· 6 ·
Owen Graham war übelster Laune. Die ganze Nacht hatte er kein Auge zugetan. Es war viel zu heiß gewesen, und eine alte Eule, die sich auf dem Baum vor seinem Fenster niedergelassen hatte, hatte ihr Übriges getan, um seine Nachtruhe zu stören.
Als er aufstand, waren noch die letzten Spiegelungen des Mondlichts auf den blanken Holzdielen zu sehen. Er fühlte sich, als hätte eine Herde wilder Pferde auf ihm herumgetrampelt. Allein beim Gedanken daran, was er alles erledigen musste, bevor er sich wieder hinlegen durfte, schlief er beinahe ein. Um die Müdigkeit abzuschütteln, tauchte Owen das Gesicht in kaltes Wasser. Es war noch viel zu tun, bis alles für den Empfang seines Herrn bereit wäre. Zunächst aber hatte er eine dringende Verabredung. Mit der Flinte in der Hand trat er vor die Tür. Diese Eule würde ihm nicht noch einmal den Schlaf rauben.
Owen war nach dem Tod seines Vaters mit nur einundzwanzig Jahren Aufseher auf New Fortune geworden und hatte noch nie in der Nähe einer weißen Frau gelebt. Als er auf die Plantage gekommen war, war Davids Vater, Timothy Parrish, schon Witwer gewesen. Und die ersten zwanzig Jahre seines Lebens hatte Owen mit seinem Vater und einem Fallensteller namens Joe inmitten der Smoky Mountains in North Carolina gelebt. Außer ihnen dreien hatte es am White Creek, einem schmalen, von zerklüfteten Felsen und dichten Tannen und Eschenwäldern umgebenen Wasserlauf, niemanden gegeben. Im Winter war das Tal sogar vollkommen von der Außenwelt abgeschlossen.
Eigentlich war sein Leben perfekt. Er konnte tun und lassen, was er wollte, und David, zu dem er ein fast freundschaftliches Verhältnis hatte, hatte sich nie in seine Arbeit eingemischt. Die Vorstellung, dass jetzt eine Frau mit geblümten Schirmchen, feinen Schuhen und ausladenden Kleidern in seinem Herrschaftsbereich umherschwirren und alles durcheinanderbringen könnte, behagte ihm nicht im Geringsten.
Owens einfacher und klar strukturierter Kopf hasste Veränderungen sowieso. Und das traf noch mehr zu, wenn er sich wie in diesem Fall sicher war, dass sie nicht zum Besseren wären. Von dem Moment an, als Eva in der Welt erschien und Adam in Versuchung führte, von der verbotenen Frucht zu essen, hatten die Frauen stets für Schwierigkeiten gesorgt. Und auf New Fortune wäre das kaum anders. Die Nachricht, die David ihm vor ein paar Tagen geschickt hatte, war Beweis genug, befahl er Owen doch darin, Haus und Umland perfekt für den Empfang seiner Gattin herzurichten.
Gerade war auf den Feldern die arbeitsreiche Zeit der Ernte angebrochen, und trotzdem hatte Owen sich gezwungen gesehen, beim Pflücken der Baumwolle auf die starken Arme einiger Männer und Frauen zu verzichten und ihnen sinnlose Reinigungsarbeiten zu übertragen. Diese Frau hatte noch keinen Fuß auf die Plantage gesetzt, und schon hatten die Veränderungen begonnen.
Im Stillen schimpfte Owen Graham also immer noch, als die Kutsche endlich am Horizont auftauchte. Jeder einzelne der Sklaven hatte seine Arbeit liegen gelassen, um David und seine Frau willkommen zu heißen, die noch dazu mit über drei Stunden Verspätung ankamen. Ein verschwendeter Vormittag, dachte Owen verärgert, als er in der Ferne die weißgesprenkelten Felder sah, auf denen die Baumwollpflanzen sich unter dem Gewicht der Fruchtkapseln zur Erde neigten.
