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Eine sanfte Brise hatte sie zu einem Ausritt animiert. Sie ließ das Pferd um die Ställe herumlaufen und trabte in Richtung Wald. Der Sommer ist schon vorüber, dachte Katherine, als ihr Blick auf die ockerfarbenen Pinselstriche in den Baumkronen fiel. Vor beinahe vier Monaten war sie nach New Fortune gekommen. Aber die Renovierung ihres neuen Heims und die zahlreichen Feste und Empfänge, die die Nachbarn ihr zu Ehren gegeben hatten, hatten sie so in Atem gehalten, dass die Zeit wie im Flug vergangen war.

Tief in ihren Gedanken versunken, bemerkte sie die Sklavin, die ein Stück vor ihr den Weg entlangging, erst, als sie sich direkt vor ihr befand. Schnell trat das Mädchen zur Seite und wartete, dass ihre Herrin sie überholte. Aber anstatt vorbeizureiten, zügelte Katherine das Pferd und blieb stehen.

Obwohl das Mädchen kaum älter wirkte als sechzehn, konnte man deutlich sehen, dass sie schon bald ein Kind zur Welt bringen würde. Die Nähte ihres geblümten Kleides sahen jetzt schon aus, als würden sie platzen.

«Hallo», begrüßte Katherine die Sklavin, die ihren Kopf ergeben senkte.

«Guten Tag, Herrin.»

Katherine lächelte ihr zu. Irgendwie sah das Mädchen traurig und einsam aus. «Wie heißt du?»

«Velvet, Herrin», antwortete sie, ohne den Blick zu heben.

«Was für ein ungewöhnlicher Name. Wohin gehst du?»

«Zu den Hütten, Herrin Katherine.» Mit der Hand deutete sie auf eine Weggabelung nur ein paar Meter weiter geradeaus.

Katherine verzog leicht das Gesicht. Kurz nach ihrem Einzug auf New Fortune war sie aus Versehen in die Nähe des Hüttendorfes geraten, wo die meisten Sklaven lebten. Sie hatte es nur von weitem gesehen, aber es schien sich um einen schrecklichen Ort zu handeln. Nun, der Zustand der Sklavenunterkünfte war nicht ihre Angelegenheit. Der Aufseher war dafür zuständig. Katherine machte einfach immer einen weiten Bogen um diesen unangenehmen Ort.

«Master Owen hat mir erlaubt, früher aufzuhören», rechtfertigte Velvet sich eilig.

Katherine war überrascht, dass man eine Frau in diesem Zustand überhaupt noch auf den Feldern arbeiten ließ. «In welchem Monat bist du?»

«Fast im siebten, Herrin Katherine.»

«Dann wird das Kind im Dezember geboren.»

Velvet nickte.

«Ich wünsche dir, dass es ein kräftiges und gesundes Kind wird.»

«Danke, Herrin», sagte Velvet schüchtern und strich sich über den Bauch, als wolle sie böse Vorzeichen verjagen. Weil das Mädchen seinen Kopf mit jedem Wort tiefer senkte, musste Katherine sich Mühe geben, die Stimme der Sklavin überhaupt noch zu verstehen. Als sie merkte, dass nicht mehr aus der Sklavin herauszuholen war, gab Katherine ihrem Pferd die Sporen und ließ das Mädchen am Wegesrand stehen.

An diesem Nachmittag begleitete sie ein merkwürdiges Gefühl, und anstatt sich an ihren üblichen Reitweg zu halten, bog sie in einen schmalen Pfad ein, der dem Flusslauf folgte. Zweige und Gestrüpp waren so dicht, dass sie irgendwann absitzen und zu Fuß weitergehen musste. Sicher hatte schon seit langer Zeit niemand mehr den Pfad benutzt. Gerade wollte sie schon kehrtmachen, als sie plötzlich den schönsten Ort vor sich entdeckte, den sie je gesehen hatte.

***

«Du glaubst es nicht, Molly!», erzählte sie begeistert, als sie zum Herrenhaus zurückgekehrt war und Peitsche und Hut in der Empfangshalle auf einen Stuhl warf. «Der Fluss staut sich dort zu einem kleinen Bassin und ist am Ufer von Bäumen und Blumen umgeben. Es ist bezaubernd, wie ein Feengarten. Du musst unbedingt mitkommen und es dir ansehen.»

«Das wäre schön», antwortete Molly, die sich von so viel Begeisterung anstecken ließ. Dann bückte sie sich, um den Hut aufzuheben, der auf den Boden gerollt war, nahm die Peitsche und folgte Katherine, die schon die Treppen hochlief.

«Erinnere mich daran, dass ich Owen darum bitte, ein paar der Äste wegzuschneiden. Ich möchte auch zu Pferd bis dahin kommen.»

Als Katherine ihr Zimmer betrat, war das Bad schon fertig. Molly streute eine Handvoll Badesalz ins Wasser und überprüfte die Temperatur mit dem Ellenbogen.

Währenddessen ließ sich Katherine auf das Sofa vor dem Fenster fallen. «Ich kann nicht mehr!», jammerte sie. «Ich habe keine Lust, zu dem Empfang heute Abend zu gehen und diese affektierte Mrs. Burton und ihren langweiligen Gatten zu ertragen.»

Zwar kannte Molly die Gastgeberin des heutigen Empfangs nicht persönlich, Katherine hatte ihr jedoch schon ausführlich genug von ihr erzählt. Anscheinend war es eine eitle Frau ohne einen Funken Intelligenz.

