unheilvoll, und hätte er tatsächlich Dangers Seele in Händen gehalten, hätte Alexion es vielleicht mit der Angst bekommen. »Willst du es darauf ankommen lassen?«

Alexion zuckte mit keiner Wimper. »Ja.«

»Alexion!«, rief Danger verängstigt. »Wenn es tatsächlich meine Seele ist …«

»Sie ist es nicht«, unterbrach er. »Vertrau mir. Artemis lässt eure Seelen nicht aus den Augen, und es gibt nur einen Mann, der sie ihr nehmen könnte. Du kannst dein Leben, deine ousia und alles andere, was du besitzt, darauf verwetten, dass Stryker nicht dieser Mann ist.«

»Bist du dir da so sicher?«, höhnte Stryker und ließ das Medaillon in der Luft baumeln, ehe er die Finger darum schloss. »Immerhin ist Artemis meine Tante.«

Alexion schnaubte verächtlich. »Ja, und sie hasst dich aus tiefstem Herzen. Du hast nur eine Möglichkeit, an eine der Seelen heranzukommen – indem Acheron sie dir gibt, und wir beide wissen, wie die Chancen stehen, dass es jemals dazu kommt.«

Fluchend schleuderte Stryker das Medaillon zu Boden und zertrat es mit seinem Stiefelabsatz.

Danger zuckte zusammen, bis sie spürte, dass sich nichts verändert hatte.

Sie betastete ihre Brust. Nur zur Sicherheit …

Nein, alles bestens. Sie atmete erleichtert auf und wandte sich an Xirena, die noch immer ihre Hände auf die Wunde in ihrer Brust presste.

»Tötet sie alle, habe ich gesagt«, befahl Stryker seinen Daimons.

Danger stellte sich schützend vor Xirena, doch als die Daimons zum neuerlichen Angriff ansetzten, erkannte sie entsetzt, dass sie nicht länger über das volle Ausmaß ihrer Kräfte verfügte.

Mit jedem Schlag und Hieb schienen sie weiter zu schwinden.

Der Daimon, gegen den sie sich zur Wehr setzte, verpasste ihr einen heftigen Schlag, der sie nach hinten taumeln ließ. Sie schlug so hart auf dem Boden auf, dass sämtliche Luft aus der Lunge gepresst wurde. Sie rollte sich auf die Seite und landete geradewegs vor den Füßen eines anderen Daimons, der lachend sein Schwert zückte, um sie zu enthaupten.

Gerade als sie sicher war, dem Tod nicht entrinnen zu können, wurde der Daimon nach hinten gerissen. Sie hob den Kopf in der Erwartung, Alexion über sich zu sehen.

Doch stattdessen blickte sie in Kyros’ Gesicht.

Er hatte den Daimon getötet und hielt ihr die Hand hin. »Ich war ein Narr«, sagte er und zog sie auf die Füße. »Es tut mir leid.«

»Ich bin nicht diejenige, bei der du dich entschuldigen musst.«

Er sah zu Alexion hinüber, der in einen erbitterten Kampf mit Stryker verwickelt war. »Ich weiß.« Er schob sie zur Tür. »Los, wir müssen die anderen Dark Hunter hier rausschaffen, bevor es zu spät ist.«

Ehe sie etwas erwidern konnte, beugte er sich vor und hob Xirena hoch.

Alexion hielt inne, als er Kyros und Danger sah, die die anderen in Sicherheit brachten. Sie hatte also recht gehabt – am Ende hatte er sich auf die richtige Seite geschlagen. Gott, er schuldete dieser Frau mehr, als er ihr jemals würde zurückgeben können.

Er ließ den Blick über die Dark Hunter schweifen und stellte fest, dass bislang nur drei von ihnen den Daimons zum Opfer gefallen waren – all jene, die nicht auf die rechte Seite getreten waren und sich damit von Stryker distanziert hatten.

Kyros und Danger hielten die Daimons in Schach, während die anderen so schnell wie möglich den Raum verließen.

Um Zeit zu gewinnen, stürzte er sich erneut auf Stryker. Der Daimon fuhr herum. »Du kannst mich nicht aufhalten«, verkündete er drohend.

Und damit schleuderte er den Dolch in Dangers Richtung.