Noch bevor die Kutsche unter den ersten Ahornbäumen hindurchfuhr, die die Hauptstraße der Plantage säumten, hatten sich die Sklaven in Reih und Glied vor dem Herrenhaus aufgestellt. Owen wartete an der Spitze der großen Dienerschar. Als der Wagen vor ihnen hielt, verließ Thomas, der Sklave, der für das Haus zuständig war, die Reihe und trat vor, um seinem Herrn den Schlag aufzuhalten.
«Mr. Parrish!» Kaum hatte David einen Fuß auf den Boden gesetzt, wurde er von Owen Graham begrüßt.
Herzlich schüttelte David ihm die Hand. «Freut mich, Sie zu sehen, Graham.»
David blickte sich kurz um und nickte zufrieden. «Ich sehe, dass Sie sich gut um New Fortune gekümmert haben.»
Owen lächelte. «Danke, Mr. Parrish.»
Geschützt hinter den Vorhängen, die die Fenster der Kutsche teilweise bedeckten, konnte Katherine das Geschehen in allen Einzelheiten beobachten.
Zwar hatte David ihr von seinem Aufseher erzählt, sie hätte jedoch niemals angenommen, dass er noch so jung war. Bestimmt war er kaum älter als David. Als Owen vor zehn Jahren angefangen hatte, sich um die Plantage zu kümmern, musste er fast noch ein Kind gewesen sein. Und groß war er. Selbst als er etwas respektlos die Hände in die Hosentaschen steckte, nachdem er David einmal begrüßt hatte, und dabei ein wenig nach vorn gebeugt stand, überragte er David noch. Sein hellbraunes Haar schaute lockig und üppig unter dem alten Lederhut hervor, und ebenso widerspenstig wirkte der mehrere Tage alte Bart, der das quadratische Kinn bedeckte und die kantigen Züge etwas milder machte. Auf seinem zerknitterten Hemd konnte man die großen Karos nur noch vage erkennen. Und die Tatsache, dass er sich nicht einmal die Mühe gemacht hatte, es in die Hose zu stecken, verlieh ihm ein schlampiges Aussehen.
David wandte sich der Kutsche zu und bot seiner Frau den Arm.
Ihr Moment war gekommen. Sanft legte sie ihrem Mann die mit einem makellosen langen Spitzenhandschuh bekleidete Hand auf den Arm und stieg aus der Kutsche. «Liebes, ich möchte dir Owen Graham vorstellen.»
Der Aufseher ergriff die zarte Hand, die ihm die junge Frau entgegenstreckte, führte sie aber keineswegs an seine Lippen. Stattdessen drückte er sie mit einer solchen Kraft, dass Katherine vermeinte, einem Alligator zum Opfer gefallen zu sein. Es war klar, dass dieser Mann nicht gewohnt war, Umgang mit Frauen ihrer Stellung zu haben. Allein der liederliche Aufzug, in dem er erschienen war. Katherine war sich sicher, dass ihre Ankunft dem groben Aufseher absolut nicht behagte.
«Willkommen, Mrs. Parrish.»
«Sehr erfreut», antwortete sie amüsiert und erwiderte den Händedruck jetzt mit gleicher Festigkeit. Als er die grimmige Entschlossenheit darin bemerkte, sah der Aufseher Katherine endlich an. Überrascht blickte sie in sanft leuchtende dunkelblaue Augen und wunderte sich, hinter all dieser Nachlässigkeit einen äußerst stattlichen und attraktiven Mann vorzufinden.
«Nennen Sie mich Katherine», fügte sie im gleichen Moment hinzu, in dem sich ihre Blicke trafen.
«Katherine», brachte Graham heraus, der von diesem engelsgleichen Gesicht wie verzaubert war. Owen Graham hatte die Waffen gestreckt. Katherine lächelte. Gerade hatte sie ihren ersten Feind besiegt.
Der hielt noch selbstvergessen die Hand seiner neuen Herrin in der seinen, als zwei Lastkarren über die Grenze zu New Fortune fuhren. Für eine Sekunde war der Aufseher abgelenkt, und Katherine konnte endlich ihre Finger befreien, die schon langsam taub wurden.