«Ich hoffe nur, dass sie nicht wieder erzählt, wie sie in New York in der Oper war, wo ihr die jungen Yankees ob ihrer Schönheit zu Füßen lagen.» Mit einer gekünstelten Geste bedeckte Katherine sich das Gesicht mit beiden Händen und ahmte Gwendolyn Burtons schrille Stimme nach.

Molly musste alle ihre Kräfte aufbringen, um Katherine die Reitstiefel auszuziehen. Danach half sie ihr, sich zu entkleiden. «Was wirst du heute Abend anziehen?»

«Bring mir etwas Schlichtes», wies Katherine sie an und ließ sich in die Wanne gleiten.

Molly zögerte. «Aber Katty! Du hast nichts Schlichtes!»

«Ja, du hast recht», überlegte Katherine, während sie den Jasminduft des Badewassers inhalierte. «Aber Gwendolyn steht gern im Mittelpunkt, man muss sich nur ihre schrecklichen Kleider ansehen … Da ich bei ihr zu Gast bin, möchte ich lieber etwas Dezenteres tragen.»

«Vielleicht das Blaue?»

«Das mit den Blumen um die Taille?»

«Nein, das schlichte Blassblaue. Master Lacroix hat es dir zum letzten Geburtstag geschenkt, es hat Ärmel aus Spitze.»

Katherine runzelte die Stirn. Sie konnte sich an kein blassblaues Kleid erinnern. Aber bevor sie noch etwas dazu sagen konnte, hatte Molly es schon geholt. Ganz anders als die meisten von Katherines Kleidern, die in kräftigen, fröhlichen Farben gehalten waren, war dieses sehr hell, fast schon langweilig.

«Das ist perfekt!», rief Katherine und ließ mit ihrem ungestümen Klatschen einen Teil des Badewassers auf den Teppich schwappen.

Als Katherine fertig gebadet hatte, holte Molly ein Handtuch. «Und übrigens», sagte Katherine, während sie sich in die weiche Baumwolle einwickeln ließ, «heute wirst du mich begleiten.»

«Aber … aber ich glaube, das sollte ich nicht», protestierte Molly erschrocken.

«Was soll das heißen, du solltest nicht? Natürlich sollst du. Du kommst mit mir. In New Orleans hast du mich immer begleitet.»

Aber in New Orleans wussten alle, dass ich die Sklavin der Tochter des wichtigsten Mannes der Stadt war, wollte Molly schreien. Stattdessen sagte sie: «Ich glaube nicht, dass Master David es gutheißen wird …»

«Warum sollte er es nicht gutheißen? Du sollst ja schließlich nicht mit uns zu Abend essen!»

Molly verspürte Angst. Bis jetzt hatte sie es geschafft, New Fortune nicht zu verlassen. Noch hatte niemand sie gesehen. Sie wollte lieber kein Aufsehen erregen.

«Das rote Kleid wird dir bestens stehen», fügte Katherine hinzu. Es gab nichts mehr zu sagen. Molly kannte Katherine zu gut und wusste, dass sie nicht mehr über dieses Thema sprechen wollte. Als ob ihr Aussehen an sich nicht schon genügen würde, um die Blicke aller Gäste auf sich zu ziehen, würde das rote Kleid sein Übriges tun und sie in ein Jahrmarktäffchen verwandeln. In einer so auffälligen Aufmachung würde wirklich niemand sie übersehen können.

***

Obwohl ihre Besitzer mit Büschen und Pflanzen zu kaschieren versuchten, dass die Farbe der Fassade an mehreren Stellen abplatzte, konnte man doch nicht übersehen, dass die Residenz der Burtons einen neuen Anstrich dringend nötig hatte. Von den Gebäuden, die Katherine bisher gesehen hatte, war es bei weitem das schlichteste. Es hatte einen quadratischen Grundriss, und durch seine plumpe Bauweise wirkte es eher wie ein Bauernhaus und nicht wie das Herrenhaus einer Plantage. Und wenn sie es noch so bemüht dekorierten, niemals könnte es mit der Schönheit von New Fortune konkurrieren.

Das Ehepaar Burton begrüßte seine letzten beiden Gäste. Gwendolyn Burton lächelte breit. «Katherine, wie ich mich freue, dich zu sehen», sagte sie und gab ihr auf französische Art einen Kuss auf jede Wange. Mr. Burton, ein untersetzter Mann mit pockennarbigem Gesicht, schielte derweil unschlüssig nach einem Tablett mit Canapés, das von einem Sklaven herumgereicht wurde. «Mein Lieber!» Ein strenger Blick seiner Frau brachte Mr. Burton dazu, die Häppchen nicht weiter zu beachten. «Komm und begrüße unsere Gäste.»

Mr. Burton trat näher. «David, Mrs. Parrish.»

«Es ist mir ein Vergnügen, dich wiederzusehen, Burton. Danke für die Einladung.» David begrüßte den Gastgeber mit einem Händeschütteln.

«Bitte kommt doch herein.» Jede Geste, jede Modulation ihrer künstlich klingenden Stimme verriet, dass Gwendolyn Burton den Eindruck erwecken wollte, eine feine Dame zu sein.

Nun trat auch Molly ein, die kurz zur Kutsche zurückgegangen war, um Katherines Schal zu holen. Diskret blieb sie hinter ihrer Herrschaft. Zu Gwendolyn gewandt, erklärte David: «Das ist Katherines persönliche Sklavin.»