Alexion hob die Hand, um ihn von seiner Flugbahn abzulenken, doch statt wie erwartet in seine Hand zu fliegen, schoss die Waffe ungehindert weiter.

Gerade als er den Dolch packen wollte, versetzte ihm einer der Daimons einen Hieb gegen die Brust, der ihn taumeln ließ. Er fing sich sofort wieder, doch bevor er danach greifen konnte, flog der Dolch zu Stryker zurück, der ihn ohne zu zögern wieder fortschleuderte.

Er traf Danger mitten in die Brust.

Alexion stockte der Atem, als er sah, wie die Wucht des Aufpralls sie von den Füßen riss und zu Boden schleuderte.

Kyros stieß einen Fluch aus und lief zu ihr.

Nein!, schrie Alexion lautlos.

Das durfte nicht sein …

»Du hättest zur Seite gehen sollen«, stieß Stryker zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, während der Dolch in seine ausgestreckte Hand zurückgeflogen kam. »Aber das ist schon in Ordnung. Immer schön aufs Herz zielen – das ist ja bekanntermaßen die beste Methode, jemanden zu töten. Sie stirbt deinetwegen, und du stirbst wegen Acheron.«

Der Daimon schleuderte den Dolch in seine Richtung.

Ins Herz …

Bruchteile von Sekunden, ehe sich der Dolch in seine Brust bohrte, fing Alexion ihn mit der Hand auf. Und in diesem Moment begriff er, was ihm die fremde Frauenstimme die ganze Zeit über zu sagen versucht hatte. Er spürte, wie seine Kräfte zurückkehrten.

Er wirbelte zu Stryker herum. »Du willst ein Herz, Stryker? Dann werde ich dir deines geben …« Er hielt einen Moment inne. »Urian!«, rief er in der Gewissheit, dass seine Augen leuchtend grün strahlten.

»Wage es nicht, den Namen meines Sohnes in den Mund …« Stryker brach ab, als die Luft um sie herum in Bewegung geriet.

Sekunden später stand Urian vor ihnen – hochgewachsen und blond und seinem Vater frappierend ähnlich, bis auf die Tatsache, dass Stryker sein Haar schwarz färbte, während Urians weißblond war. Wie gewohnt trug er es lang und zu einem Zopf, der im Nacken von einem schwarzen Lederband gehalten wurde.

Urian schien alles andere als begeistert zu sein, dass man ihn gerufen hatte, doch als er den Blick durch den Raum und über die Daimons schweifen ließ, die ihn ungläubig anstarrten, fiel ihm die Kinnlade herunter.

»Tolle Methode, mich inkognito zu halten, Lex«, bemerkte Urian. In diesem Moment fiel sein Blick auf seinen Vater.

Seine Augen wurden schmal vor Hass.

»Urian?« Stryker hauchte den Namen wie ein heiliges Gebet.

»Du elender Dreckskerl!«, stieß Urian hervor.

»Töte ihn«, rief einer der Daimons.

»Nein«, erklärte Stryker. »Er ist mein Sohn.«

Urian schüttelte den Kopf. »Nein, alter Mann. Ich bin dein Feind.« Urian riss Alexion den Dolch aus der Hand und stürzte sich auf seinen Vater, während Alexion zu Danger lief.

»Zurück!«, befahl Stryker seinen Daimons genau in dem Augenblick, als sich fünf Blitzlöcher auftaten.

Stryker zögerte einen Moment und blickte Urian ein letztes Mal an, ehe er hochsprang und von den Löchern verschlungen wurde.

Zutiefst erschüttert schloss Alexion Danger in die Arme, während Xirena ihnen zusah. Alexion presste ein Tuch auf die Wunde in Dangers Brust, um den Blutstrom zu stoppen.

Der Dämon war ebenfalls verwundet, doch nicht tödlich. Zum Glück war es Stryker nicht gelungen, Xirena den Dolch ins Herz zu rammen.

Urian wandte sich Alexion zu. »Was zum Teufel sollte das, Shade? Dass ich lebe, sollte ein Geheimnis bleiben.«

»Halt die Klappe, Urian«, knurrte Alexion mit Danger in den Armen und kämpfte gegen seine Tränen an, die ihn blind machten. Gegen den Schmerz, der ihn zu überwältigen drohte.

Sein gesamtes Sein schrie vor Schmerz und weigerte sich zu glauben, was mit Danger geschehen war.