Die Lastkarren hielten neben der Kutsche. Die Ladefläche war zwar mit Planen abgedeckt, aber die Höhe der Ladung verriet, dass Mrs. Parrish nicht mit leichtem Gepäck reiste. Mindestens zwei seiner stärksten Männer waren nötig, um alles vor Anbruch der Nacht im Haus unterzubringen, überlegte Owen, aber es störte ihn nicht mehr. Gern hätte er auf alle seine Leute verzichtet, wenn es nur der jungen Frau, die ihm so freundlich zugelächelt hatte, diente.
Erst als Katherine Molly entgegenlief, die gerade von einem der Lastkarren stieg, bemerkte Owen die andere Frau. Zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit war er fasziniert. Die junge Dame, die jetzt angekommen war, war ebenso schön wie Mrs. Parrish selbst.
«Das ist die persönliche Sklavin meiner Frau», erklärte David, als Katherine außer Hörweite war, aber doch so laut, dass auch die anderen Sklaven es mitbekamen, die noch immer hinter dem Aufseher in einer Reihe standen.
Ungläubig blickte Owen ihn an, aber David nickte. Beide Männer betrachteten jetzt die Frau, die sich von Katherine umarmen ließ. Sie trug ein elegant gestreiftes Kleid, und ihr Haar wurde von einem Netz mit Perlmuttbesatz zusammengehalten.
Mit der neuen Sklavin im Schlepptau, kam Katherine wieder zu ihnen. «Mr. Owen, das ist Molly», teilte Katherine dem Aufseher lächelnd mit. Unwillkürlich neigte sich sein Kopf leicht vor der Sklavin. Owen wusste, dass er das nicht hätte tun dürfen, aber sein Körper hatte beschlossen, den Ermahnungen seines Geistes keine Beachtung zu schenken und dieser Sklavin mit den schönen grünen Augen Bewunderung zu zollen.
Auch Molly nahm die fast unmerkliche Verbeugung des Aufsehers wahr und errötete bis über beide Ohren. Ein Blick auf das veränderte Verhalten der anderen Sklaven genügte ihr, um zu begreifen, dass sämtliche Bewohner von New Fortune ihre Stellung bereits erfasst hatten. Zwar hielten die Sklaven ihre Köpfe gesenkt, aber während sie Katherine demütig aus den Augenwinkeln betrachteten, starrten sie Molly unverschämt an. Sie war wieder einmal zum Mittelpunkt des Interesses geworden. Schon immer wurde hinter ihrem Rücken getuschelt, und man versuchte etwas an ihr zu finden, das sie den anderen Sklaven ähnlich machte. Aber Molly war zu weiß.
Sie versuchte Mut zu fassen, sich einzureden, dass sie sich daran gewöhnt hatte. Aber sie hatte schon von klein auf darunter gelitten. Gefasst ertrug sie den Ansturm der feindseligen Blicke, während sie spürte, wie der letzte Hoffnungsschimmer schwand. Sie ergab sich in ihr Schicksal. Auf New Fortune würde sie genauso einsam sein wie in New Orleans.
***
Katherine verliebte sich in New Fortune, kaum dass sie die majestätische weiße Fassade erblickte, die man schon am Anfang der breitangelegten Ahornallee erkennen konnte. Sie verliebte sich in den mit wilden Margeriten gesprenkelten Rasen, der das Herrenhaus umgab, in die dichtbelaubten Wälder, die es von den Baumwollfeldern trennten, in das ruhige Murmeln des Flusses und in sein Licht. Das rechteckige Gebäude mit zwei Stockwerken und einem ausgebauten Dachgeschoss war in reinem neoklassizistischem Stil gehalten, nichts störte diese Harmonie.
Alles war vollkommen weiß, abgesehen vom goldenen Türklopfer des Haupteingangs, den Dachschindeln aus grauem Schiefer und der Kletterrose, die sich an einer Säule bis zur Galerie hochgerankt hatte, die um die Fassade des gesamten ersten Stockwerks lief. Auch wenn das Gebäude längst nicht so luxuriös und von geringeren Proportionen war, erinnerte es sie doch an Deux Chemins. Von der Veranda aus hatte man einen wundervollen Blick auf die weitläufige Ahornallee, die sich vor den Hügeln am Horizont abhob. Katherine lächelte. Sie war in ihrem Zuhause angekommen.