Sobald die Gastgeberin Molly erblickte, wurde ihr Gesicht zuerst blass und nahm dann eine leuchtend scharlachrote Farbe an. All ihre Selbstbeherrschung war nötig, um nicht laut aufzuschreien. Hinter ihren Ehrengästen stand nämlich eine junge und hübsche Sklavin, die unverschämterweise ein ähnliches rotes Kleid trug, wie sie selbst es für diese Gelegenheit gewählt hatte. Sie versuchte sich zu beruhigen, aber sie konnte die Vorstellung nicht ertragen, mit dieser Sklavin verglichen zu werden. Am liebsten würde sie sie hinauswerfen, aber natürlich konnte sie Katherine Parrish nicht beleidigen. Mit Mühe nahm sie sich zusammen und lächelte verkrampft, während sie angestrengt überlegte, wo sie die Sklavin verstecken könnte.

Schließlich wurde Molly ein Platz in einem dunklen Winkel des Esszimmers zugewiesen, in angemessener Entfernung von den Gästen. Aber jedes Mal wenn Gwendolyns Blick auf jene schöne Frau fiel, der das rote Kleid wie angegossen passte, kochte das Blut in ihren Adern.

Seit der Geburt ihrer Tochter hatte Gwendolyn das Kleid nicht mehr getragen. Über vier Wochen Hungern und Verzicht waren nötig gewesen, bis es wieder passte, aber sie konnte darin kaum atmen. Zwei Sklavinnen hatten das Korsett mit vereinten Kräften geschnürt, bis sie das Kleid zuhaken konnte, ohne dass die Nähte platzten. Eine der beiden hatte sogar gewagt vorzuschlagen, es etwas weiter zu machen. Aber sie hatte das abgelehnt. Sie würde ihre alte Figur wiederbekommen. Wenn es nötig sein sollte, würde sie eben aufhören zu essen. Sie hatte schön sein wollen. Schöner als David Parrishs Ehefrau, die den Neid des ganzen County auf sich zog. Und jetzt stand sie vor dieser Sklavin mit ihrer Wespentaille, den wohlgeformten Schultern und den schönen grünen Augen, und ihr Übergewicht war überdeutlich. Der eigene Anblick kam ihr plötzlich lächerlich vor. Nicht einmal das Korsett hatte den Bauchspeck vollkommen wegdrücken können. Hätte sie doch einen Gürtel umgelegt, um ihn zu kaschieren! Am liebsten hätte sie dieser unverschämten Sklavin, die es wagte, sich wie eine Weiße anzuziehen, eigenhändig die Kleider vom Leib gerissen.

Den ganzen Abend aß sie keinen Bissen. Dafür redete sie ununterbrochen mit schriller Stimme und langweilte ihre Gäste mit ihrem affektierten Gehabe.

Der Gastgeber hingegen, der seine Ehefrau keines Blickes würdigte, sparch nur sehr wenige Worte. Sein Hauptaugenmerk lag zweifelsohne auf den Speisen vor ihm auf dem Teller.

Aus ihrer stillen Ecke konnte Molly alles beobachten. Hinterher würde Katherine wissen wollen, was während des Essens geschehen war und was Molly davon hielt. Sie war schon bei vielen Feiern zugegen gewesen und hatte zahlreiche Küchen gesehen, und ihr war bewusst, dass die täglichen Mahlzeiten der Burtons anders aussahen als das Übermaß an Speisen, das an diesem Abend aufgetischt wurde. Nur fünf Personen waren eingeladen. Mr. Rockwater plauderte angeregt mit Katherine, wobei er ständig den Kopf zur Seite neigen musste, weil das Blumengesteck in der Mitte des Tisches eindeutig zu hoch angelegt war. Seine Ehefrau Cynthia Rockwater und David lauschten angeregt den Geschichten des mit David befreundeten jungen Armeeoffiziers Ross Dugan, der gerade aus dem Westen zurückgekehrt war. Mr. Burton speiste stumm, und Gwendolyn gab sich alle erdenkliche Mühe, die Aufmerksamkeit ihrer Gäste auf sich zu lenken. Nur leider hatten alle Anwesenden schon mehr als einmal Gelegenheit gehabt, sie von ihren Reisen in die Nordstaaten sprechen zu hören.

Das Abendessen schien kein Ende zu nehmen. Schon seit zwei Stunden stand Molly reglos an ihrem Platz. Sie war müde, und der Duft der Speisen, die unablässig an ihr vorbeigetragen wurden, erinnerte sie schmerzlich daran, dass sie seit dem Mittagessen nichts mehr zu sich genommen hatte. So gern wollte sie sich irgendwo anlehnen, und eigentlich sah es so aus, als würde niemand auf sie achten. Gwendolyn war vollauf damit beschäftigt, sich mit Cynthia über einen Ball zu unterhalten, der nächste Woche in Richmond stattfinden sollte.

Derart darin versunken, die Gäste zu beobachten, achtete Molly gar nicht mehr auf die Sklaven, die durch eine hinter ihr gelegene Tür kamen und gingen. Ebendiese Tür öffnete sich just in dem Moment, als Molly vorsichtig zwei kleine Schritte rückwärts machte, um sich etwas anzulehnen.