»Komm schon, Baby«, flüsterte er und wiegte sie behutsam in den Armen. »Bitte, stirb nicht.«

»Es sollte doch heilen«, wisperte Danger mit einer Stimme, die ihre Schmerzen Lügen strafte. »Wieso heilt sie nicht?«

»Es tut mir leid, akri«, flüsterte Xirena. »Xirena wollte nicht niedergestochen werden und deine Frau sterben lassen.«

Urian, der zu ihnen trat, wurde beim Anblick der schweren Wunde blass. »Hat Stryker sie mit seinem eigenen Dolch erwischt?«

»Ja«, antwortete Alexion und registrierte die Qual hinter Urians Fassade. Zweifellos durchlebte er noch einmal den Tod seiner eigenen geliebten Frau durch Strykers Hand.

»Gibt es irgendeine Möglichkeit, sie zu retten?«, fragte er den Daimon.

»Acheron!«, rief Urian.

Alexion erstarrte, wohl wissend, dass Acheron nicht auf den Hilferuf reagieren würde. Er kannte die Regeln seiner Mission nur zu gut. Acheron würde sich auf keinen Fall einmischen.

Danger würde sterben.

Der Schmerz schnürte ihm die Luft ab und grub sich tief in sein Herz.

Tränen schossen ihm in die Augen.

»Ich wünschte, er hätte deine Seele gehabt«, flüsterte Alexion und schmiegte seine Wange an ihre. »Dann hätte ich dich wenigstens zur Sterblichen machen können.«

»Kannst du nicht Acherons Kräfte nutzen, um die Wunde heilen zu lassen?«, fragte Urian.

Alexion schüttelte den Kopf. Die Macht über Leben und Tod teilte Acheron nicht mit ihm.

Kyros fiel neben ihnen auf die Knie. »Es tut mir so leid, Danger. Keinem der Dark Hunter hätte heute Abend etwas passieren dürfen. Verdammt, das ist alles meine Schuld.«

Alexion starrte ihn finster an. Wut auf Kyros und seine Dummheit wallte in ihm auf. Am liebsten hätte er sich auf seinen so genannten Freund gestürzt und ihn getötet. »Begreifst du es endlich? Du warst derjenige, der alle gegen Acheron aufgehetzt hat!«

»Ich weiß«, erwiderte Kyros bedrückt. »Ich habe einen riesigen Fehler begangen. Es tut mir unendlich leid. Strykers Argumente klangen so überzeugend. Zuerst hat er Marco auf seine Seite gebracht, und ehe ich michs versah, war Marco tot. Stryker schwor Stein und Bein, dass du ihn ermordet hättest. Ich hätte niemals auf ihn hören dürfen.«

Doch Alexion hörte ihm nicht zu, sondern lauschte Dangers Atemzügen, die immer flacher wurden.

Sie streckte den Arm aus und legte ihr kalte Hand auf Alexions Wange. »Sollte irgendetwas von mir übrig bleiben, bringst du die Überreste nach Frankreich? In Paris gibt es ein Massengrab …«

»Ich kenne den Park«, unterbrach Alexion. Dort lagen alle Menschen begraben, die durch die Guillotine gestorben waren.

Danger holte tief Luft. »Mein Vater, seine Frau und meine Geschwister liegen dort. Wenn ich nicht bei dir sein kann, will ich zu ihnen.«

Alexion nickte, während ihm die Tränen die Luft abschnürten. »Ich verspreche es, Danger. Ich werde dich nicht alleinlassen.«

Der Anflug eines Lächelns erschien auf ihren Zügen. »Wir hatten unseren Spaß, nicht, mon cœur?« Sie strich mit dem Daumen über seine Wange. »Du wirst mir so fehlen.«

Und dann spürte er ihn – den letzten Atemzug, der ihrem Körper entwich.

Sie erschlaffte in seinen Armen, und ihre Hand fiel herab.

Alexion warf den Kopf in den Nacken und stieß ein unmenschliches Heulen aus, während der Schmerz ihn zu verschlingen drohte. In diesem Moment hasste er Acheron. Er hasste Kyros. Er hasste Stryker, doch am allermeisten hasste er sich selbst, weil es ihm nicht gelungen war, sie zu beschützen.