***
Zweifellos hatte Owen seine Aufgabe mit aller Sorgfalt erfüllt. Die Teppiche waren geklopft und gelüftet worden, die Möbel und der Boden poliert, die Gardinen gewaschen. Die langen Stoffbahnen, die vor den Fenstern hingen, dünsteten sogar noch eine leichte Feuchtigkeit aus, in der Eile hatten sie nicht mehr trocknen können.
Inmitten von Gerüchen nach Bohnerwachs und frischen Blumen schritt Katherine nun, immer an Davids Seite, durch das Haus. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten waren die Vasen mit bunten Blüten gefüllt worden. Die Zimmer waren geräumig. Salon und Esszimmer waren durch eine Zwischentür verbunden, und durch beide Räume, wie auch durch die Bibliothek, kam man direkt in das Empfangszimmer. Um in den hinteren Teil des Hauses zu gelangen, ging man durch einen rechteckigen Saal mit einem hübschen runden Balkon, von dem aus man den Verlauf des Flusses sehen konnte. Unterhalb der Treppe führte ein schmaler Flur in die Küche und zu den Kammern der Haussklaven. Mit Ausnahme des Dienstbotentrakts gingen alle Räume des Erdgeschosses auf die Veranda, die das Herrenhaus umgab. Durch unzählige Fenster und verglaste Türen wurden die Zimmer mit Licht überflutet.
Natürlich hatte das Fehlen einer weiblichen Hand mit den Jahren Spuren hinterlassen. Vor allem in den etwas derben und eher funktionalen Möbeln, die ohne Sinn für das Schöne einfach in die Ecken gestellt worden waren. Trotzdem kam New Fortune ihr vollkommen vor. Man konnte es nicht mit dem Luxus von Deux Chemins vergleichen, aber es war ein wunderbarer Platz, um eine Familie zu gründen. Sobald man die dunklen Möbel ausgetauscht hatte, würde auch noch der letzte Eindruck von Strenge und Schwerfälligkeit verschwinden. New Fortune würde sich in einen einladenden Ort verwandeln, dafür würde sie sorgen. Tatsächlich waren die beiden Lastkarren mit Zierrat, Accessoires und den modernsten und luxuriösesten Möbeln beladen, die Teil von Katherines Mitgift waren. All diese Dinge standen bereit, um eine Verwandlung zu beginnen, die sie mit der Ladung vier weiterer sich bereits auf dem Weg befindlicher Gespanne vollenden würde.
Während David seiner Frau die Räumlichkeiten zeigte, malte Katherine ihm lebhaft aus, wie jedes einzelne Zimmer nach ihrer Umdekorierung aussehen würde. In einem Raum sollte ein Teetischchen mit goldenen Beinen, das unter einer der Planen wartete, eine alte Truhe ersetzen, in einem anderen wollte Katherine eine Lampe ausrangieren oder überlegte, wohin man die Vase mit chinesischen Motiven stellen könnte, die jetzt hinter einer Tür versteckt war. Teppiche mit floralen Mustern, Sofas in gewagten Farben, Katherine legte eine solche Leidenschaft in ihre Beschreibungen, dass David für einen Moment glaubte, wirklich all diese Pracht zu sehen, wo jetzt nur alte, mit einem groben braungemusterten Stoff bezogene Sessel auf einem Teppich derselben Farbe standen.
Gebannt sah er sie an. Bis zu diesem Augenblick hatte er nie darüber nachgedacht, dass die Einrichtung auf New Fortune aus der Mode gekommen war. Und obwohl es ihm durchaus Vergnügen bereitete, konnte er nicht wirklich verstehen, dass das Aufstellen von Möbelstücken seiner Frau solche Freude bereitete.