Gerade hatte ein Schokoladenkuchen in Form eines Schwans die Küche verlassen, umgeben von bengalischen Lichtern, die das Meisterwerk in rötliches Licht tauchten. Gwendolyn konnte kaum erwarten, ihn stolz zu präsentieren, als der Schokoladenschwan einen Moment später einen kurzen Flug unternahm und auf dem Boden landete. Molly war dem Sklaven, der den Kuchen trug, so unvermittelt in den Weg getreten, dass er über sie stolperte und dem Schwan den nötigen Schwung für seinen kleinen Sturzflug gab. Alle starrten die Sklavin im roten Kleid an.

Molly wäre am liebsten gestorben vor Scham. Es war keine Absicht gewesen, sie hatte den eintretenden Sklaven einfach nicht bemerkt.

Niemand wagte es, auch nur zu atmen.

«Verfluchte schwarze Idiotin!», brüllte da auf einmal Gwendolyn und rannte auf Molly zu wie ein wildes Tier.

«Es tut mir leid. Ich wollte nicht …» Aber Molly konnte den Satz nicht beenden, Mrs. Burton hatte sich schon auf sie gestürzt.

Gwendolyn konnte an nichts anderes denken als an ihr Meisterwerk, dessen Überreste nun im Esszimmer verstreut lagen. So viel Mühe und Geld hatte sie in diesen Abend investiert, und diese Idiotin hatte alles verdorben.

«Was glaubst du eigentlich, wer du bist!», schrie sie Molly vollkommen außer sich an und riss ihr das Haarnetz vom Kopf. «Eingebildetes schwarzes Biest! Weißt du vielleicht nicht, dass Sklavinnen sich nicht schmücken dürfen?» Dann schlug sie Molly mit solcher Wucht ins Gesicht, dass diese beinahe zu Boden ging.

Auf die schallende Ohrfeige folgte absolute Stille. Gwendolyn war zu weit gegangen, niemand hatte das Recht, die Sklaven eines anderen zu bestrafen. Molly war wie gelähmt und wagte nicht einmal zu zittern. Gerade wollte Katherine sich erheben, als David ihr zuvorkam. «Molly, geh hinaus.» Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Sofort rannte sie los, als hinge ihr Leben davon ab.

«Dieser Zwischenfall tut mir außerordentlich leid», entschuldigte David sich bei Edward Burton, der vergeblich versuchte, die Fassung zu bewahren. «Ich gebe dir mein Wort, dass die Sklavin angemessen getadelt wird.»

«Es war nur ein kleiner Unfall. Lassen wir uns nicht den Abend verderben.»

Aber für Gwendolyn Burton war der Abend bereits verdorben. «Wie kann man einer Sklavin erlauben, sich derart anzuziehen. Als wäre sie eine große Dame! Was glaubt sie bloß, wer sie ist? Jemand musste ihr zeigen, wo sie hingehört», zeterte sie jetzt, nachdem sie ihre Wut nicht mehr direkt an Molly auslassen konnte.

In Davids Gesicht machte sich Anspannung bemerkbar. Gwendolyn Burtons Anschuldigungen wuchsen sich zu einem persönlichen Angriff auf seine Frau aus. Und auch Edward Burton war das offensichtlich klar geworden. «Es reicht», unterbrach er seine Frau, bevor sie noch mehr Unsinn von sich gab und seine gute Beziehung zu David gefährdete. «Gwendolyn! Es war ein Unfall!», sagte er mit Bestimmtheit, damit sie endlich ihre Fassung wiedererlangte. Offensichtlich begriff sie nicht, in was für eine heikle Situation sie ihn brachte.

Katherine, die Gwendolyn eben noch mit ihren Blicken förmlich durchbohrt hatte, lächelte jetzt und entspannte sich ein wenig. Schließlich sollte niemand bemerken, wie persönlich dieser Affront gewesen war. «Es tut mir so leid um den Schwan. Er sah so hübsch und lecker aus! Ich habe noch nie so etwas Nettes gesehen», sagte sie mit engelsgleichem Gesicht und legte ihre Hand entschuldigend aufs Herz. Gleichzeitig schwor sie innerlich, dieser lächerlichen Frau nie zu verzeihen, dass sie Molly gedemütigt hatte.

Trotz aller Bemühungen, das Geschehene zu vergessen, verlief der Rest des Abends angespannt, und die Gäste verabschiedeten sich, sobald die Etikette es erlaubte.


Es war schon spät, als sie nach New Fortune zurückkehrten. Molly folgte Katherine in ihr Zimmer. David, der die Sklavin auf der Rückfahrt keines Blickes gewürdigt hatte, entschuldigte sich und begab sich in die Bibliothek. Er hatte noch einiges zu tun.

Die Knoten in Katherines Korsett wollten sich heute nicht lösen lassen.

«Mrs. Burton ist eine Idiotin», rief Katherine, während Molly mit den Bändern kämpfte.

Keine Antwort.

«Es war wirklich ein schrecklicher Abend!»

Aber Molly sagte immer noch nichts. Die Finger wollten ihr nicht gehorchen. Erst beim dritten Versuch gab der Knoten nach, und Molly konnte Katherine das Korsett abnehmen und das Nachthemd anziehen. Danach setzte Katherine sich vor die Frisierkommode. Eine nach der anderen zog Molly die hübschen Haarnadeln aus der Frisur und bürstete ihr wie jeden Abend das Haar. Im Spiegel konnte Katherine das Gesicht ihrer Sklavin betrachten.