Xirena und Kyros, beide kreidebleich, wichen erschrocken zurück. Doch Alexion kümmerte es nicht. Nichts war noch wichtig für ihn, nur die Frau, die schlaff in seinen Armen lag.

Eine Frau, deren Vitalität ihm gezeigt hatte, wie man lebte. Mehr noch – sie hatte ihm gezeigt, wie man liebte. Sie hatte sein Herz berührt und zum ersten Mal seit neuntausend Jahren schlagen lassen.

Und nun war sie fort.

Und sein Herz würde nie wieder schlagen.

Nein!, schrie sein Herz. Sie durfte nicht sterben. Nicht auf diese Weise. Nicht eine Frau mit einer solchen Lebenslust. Eine Frau, die ihr Leben damit zugebracht hatte, anderen zu helfen.

Sie hatte ihm geglaubt, und er hatte sie sterben lassen …

Ruhelos ging Urian auf und ab – zwischen Kyros und Xirena, zwischen Danger und Alexion. »Ich kann nicht glauben, dass Ash sie einfach sterben lässt«, knurrte er und blickte gen Himmel. »Du bist ein beschissenes Arschloch!«

»Nein«, widersprach Alexion, noch immer mit tränennassem Gesicht, während er ihren kalten, bleichen Leib an sich gepresst hielt. »Es muss so sein. Er kann das Schicksal nicht verändern.«

»Einen Scheißdreck kann er«, blaffte Urian zornig zurück. »Er hat mich zurückgeholt, obwohl ich ein Daimon war. Weshalb sollte er mich retten und sie nicht?«

Alexion wusste keine Antwort auf die Frage. Er hatte keine Antworten, nicht in diesem Moment. Zu groß war der Schmerz über ihren Verlust, der sich anfühlte, als wolle er ihn verschlingen.

Wie konnte sie nur tot sein?

Wie hatte er so etwas zulassen können? Ich will verdammt sein, verdammt, verdammt, verdammt!

»Es tut mir leid, dass ich dich im Stich gelassen habe, akri«, sagte Xirena.

Alexion sagte nichts darauf. Er brachte kein Wort heraus.

Mit einem Mal flammte ein gleißend heller Blitz auf.

Bruchteile von Sekunden später stand Acheron vor ihnen und musterte sie ruhig.

Urian fuhr aufgebracht zu ihm herum.

»Denk nicht mal dran, Daimon«, warnte Acheron und verbannte ihn aus dem Raum, noch bevor ein Laut über seine Lippen gekommen war.

»Kyros«, sagte Acheron leise. »Geh nach Hause, und ruh dich aus.«

Dann war auch er verschwunden.

Acheron zögerte kurz, als der Dämon ihn anstarrte, als wäre er ein Geist.

Xirena war leichenblass vor Angst. »Wirst du Xirena jetzt töten?«

»Nein.« Acheron kniete sich neben sie und heilte ihre Wunden. »Kehre für eine Weile zu deinem Meister zurück. Und schon bald wirst du deine Schwester sehen.«

Der Dämon nickte, schlüpfte unter Alexions Ärmel und legte sich auf seine Brust.

Alexion hatte sich nicht vom Fleck gerührt, sondern kauerte noch immer mit der leblosen Danger in seinen Armen auf dem Boden.

Acheron sah auf die beiden hinab. »Wieso stellst du meine Entscheidung nicht infrage?«

Alexion schluckte gegen den bitteren Kloß in seiner Kehle an, der ihm förmlich die Luft abschnürte. »Weil ich genau weiß, dass es nichts bringt.« Er sah zu Acheron auf und sah die Aufrichtigkeit in seinen silbrig schillernden Augen. »Aber in diesem Moment hasse ich dich.«

»Ich weiß.«

Und dann geschah es …

Dangers Körper stob in einer kleinen goldenen Wolke auf.

Wieder stieß Alexion einen Schrei aus, als ihm bewusst wurde, dass er sie endgültig verloren hatte. »Nein!«, stieß er hervor und versuchte, die Staubwolke mit den Händen einzufangen, um irgendetwas zu haben, was er nach Paris bringen konnte, wie er es ihr versprochen hatte.

»Nicht«, sagte Acheron und streckte sanft die Hand nach ihm aus.