Noch bevor sie die zwanzig Treppenstufen überwunden hatten, die von der Empfangshalle in einer weiten Kurve in den ersten Stock reichten, hatte Katherine bereits entschieden, dass nur die Bibliothek von den Renovierungsarbeiten ausgenommen würde. Der Schreibtisch und die anderen Möbel waren aus massivem Mahagoni, Davids Urgroßvater hatte sie vor fast hundert Jahren aus England mitgebracht. Sie würde ebenfalls gestatten, dass die Porträts von Davids Vorfahren, die noch im Salon und an der Wand hinter dem Treppenabsatz hingen, im Hause blieben, fand aber, dass die Bibliothek ein angemessenerer Ort für sie wäre. Schließlich hatte sie einige schöne Bilder von Landschaften und Feldern voller Blumen mitgebracht, die diesen Hofstaat von alten, streng aussehenden Pflanzern wunderbar ersetzen könnten.
***
Nachdem Molly überwacht hatte, dass Katherines persönliche Besitztümer korrekt untergebracht wurden, war sie wieder nach draußen gegangen. Die Karren waren verschwunden, ein Teil der Ladung war vorläufig auf der Veranda gestapelt worden, bis man einen endgültigen Bestimmungsort für die einzelnen Dinge gefunden hatte.
Schnell hatte Molly ihre eigenen Sachen in dem Durcheinander gefunden. Katherine hatte ihr einen Koffer geliehen. Darin hatte sie ihre Kleider und einige der Geschenke gepackt, die Katherine ihr im Laufe der Jahre gemacht hatte. Molly sah sich um, aber niemand schien sich um sie zu kümmern. Die Sklaven, die Katherines Gepäck in ihr Schlafzimmer gebracht hatten, waren schon auf die Felder zurückgekehrt. Sie würde niemanden finden, der bereit wäre, ihr zu helfen. Nachdem sie den Koffer über die Veranda geschleift hatte und endlich in die Küche trat, fiel sie vor Durst beinahe um.
Nach Atem ringend und mit ihrem schönsten Lächeln, begrüßte Molly die drei Sklaven, die in der Küche waren.
«Hallo», antwortete der Mann und kam ihr entgegen, während die beiden Frauen sie nur anstarrten, ohne ihre Neugier auch nur im mindesten zu verbergen.
«Molly, nicht wahr? Die Sklavin der Herrin?»
Molly nickte.
«Ich bin Thomas. Ich kümmere mich um alles Mögliche. Das ist Olivia, die Köchin», sagte er und deutete auf eine etwa vierzigjährige Frau mit sehr dunkler Haut. Molly begrüßte sie mit einem Kopfnicken, die andere machte sich nicht die Mühe, den Gruß zu erwidern.
«Und die Jüngste ist Latoya. Sie hilft im Haus», fügte der Sklave hinzu, dessen Haare schon leicht ergraut waren, während er dem kaum fünfzehnjährigen Mädchen freundlich zulächelte.
«Willkommen, Miss Molly», sagte sie mit einem drolligen Knicks. Dabei lächelte sie über das ganze Gesicht und entblößte eine Reihe schneeweißer Zähne.
Als Olivia sah, dass die Küchenhilfe sich vor Molly verneigte, warf sie ihr schnell einen Blick zu, und Latoya richtete sich blitzschnell wieder auf. Und wenn diese Frau noch so hübsch und weiß war, sie war genauso eine Sklavin wie sie. Olivia würde nicht erlauben, dass eine Sklavin in ihrer Küche vor einer anderen knickste.
«Nenn mich Molly.»
Latoya antwortete nicht. Mit gesenktem Kopf blickte sie zu Boden. Molly hatte die Gelegenheit verpasst, eine Freundin zu gewinnen.
«Ich denke, ich werde mich erst einmal im Haus einrichten», sagte sie und versuchte, die angespannte Atmosphäre etwas aufzulockern.
«Ja. Der Aufseher hat befohlen, dass Sie im Dachgeschoss untergebracht werden», antwortete Thomas. Unwillkürlich hatte er sie gesiezt. Es war nicht so einfach, im Kopf zu behalten, dass diese hellhäutige, elegant gekleidete Frau nur eine weitere Sklavin der Plantage war.
«Könnte ich ein wenig Wasser bekommen?»
Gerade wollte Latoya zur Pumpe springen, als Olivia sie am Arm packte. «Da sind Gläser, da ist die Pumpe. Trink, so viel du willst.»