Ihr Blick hatte sich im Nichts verloren. Man sah, dass sie geweint hatte, denn ihre Augen waren geschwollen. Sie war furchtbar blass, nur an der Stelle, wo Gwendolyn Burton sie geschlagen hatte, konnte man noch immer eine Rötung erkennen.

«Mach dir keine Gedanken. Alles ist gut», tröstete Katherine sie liebevoll. Eine einzelne Träne bahnte sich einen Weg über Mollys Wange.

«Es ist mir unbegreiflich, wie jemand, der aussieht wie eine Tonne, ein solches Kleid anziehen kann. Sie war lächerlich! Und etwas so Kitschiges wie einen beleuchteten Schokoladenschwan habe ich seit der Geburtstagsfeier meiner Nichte Rona nicht mehr gesehen.»

Endlich erschien der Anflug eines Lächelns auf Mollys Gesicht.

Beim letzten der hundert Bürstenstriche klopfte es, und David stand in der Tür. Die Eheleute sahen sich an. Molly ließ Katherines Haar offen über ihre nackten Schultern fallen, legte die Bürste auf die Kommode, hob das Kleid vom Boden auf und verließ den Raum.

Nicht einmal Katherines freundliche Worte hatten die Sorgen vertreiben können, die Mollys Herz bedrückten. Sie konnte nicht aufhören, an diesen Vorfall zu denken. Wie immer hatte Katherine die Sache heruntergespielt, aber Molly ahnte, dass David Parrish nicht so nachgiebig sein würde.

Mit dem ausladenden Kleid ihrer Herrin in der einen Hand und der Öllampe, mit der sie die enge und steile Dienstbotentreppe beleuchtete, in der anderen stieg Molly vorsichtig in die Küche hinunter.

Auf den letzten Stufen erkannte sie Thomas’ offenes Lachen. Er amüsierte sich prächtig über einen von Olivias unvorsichtigen Scherzen über die Herrschaft. Die Nacht war so still, dass man ihre Worte auch außerhalb der Küche gefährlich gut hören konnte. Aber sobald die beiden Sklaven Molly bemerkten, verstummten sie.

«Guten Abend», sagte Molly, aber keiner der beiden antwortete. Wie immer sah Olivia sie nicht einmal an, sondern grunzte nur und sah nach, ob das Wasser auf dem Herd endlich kochte. Thomas, der vor der Speisekammer saß, nahm einen tiefen Zug aus seiner Pfeife, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schloss genüsslich die Augen.

Der Herr wollte sich also noch nicht zurückziehen, dachte Molly, sonst hätte Thomas schon die Erlaubnis bekommen, ins Bett zu gehen, und Olivia würde zu so später Stunde keinen Kaffee mehr kochen. Vielleicht würde David, nachdem er mit Katherine geschlafen hatte, wieder ins Arbeitszimmer gehen und noch arbeiten.

Molly war müde. Die heftigen Gefühle dieses Tages hatten sie erschöpft. Sie wäre Olivia und Thomas für ein paar tröstende Worte dankbar gewesen, aber die beiden hatten sie immer wie eine Fremde behandelt. Sie hätte sich an das Misstrauen gewöhnen sollen, das ihre Gegenwart bei den übrigen Sklaven weckte, aber sie konnte es einfach nicht.

Fast konnte Molly hören, wie ihr Herz vor Traurigkeit zersprang. Am liebsten hätte sie geweint. Doch noch konnte sie sich nicht in die Sicherheit ihres Zimmers zurückziehen, wo ihre Hautfarbe weder Schwarze noch Weiße störte. Das musste warten. Zuerst musste sie den Saum von Katherines Kleid säubern und flicken.

Es wäre schön gewesen, in der Küche bleiben zu können und bei der Arbeit mit den anderen zu plaudern. Was hätte sie darum gegeben, sich neben Thomas zu setzen und sich von seinem Lachen anstecken zu lassen. Aber wie immer wollte sie niemanden stören und es allen nur recht machen. Und je mehr sie sich darum bemühte, desto weniger kam dabei heraus. Nun, diese Nacht würde sie ohnehin keinen vorwurfsvollen Blick mehr ertragen. Sie begab sich also in die kleine Kammer neben der Küche, in der die Bügelwäsche aufbewahrt wurde. Sie schloss die Tür hinter sich, stellte die Öllampe neben einen großen Haufen Bettwäsche, der noch nicht zusammengelegt worden war, auf den Tisch.

Kaum hatte sie sich an die Arbeit gemacht, hallte das Lachen von Thomas und Olivia wieder durch die Dunkelheit.

Fast eine Stunde später hatte Molly den Saum mit einem feuchten Tuch von Erde befreit und die Stellen, an denen die Naht aufgegangen war, wieder festgenäht. Dann legte sie das Kleid vorsichtig über einen Stuhl, damit es keine Falten bekam. Am nächsten Tag wäre es trocken, und Molly könnte es wieder an seinen Platz in Katherines Kleiderschrank hängen.

Als sie aus der Kammer trat, brannte in der Küche noch ein Licht, aber es war niemand da. Olivia hatte sich wahrscheinlich bereits in das Zimmer zurückgezogen, das sie mit Latoya teilte, es ging von einem der hinteren Flure ab.