Alexion stieß ihn beiseite. »Geh zum Teufel, du elender Dreckskerl! Ich habe es ihr versprochen. Ich habe versprochen …«

Schluchzend schlug er sich die Hände vors Gesicht, als ihm klar wurde, dass es keine Hoffnung mehr gab. »Es ist nichts von ihr übrig, was ich begraben könnte. Absolut nichts.«

O Gott, wie sollte er nach alldem weiterleben? Wie? Es war nicht richtig, nicht fair.

»Wir müssen jetzt gehen, Alexion.«

Er nickte, obwohl er sich am liebsten auf Acheron gestürzt und ihn getötet hätte. Er wusste, dass es nicht Acherons Schuld war, aber das war ihm egal. Er sehnte sich danach, jemanden zu verprügeln. Irgendetwas, egal was, zu tun, nur um diesen tiefen Schmerz zu lindern, das riesige Loch zu schließen, das schmerzhaft in ihm klaffte.

Es gab nichts mehr, weswegen es zu bleiben lohnte.

Danger war fort …

Er war am Boden zerstört. In diesem Moment begann sich sein Körper aufzulösen, um den Weg von der hiesigen Welt nach Katoteros anzutreten. Kurz darauf befand er sich im Thronzimmer, wo Simi ihn bereits erwartete.

»Alexion!«, rief sie und stürzte sich begeistert in seine Arme. »Du bist wieder da!«

Sie löste sich von ihm und musterte ihn mit gerunzelter Stirn, als er ihre Umarmung nicht mit derselben Freude erwiderte. »Aber du bist ja so traurig. Warum bist du traurig, Lexie? Waren die Daimons gemein zu dir? Wenn sie dir wehgetan haben, geht Simi sofort hin und frisst sie alle auf.«

Acheron löste sie behutsam von Alexion. »Er muss jetzt eine Weile allein sein, Sim.«

»Aber …«

»Ist schon gut.« Acheron nahm sie bei der Hand.

Wortlos ging Alexion den Korridor entlang zu seinen Räumen. Sein Inneres fühlte sich so kalt an, dass er Zweifel hatte, ob ihm jemals wieder warm werden würde.

Zum allerersten Mal hasste er sein Zuhause. Hasste alles hier. Und am meisten hasste er Acheron.

Bis zu dem Augenblick, als er die Tür zu seinem Zimmer öffnete. Er blieb abrupt stehen und schnappte nach Luft, als er sah, was eigentlich völlig unmöglich war.

Das konnte doch nicht sein, es war …

Da, mitten in seinem Zimmer, stand eine Frau in einem roten Gewand. Danger.

Er brachte keinen Laut hervor.

Sie sah sich verwirrt um. »Wo bin ich?«

Er durchquerte den Raum und nahm sie in die Arme. Sie fühlte sich völlig real an.

Lebendig …

Konnte so etwas möglich sein? Durfte er es wagen zu glauben, dass all das hier wirklich passierte?

Er vergrub das Gesicht an ihrem Hals, sog ihren köstlichen Duft tief ein und weinte.

»Alexion, allmählich machst du mir wirklich Angst.«

Lachend löste er sich von ihr. »Wie bist du hergekommen?«

»Ich habe keine Ahnung. Zuerst hatte ich noch fürchterliche Schmerzen, dann wurde auf einmal alles dunkel, und auf einmal war ich hier.« Sie ließ sich gegen ihn sinken. »Wo sind wir hier?«

»In meinem Zimmer. Du bist in Katoteros.«

Sie sah ihn stirnrunzelnd an. »Das verstehe ich nicht.«

Er ebenso wenig.

»Du dachtest doch nicht ernsthaft, dass ich das Ganze so enden lasse, oder?«

Alexion drehte sich um und sah Acheron lächelnd im Türrahmen stehen.

»Nur der Schmerz bringt uns weiter«, sagte Alexion und zitierte damit die Worte, die er so oft aus Acherons Mund gehört hatte.