Molly spürte, wie sie errötete. Sie hatte all ihren Mut zusammengenommen, um ihre Schüchternheit zu überwinden und freundlich zu sein. Aber offensichtlich machte sie die Dinge nur jedes Mal schlimmer.
Diesmal warf Thomas der Köchin einen vorwurfsvollen Blick zu. Dann nahm er den Krug vom Regal, goss etwas Wasser in ein Glas und hielt es Molly hin.
Sie bedankte sich und leerte das Glas bis auf den letzten Tropfen. Wütend kehrte Olivia Thomas den Rücken zu, aber der Sklave kümmerte sich nicht um die Abfuhr der sturköpfigen Köchin.
«Ist der schwer?», fragte Thomas mit Blick auf den Koffer, der noch genau dort stand, wo Molly ihn hatte fallen lassen.
«Und ob er schwer ist. Nicht einmal eine Leiche wiegt so viel», scherzte sie. Während der Sklave prüfend an einem der Ledergriffe zog, nickte er. «Ich werde wohl besser ein paar Männer suchen, damit sie das Gepäck der Herrin hinaufschaffen.»
«Nein, bitte mach dir keine Mühe», warf Molly ein. «Die Sachen der Herrin sind schon oben. Das hier ist meins.»
Auf einen Schlag ließ Thomas den Griff los. Die drei starrten auf den Koffer. Kein gewöhnlicher Sklave konnte ein so großes Behältnis mit seinem Besitz füllen.
Wieder merkte Molly, dass sie etwas falsch gemacht hatte. Wahrscheinlich würden die Habseligkeiten dieser drei zusammen nicht mehr als ein Bündel ausmachen.
Der alte Sklave steuerte auf die Dienstbotentreppe zu. «Ich zeige dir, wo du schläfst, solange du hier bist», sagte er scharf und begann, die Treppe hinaufzusteigen. Molly war zum Weinen zumute, als sie schließlich selbst nach dem Koffer griff und sich daranmachte, ihn die Treppe hinaufzuschleifen.
Während sie darum kämpfte, die erste Stufe zu überwinden, ohne dass sich jemand erbarmte und ihr zu Hilfe kam, hörte sie noch, wie Olivia wetterte: «Sie kriegt sogar ein eigenes Zimmer.»
Sie wollte protestieren. Schließlich hatte sie nicht darum gebeten, getrennt von den anderen Sklaven untergebracht zu werden. Aber ein Leben in Gehorsam und das Schuldgefühl, das sie aufgrund ihrer zu hellen Haut verspürte, hatten sie nicht auf den Kampf vorbereitet. Schweigend hob sie den Koffer eine weitere Stufe hinauf.
Thomas machte nicht die geringsten Anstalten, ihr zu helfen. Es war offensichtlich, dass der Sklave sich darüber ärgerte, dass Molly so viele Dinge besaß. Seine anfängliche Freundlichkeit war vollkommen verschwunden.
Fast fünf Minuten später erreichte Molly das Dachstübchen.
«Es ist seit Jahren nicht mehr benutzt worden», sagte Thomas, als er die Tür öffnete. Molly ließ den Koffer fallen. Ihre Hände brannten. Als sie sich aufrichtete, fühlte sie ein heftiges Stechen im Rücken. Keuchend rang sie nach Luft.
«Wenn du nicht mit der Herrschaft zusammen bist, musst du immer die Dienstbotentreppe benutzen», erklärte Thomas völlig ungerührt.
«Du hast alles, was du brauchst. Wenn du etwas nicht weißt, frag mich. Hier bist du gut untergebracht. Niemand kommt jemals hier herauf.» Er sagte das, als wäre sie eine Aussätzige, die man vom Rest der Welt fernhalten müsste.
«Die Herrschaften essen in einer Stunde zu Abend.» Nach diesen Worten verschwand er.