Der kräftige Kaffeeduft und die Schüssel mit Äpfeln auf dem Tisch erinnerten Molly daran, dass sie seit Stunden nichts mehr zu sich genommen hatte, aber trotz ihrer Schwäche konnte sie nichts essen. Ihr Magen hatte sich schmerzhaft zusammengezogen, und für einen Moment hatte sie fast das Gefühl, das würde sich nie mehr ändern.

Gerade wollte Molly in ihr Zimmer hinaufgehen, als Thomas mit einem Tablett unter dem Arm in der Küche erschien.

«Gute Nacht», verabschiedete Molly sich mit einem leisen Gähnen und erwartete eigentlich keine Antwort.

«Du sollst zum Herrn kommen», sagte Thomas, als Molly mit ihrem zarten Schuh schon auf die erste Stufe getreten war.

Vor Schreck blieb ihr das Herz stehen. Fragend blickte sie den Sklaven an. «Weißt du, was er von mir will?»

Thomas schüttelte den Kopf. «Nein. Aber er sieht ärgerlich aus.»

Schweigend nickte Molly. Ihr stockte der Atem, wie immer, wenn sie nervös war.

«Soll ich auf dich warten?»

Molly konnte zuerst gar nicht darauf antworten. Natürlich war ihr klar gewesen, dass David den Vorfall bei den Burtons nicht einfach vergessen würde, aber da er sie nicht sofort zu sich bestellt hatte, hatte sie zu hoffen gewagt, dass er die Angelegenheit auf sich beruhen lassen würde. Sie sah Thomas an. «Danke, aber es ist schon spät, und du musst morgen früh aufstehen.»

Thomas lächelte. Seit langer Zeit war es das erste Mal, dass jemand außer Katherine ihr zulächelte.

Molly verließ die Küche und ging in die Bibliothek. Ihr Kopf explodierte beinahe vor Furcht. Seit diese schreckliche Gwendolyn Burton beschlossen hatte, ihre Wut an ihr auszulassen, hatte sie gewusst, dass dieser Moment kommen würde.

David bemerkte sie zunächst nicht. Er schien in die Lektüre einiger Papiere vertieft, die neben einer Tasse Kaffee auf dem Tisch verstreut lagen. Eine Öllampe tauchte den Raum in ihr orangefarbenes Licht.

Molly zögerte. Sollte sie eintreten oder warten, bis David ihrer gewahr wurde? Schließlich entschloss sie sich, vorsichtig an den Türrahmen zu klopfen.

David hob seinen Blick nur so weit, dass er erkennen konnte, wer ihn störte. «Ah, du bist es», sagte er und wirkte verärgert über die Unterbrechung. Er wandte sich wieder den Papieren zu und nahm einen Schluck vom noch dampfenden Kaffee.

«Verzeihung, Herr», antwortete Molly mit dünner Stimme. «Thomas hat mir gesagt, dass Ihr mich sehen wollt.»

«Ja. Komm herein.»

Molly schwitzte, als sie die Tür hinter sich schloss. Sie verschränkte die Hände hinter dem Rücken, um das Zittern zu verbergen, das ihren Körper schüttelte.

«Komm näher.»

Molly gehorchte. Obwohl sie direkt vor David stand, sah dieser sie nicht an. Er war vollends damit beschäftigt, ein Buch mit grünem Einband aus einem Stapel auf der hinteren Ecke des Schreibtisches zu ziehen.

«So kann es nicht weitergehen.»

Molly spürte, wie ihre Wangen brannten. Fast war sie dankbar dafür, dass David sie noch kein einziges Mal angesehen hatte.

«So ein Vorfall wie heute darf sich auf keinen Fall wiederholen.»

Am liebsten wäre Molly in den Boden versunken, aber die Erde machte keine Anstalten, sich zu öffnen. «Es tut mir schrecklich leid, Herr», stotterte sie, «ich schwöre, dass so etwas nicht wieder vorkommt.»

Endlich blickte David von seinem Buch auf und sah Molly direkt ins Gesicht. Seine Augen waren kalt geworden. Molly erinnerte sich an diesen Blick. Schon einmal hatte sie diesen Ausdruck an ihm gesehen, in New Orleans, als er erfahren hatte, dass sie eine Sklavin war. Damals hatte sie geglaubt, dass sie es sich vielleicht nur eingebildet hatte, aber jetzt verstand sie. Dieser Mann verachtete sie zutiefst.

«Das hier ist nicht New Orleans», warnte er sie. «Wir sind in Virginia, und du musst wissen, wo dein Platz ist.»

Molly schwieg. Auch wenn seine Stimme ruhig war, sie konnte diese kalten Augen nicht vergessen, die ihr das Herz gefrieren ließen. Als hätte sie nicht immer gewusst, wo ihr Platz war, dachte sie. Schon mit sechs Jahren hatte sie das herausgefunden, als sie gewagt hatte, ihrer ersten Herrin zu widersprechen. Damals hatte sie eine Tracht Prügel bezogen, die Narben konnte man noch immer auf ihrem Rücken sehen. Dann hatte man sie verkauft. Seither hatte sie in Katherines Diensten gestanden, und eigentlich war es Katherine, die vergessen hatte, wo der Platz ihrer Sklavin war.

«Ich bitte um Verzeihung, Herr», sagte sie noch einmal und senkte den Kopf, um seinem Blick auszuweichen.

«Dein Aufzug ist nicht sehr hilfreich dabei.»