Acheron zuckte die Achseln. »Aber am Ende werden wir mit großer Freude belohnt.« Sein Blick schweifte zu Danger, ehe er sich wieder Alexion zuwandte. »Du hast mir viel zu lange und zu treu gedient, als dass ich dich im Stich lassen könnte, Alexion. Ich konnte ihr Leben nicht retten, ohne allzu große Veränderungen im Universum zu verursachen, aber wenigstens das hier kann ich dir geben.«

Alexion war dankbar und erstaunt zugleich über sein Verhalten. Er hätte nie gedacht, dass Acheron so etwas für ihn tun würde … niemals. »Aber du hasst es, Leute in deinem Haus zu haben.«

Acheron stieß resigniert den Atem aus. »Ach, was soll’s. Ich habe mich an dich gewöhnt. Und auch an Danger werde ich mich gewöhnen.«

Danger schnappte nach Luft. »Was? Ich werde also hierbleiben? Bei Alexion? Wirklich?«

»Nur wenn du willst«, erwiderte Acheron.

Danger schluckte gegen die aufsteigenden Tränen an, schlang die Arme um Alexion und drückte ihn fest an sich. »Ich kann das alles nicht glauben.«

»Ich bedauere, was du verloren hast, Danger«, sagte Acheron ruhig. »Diese Existenz ist bei weitem nicht perfekt.«

Alexion sah Panik in ihren Augen aufflackern. »Muss ich etwa auch Blut trinken, um am Leben zu bleiben?«

Alexion schüttelte den Kopf. »Nur unser Einstein muss das tun. Aber du wirst ebenso wie er keinen Geschmackssinn mehr haben.«

Danger lachte. »Ich schätze, damit kann ich leben. Wer braucht schon Geschmacksknospen? Ich ernähre mich eben von Popcorn.«

Acherons Blick wurde weich. »Wenn du jetzt vielleicht deinen Dämon herbeirufen würdest, Alexion. Ich will sie mit ihrer Schwester Simi bekannt machen und euch beide eine Weile allein lassen.«

Alexion runzelte die Stirn. »Es scheint dich nicht zu verblüffen, dass Simi eine Schwester hat. Wie kommt das?«

»Ich weiß schon sehr lange, dass sie nicht der einzige Dämon ihrer Art ist. Der Schluss lag nahe, dass auch sie irgendwo Familie haben muss.«

Trotzdem war Alexion geschockt, dass Acheron ihm ein so großes Geheimnis vorenthalten hatte. »Wieso hast du uns nichts davon gesagt?«

»Simi gefiel die Vorstellung so gut, dass sie ganz allein auf der Welt ist. Eigentlich wollte ich ihr erst später die Wahrheit sagen, wenn sie etwas älter ist. Aber ich denke, der Zeitpunkt ist jetzt gekommen.«

Alexion stimmte ihm zu. »Xirena, nimm menschliche Gestalt an.«

Der Dämon löste sich von seinem Körper und trat verlegen neben ihn. »Stecke ich in Schwierigkeiten?«

»Nein«, beruhigte Alexion sie. »Du wirst jetzt gleich Simi kennenlernen.«

Aufrichtige Freude glomm in ihren Augen auf.

»Komm, Xirena«, sagte Acheron. »Ich bringe dich zu ihr.«

Sie zögerte kurz. »Das ist doch kein Trick, oder?«

»Nein.«

»Es ist alles in Ordnung«, erklärte Alexion beschwichtigend. »Du kannst ihm vertrauen.«

Zögernd trat sie zu Acheron und verließ mit ihm den Raum.

Danger wartete, bis sie allein waren, ehe sie sich wieder Alexion zuwandte und die Arme um ihn schlang. »Passiert das alles wirklich?«

»Ja«, sagte er und drückte sie an sich. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass du wirklich hier bist.«

»Ich dachte, ich hätte dich für immer verloren«, meinte sie.

»Immerhin bin ich nicht in deinen Armen gestorben.«

»Das stimmt, aber mit diesem Problem werden wir uns künftig nicht mehr herumschlagen müssen.«

Alexion lächelte und sah in ihre schimmernden dunklen Augen. »Nur wenn wir einen Charonte ärgern.«

»Dann werden wir eben dafür sorgen, dass es nie dazu kommt.«

Voller Dankbarkeit schloss er die Arme noch fester um sie und hob sie hoch. Diesmal würde er verdammt gut aufpassen, dass ihr nichts passierte. »Ich liebe dich, Danger.«

Danger küsste ihn, während ihr Herz vor Freude jubelte. »Ich liebe dich auch«, sagte sie.

Und auch wenn das Leben hier nicht perfekt sein würde, kam es dem doch sehr, sehr nahe. Sie würde alles hinnehmen, solange sie nur zusammen waren.