Sie hatte nicht einmal eine Stunde, um sich einzurichten. Erst einmal versuchte Molly, zu Atem zu kommen, aber nachdem die Sonne den ganzen Tag lang unerbittlich auf die Dachziegel gebrannt hatte, war die Luft hier oben unerträglich heiß. Kein Wunder, dass sich niemand hier heraufwagte. Schnell ging sie zum einzigen Fenster der Dachstube, das unerwartet groß war, und versuchte, es aufzuschieben. Aber es war verklemmt, das Holz hatte sich verzogen. Erst beim zweiten Versuch konnte sie es ein wenig öffnen, und ein dünner Luftstrom kam herein, der den muffigen Geruch allmählich vertrieb. Molly hielt ihr Gesicht vor den Spalt und atmete gierig. Danach betrachtete sie das Zimmer, in dem sie für den Rest ihres Lebens wohnen sollte.
Die Schräge und die stickige Hitze ließen einen keinen Augenblick vergessen, dass man sich direkt unter dem Dach befand. Ein Eisenbett, eine Matratze mit zwei dunklen Flecken, deren Beschaffenheit Molly lieber nicht näher untersuchte, eine einzige Decke, die anscheinend noch nie Wasser und Seife gesehen hatte, ein Nachttisch, eine Schüssel, ein Stuhl, ein alter Schaukelstuhl, der ein wenig Farbe nötig hatte, eine Frisierkommode mit einem in der Mitte zerbrochenen Spiegel und über all dem eine Staubschicht, die so dick war, dass man die Straße von New Orleans nach Virginia damit hätte auslegen können.
Mit etwas Arbeit und Geschick könnte es hübsch werden, redete sie sich ein. Natürlich war es nicht wie in New Orleans, aber es würde genügen. Und außerdem war es mit Sicherheit bei weitem luxuriöser als jede andere Sklavenunterkunft auf New Fortune.
Als sie die goldenen Schließen des Koffers öffnete, war sie schon etwas zuversichtlicher. Zum Glück hatte sie eine schöne Decke mit Blumenmuster mitgebracht und ein paar Laken, die Katherine ihr vor Jahren geschenkt hatte, als sie selbst neue Bettwäsche bekam. Außerdem hatte Molly den Rest eines dicken, dunklen Stoffs aufbewahrt, aus dem sie sich eigentlich einen Schal machen wollte, der sich aber perfekt dafür eignete, Vorhänge aus ihm zu nähen. Unter dem Bett fand sie noch einen Teppich, den sie zuerst übersehen hatte. Er war so dreckig, dass man seine wahre Farbe kaum erraten konnte. Aber wenn er erst einmal sauber wäre, könnte er dem Zimmer etwas Gemütlichkeit verleihen.
Danach sah sie sich die Frisierkommode genauer an. Es musste einmal ein schönes Stück gewesen sein, aber jetzt blätterte die Farbe ab. In einer der seitlichen Schubladen des Möbelstücks fand Molly eine Schreibfeder und ein leeres Tintenfass. Der vorherige Bewohner des Zimmers hatte das wohl vergessen. Immer hatte sie sich gewünscht, lesen und schreiben zu lernen, aber wie viele andere Dinge war auch das einer Sklavin nicht gestattet. Rasch schob sie die Schublade wieder zu.
Vorsichtig wischte sie mit der Hand über den zerbrochenen Spiegel und betrachtete ihr Gesicht in der vom Staub befreiten Fläche. Ihre Haut hatte zwar immer eine goldene Tönung, sie war aber nicht dunkler als Katherine, wenn diese vergaß, sich vor der Sonne zu schützen. Die Spitze ihrer geraden Nase war sanft gerundet, die Lippen voll, und die grünen, mandelförmigen Augen leuchteten in der Sonne wie Smaragde. Der leicht olivfarbene Ton ihrer Haut und die exotischen Gesichtszüge waren die einzigen sichtbaren Anzeichen für das afrikanische Erbe ihrer Urgroßmutter. Eigentlich flossen nur noch wenige Tropfen schwarzen Blutes in ihren Adern. Seit ihre Urgroßmutter die Blicke eines Hauptmanns der spanischen Armee auf sich gezogen hatte, waren alle männlichen Nachfahren Weiße gewesen. Ein letztes Mal betrachtete Molly im abendlichen Sonnenlicht ihr Spiegelbild und wünschte sich, dass das Blut ihrer Urgroßmutter dicker gewesen wäre.