Molly war sich bewusst, dass er recht hatte. Es war nicht nur ihr Aussehen, ihre zu helle Haut. Noch dazu trug sie ein schöneres Kleid, als viele weiße Frauen es sich erlauben konnten. Dabei gefiel es Molly nicht einmal, sich so herauszuputzen. Schließlich konnten sich die Weißen dann noch weniger vorstellen, dass eine Person mit ihren Gesichtszügen, der hellen Haut und der gepflegten Ausdrucksweise eine Sklavin war. Katherine aber bestand darauf, dass sie sich gut kleidete. Schließlich kostete es kaum Mühe, und sie wäre doch viel schöner anzuschauen. «Ich versichere Euch, dass es nicht wieder vorkommen wird, Herr.»

«Noch etwas.»

Molly erstarrte.

«Ich vertraue darauf, dass dieses Gespräch unter uns bleibt.»

«Ja, Master David.» Anscheinend war David nicht bewusst, dass Katherine nicht das geringste Interesse daran hatte, irgendetwas von diesem Gespräch zu erfahren.

Jetzt wandte ihr Herr sich wieder seinen Papieren zu. Das Gespräch war beendet.


Die Unterredung mit David hatte Molly endgültig aus ihrem zerbrechlichen Gleichgewicht gerissen. Sie musste erst einmal tief durchatmen. Anstatt gleich in ihr Zimmer zu gehen, trat sie aus der Küche nach draußen.

Die Luft war kühl. Bis jetzt war der Oktober warm gewesen, es hatte kaum geregnet. Aber in dieser Nacht kam es Molly so vor, als würde sie die Feuchtigkeit wahrnehmen, die ein Gewitter ankündigt. Sie atmete tief ein. Nach dem kurzen Gespräch fühlte sie sich kraftlos. Sie sehnte sich nach Frieden.

Als sie dort auf der hinteren Veranda des Hauses stand, suchte sie im Himmel nach etwas Vertrautem. Aber sogar die Sternbilder erschienen ihr fremd. Hier war ihr Licht viel schwächer und kälter als am Himmel über New Orleans, wo man den Eindruck hatte, nur die Hand ausstrecken zu müssen, um sie berühren zu können. Die Sterne über New Fortune waren schrecklich weit weg.

Molly seufzte. Sie vermisste den Duft der Magnolien und die Gerüche der scharfen Gewürze, die in der Luft hingen. In New Orleans hörte man nachts immer das entfernte Echo irgendeiner Gruppe Musikanten. Die schwüle Hitze hinderte die Menschen am Schlafen, und so waren die Straßen bis in die frühen Morgenstunden hinein voller Leben.

Sie vermisste ihr Zuhause. Der Gedanke überraschte sie. Nie zuvor hatte sie an Deux Chemins als an ihr Zuhause gedacht. Sie hatte erst Hunderte von Meilen reisen müssen, um das herauszufinden.

Wehmütig erinnerte sie sich an die nächtlichen Spaziergänge mit Katherine am Ufer des Sees, an ihr Zimmer und ihr ganzes früheres Leben. Wie ihr das alles fehlte. In New Orleans kannten sie alle und wussten, welches ihre Stellung war. Dort war das Leben viel einfacher gewesen.

Müde lehnte sie sich an eine der Säulen der Veranda. Nicht weit von hier, hinter den dunklen Umrissen der Bäume schliefen die Sklaven in ihrem Hüttendorf. Vielleicht wäre es besser, dort zu sein, dachte sie, verwarf diesen Gedanken aber sofort mit einem gewissen Unbehagen, als sie sich vorstellte, was für ein elendes Leben sie an diesem Ort führen würde. Immer schon hatte sie unter Weißen gelebt, und sie konnte es sich nicht vorstellen, auf die Annehmlichkeiten des Herrenhauses zu verzichten und in eine kalte und dreckige Holzhütte zu ziehen. Außerdem wäre sie dort nicht weniger ein Eindringling.

Noch einmal sog sie die reine Luft ein. Es war Zeit, in ihre Dachkammer hinaufzusteigen, am nächsten Morgen würde sie früh aufstehen müssen.

Gerade wollte sie die Küche betreten, als eine Gestalt aus dem Schatten trat. «Ein schöner Abend», sagte eine Stimme, und kurz darauf erkannte Molly ihren Besitzer.

«Master Owen», rief sie aus und trat einen Schritt zurück.

«Kannst du nicht schlafen?»

Molly gab keine Antwort. Wie lange mochte dieser Mann schon dort gestanden haben? Bei der Vorstellung, dass er sie in der Dunkelheit beobachtet hatte, bekam sie eine Gänsehaut.

Owen indessen schien durch das Schweigen der Sklavin nicht entmutigt zu werden. In aller Ruhe nahm er seine Pfeife aus der Brusttasche und riss ein Streichholz an der Säule an, an der Molly eben noch gelehnt hatte. Starker Geruch nach Tabak durchdrang die Luft.

Molly wollte an ihm vorbei ins Haus gehen, aber plötzlich hatte der Aufseher mit seinem Körper die Küchentür verstellt. Als sie sich nach rechts wandte, um ihm auszuweichen, trat er ihr wieder in den Weg.

Während Angst sich in ihrem Herzen ausbreitete, suchten ihre Gedanken verzweifelt nach einem Ausweg. In der Küche war niemand mehr, der ihr hätte helfen können. Olivia, Thomas und Latoya waren schon vor einer Weile ins Bett gegangen. Zwar waren ihre Kammern nicht weit weg, aber wenn es dem Aufseher einfallen würde, sie mitten auf dem Küchenfußboden zu vergewaltigen, könnten ihn nicht einmal zwei Millionen Sklaven davon abhalten. Kein Sklave auf New Fortune hätte je gewagt, sich ihm entgegenzustellen. Wäre sie doch nach dem Gespräch mit David direkt auf ihr Zimmer gegangen! Das war es! Master David war noch wach. Owen würde niemals riskieren, sich von David mit der Sklavin seiner Ehefrau erwischen zu lassen. Irgendwie musste sie ins Haus gelangen. Dort würde sie sicher sein.

Aber bevor Molly etwas unternehmen konnte, ging Owen noch einen Schritt auf sie zu. Langsam wich sie immer weiter zurück, bis sie gegen die Wand stieß. Jetzt saß sie in der Falle! Nervös blickte sie auf. Der Aufseher stand so nah vor ihr, dass ihr Gesicht fast sein Hemd berührte. Er roch so stark nach Tabak, dass Molly übel wurde.

Owen sah ihr in die Augen. Molly fürchtete, ohnmächtig zu werden. Sie wusste genau, was er wollte. Schon oft hatte sie die Begierde im Blick eines Mannes gesehen. Und das Schlimmste war, dass sie überhaupt nichts tun konnte. Sie hatte ja nicht einmal das Recht, sich zu verteidigen. Schließlich war sie nichts weiter als eine Sklavin, und das war es eben, was mit Sklavinnen geschah, die das Pech hatten, hübsch geboren zu sein. Es war mit ihrer Urgroßmutter geschehen, ihrer Großmutter, ihrer Mutter, und ihr würde es genauso ergehen. Schon immer hatten die Frauen ihrer Familie die Blicke der weißen Herren auf sich gezogen.

«Wie weiß du bist …» Ohne den Blick von Mollys sinnlichem Mund zu wenden, streckte der Aufseher seine Hand nach ihr aus. Während er ihr mit seinen rauen Fingern über die Wange strich, hielt Molly den Atem an. Sie war starr vor Angst. Dieser Mann würde vor nichts zurückschrecken.

Als Owen Graham die zarte Haut der Sklavin berührte, kam er sich derb und unbeholfen vor. Durch die jahrelange schwere Arbeit waren seine Hände hart geworden. Wieder sah er Molly an. Er war ihr so nah, dass er ihren hektischen Atem spürte.

Plötzlich hielt er inne. Vielleicht hatte er das stille Flehen in ihren Augen gesehen. Er ließ seine Hand sinken und trat einen Schritt zurück. «Gute Nacht, Molly.»

Mit heftig klopfendem Herzen und zitternden Knien rannte Molly in ihr Zimmer hinauf, so schnell sie nur konnte.

***

Kurz nachdem Molly sein Arbeitszimmer verlassen hatte, bekam David Durst. Er hob den Glaskrug an, den Thomas mit dem Kaffee gebracht hatte, und stellte fest, dass er leer war. Ungehalten verließ er das Zimmer, den Krug in der Hand, und tastete sich durch den Flur zur Küche vor.

Die Küche wurde von der schwachen Flamme einer Öllampe erhellt. Jemand war so unvorsichtig gewesen, die Lampe nicht zu löschen. David nahm sich vor, am nächsten Tag herauszufinden, wer der Verantwortliche war. Er würde über eine Gedankenlosigkeit, die New Fortune in wenigen Stunden in Asche verwandeln könnte, nicht hinwegsehen.

Das schummrige Licht genügte ihm zur Orientierung. David trat vor die Pumpe und wollte gerade den Schwengel betätigen, als er draußen jemanden bemerkte. Wahrscheinlich war der Sklave, der die Flamme hatte brennen lassen, kurz vor die Tür gegangen. Gut, dachte David zufrieden bei sich, dann war auch niemand unvorsichtig gewesen. Er ging zum Fenster und zog die Gardine zur Seite, die ihm die Sicht nach draußen versperrte.

Es war kein Sklave, der sich auf der Veranda herumtrieb. Es war Owen Graham, aber er hatte David nicht bemerkt. Er schien mit etwas an der Wand beschäftigt zu sein. Instinktiv duckte David sich ein wenig. Da war noch jemand bei Owen. Aber wer? David presste sein Gesicht an die Scheibe. Zwar konnte er die andere Person nicht sehen, aber das war auch gar nicht nötig. Dieses rote Kleid würde er überall wiedererkennen. Jetzt begriff er, was vor sich ging.

Gerade hatte David beschlossen dazwischenzugehen, als Molly schon in die Küche gestürzt kam. All das geschah so schnell, dass David gerade noch Zeit hatte, der Sklavin auszuweichen und sich gegen eine Wand zu drücken. Sie hatte es so eilig zu entfliehen, dass sie ihren Herrn gar nicht bemerkte. Im Vorbeilaufen schnappte sie sich die Öllampe vom Tisch und rannte wie der Blitz die Treppe hinauf.

Fast gleichzeitig verließ Owen die Veranda.

Nur das gedämpfte Licht der Sterne fiel noch durch die Fensterscheiben in die Küche. David verfluchte das plötzliche Verschwinden der Lampe, machte sich aber endlich daran, den Krug zu füllen.

In der Tat, dachte David, während er sich zum Ausgang der Küche tastete, Molly war eine schöne Frau. Zweifellos die schönste Sklavin, die er jemals besessen hatte.

Fesseln des Schicksals
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