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Molly stand auf, sobald der Morgen graute. Noch eine Minute länger im Bett, und sie würde verrückt werden. Sie musste unbedingt irgendetwas tun, um sich von den unangenehmen Ereignissen des Vortags abzulenken. Die Demütigung bei den Burtons, das Gespräch mit David und die bedrohliche Begegnung mit dem Aufseher hatten ihre Nerven blank gelegt. Die ganze Nacht hatte sie wach gelegen und auf die Geräusche gelauscht, die aus der Dunkelheit kamen, voller Angst, dass sich vielleicht die leisen Schritte des Aufsehers dahinter verbargen, der sich heimlich in ihr Zimmer schleichen wollte. Inständig flehte sie, dass dieser Mann sie vergessen möge.
Nachdem sie sich das Gesicht gewaschen hatte, spürte sie, dass sie sich langsam wieder in den Griff bekam. Davids Worte waren deutlich gewesen. Ihr Aussehen musste sich verändern. Sie musste sich schlichter kleiden. Das war gar nicht so einfach, denn Molly hatte sich immer gut angezogen. Und fast alle ihre Kleider hatten vorher Katherine gehört.
Zum Glück fand sie ein Kleid, das für ihre Zwecke geeignet war. Sie würde es ein wenig ändern müssen, aber zumindest war der Stoff von einer diskreten Farbe und so unmodern, dass er nicht weiter auffallen würde.
Sie nahm etwas Stoff aus dem Rock, damit er weniger ausladend fiel, trennte die Spitzen und Volants ab und ersetzte den spitz zulaufenden Ausschnitt durch einen runderen, unauffälligeren. Einige Zeit später betrachtete sie zufrieden ihr Werk, verstaute dann den übrig gebliebenen Stoff sorgsam in ihrem Koffer und zog das Kleid an. Dann steckte sie ihr Haar hoch und versteckte es unter einem bunten Tuch, das Katherine ihr vor kurzem geschenkt hatte. Ein Blick in den Spiegel der Frisierkommode zeigte ihr, dass sie blass war und tiefe Ringe unter den Augen hatte. Trotz des einfach geschnittenen Kleides war sie noch immer eine attraktive junge Frau. Aber vielleicht würden die Dinge jetzt einfacher werden. Mit dem neuen Aussehen würden die Leute hoffentlich auch ohne Erklärungen erkennen, dass sie eine Sklavin war. Und vielleicht, so hoffte sie inständig, genügte ihr schlichteres Äußeres auch, um sich vor den Zudringlichkeiten des Aufsehers zu schützen.
Sie brauchte ein wenig Zeit, um sich in der Unbekannten wiederzuerkennen, die sie aus dem Spiegel anblickte. Als sie sich bereit fühlte, atmete sie tief ein und verließ das Zimmer. Wie jeden Morgen verstummten die Sklaven, sobald sie Mollys Schritte auf der Treppe hörten. Aber diesmal, anstatt einfach so zu tun, als wäre sie nicht da, musterten Latoya, Thomas und Olivia sie von oben bis unten. Molly verspürte einen winzigen Anflug von Freude. Fast genoss sie diesen Moment ein wenig. Sie wünschte allen einen guten Morgen und nahm sich eine Tasse Kaffee, ohne auf eine Erwiderung ihres Grußes zu warten. Als Latoya das Frühstück fertig hatte, holte sie schnell das hellblaue Kleid aus der Kammer neben der Küche.
Wenige Minuten später trat Molly mit dem Kleid über dem Arm in das Zimmer ihrer Herrin. Latoya folgte ihr mit dem Frühstückstablett.
«Guten Morgen, Molly», gähnte Katherine ungeniert und reckte und streckte sich. Master David hatte schon vor Stunden im Esszimmer gefrühstückt und war auf die Felder geritten. Molly lächelte Katherine zu. Sie hängte das Kleid in den Schrank, zog die Gardinen zur Seite und hob Katherines Morgenmantel vom Boden auf.
Latoya verließ das Zimmer wieder, nachdem sie das Frühstück auf einem Marmortisch abgestellt und ihrer Herrin einen guten Morgen gewünscht hatte.
Katherine war bester Laune. Sie sprang aus dem Bett, nahm Mollys Gesicht in die Hände und drückte ihr einen lauten Kuss auf die Wange.
«Ich bin so glücklich! Ich hätte nicht gedacht, dass man so glücklich sein kann!»
Molly lächelte traurig. Sie selbst konnte sich kaum vorstellen, was Glück überhaupt war.
Erstaunt trat Katherine einen Schritt zurück. «Und dieses Kleid?»
Molly wusste nicht, was sie sagen sollte.
«Wenn es wegen gestern Abend ist …»
«Nein, Katty», widersprach sie etwas zu schnell, «ich glaube, so werde ich mich wohler fühlen. Wirklich.»
Katherine wollte schon protestieren. Molly war schließlich nicht wie die anderen Sklavinnen. Sie war ihre Freundin, und Katherine würde nicht erlauben, dass die dummen Komplexe einer schamlosen Harpyie Einfluss darauf hatten, wie sie ihre Sklavin anziehen oder behandeln sollte. Aber etwas in Mollys Blick, ein stummes Bitten oder vielleicht der deutliche Glanz von Tränen, brachte sie dazu, ihre Meinung zu ändern.
«Wie du willst, Molly. Wenn du dich wohler fühlst, kannst du dich natürlich so anziehen.»
Katherine war keinesfalls dumm, auch wenn sie sich manchmal bemühte, genau diesen Eindruck zu erwecken. Und sogar ein Blinder hätte bemerkt, dass Molly sich verändert hatte. Die Ringe unter den Augen wurden jeden Tag tiefer. Ihre Bewegungen waren langsamer geworden, und mehr als einmal hatte sie zerstreut und abwesend gewirkt.
Katherine sah ihr in die Augen. «Geht es dir auch gut, Molly?»
Molly war eine Sekunde lang versucht, ihr das Herz auszuschütten und ihr von dem Zwischenfall mit dem Aufseher zu erzählen. Fast hätte sie zugegeben, wie sehr sie sich nach ihrem Zuhause in New Orleans sehnte und wie hart es war, ständig die misstrauischen Blicke der anderen Sklaven ertragen zu müssen.
Aber Molly wusste, dass Katherine es im Grunde ihres Herzens vorzog, nichts von den Schwierigkeiten ihrer Sklavin zu hören. Ihr Glück sollte nicht durch die Probleme anderer Menschen getrübt werden.
«Alles ist in Ordnung, Katty.»
Obwohl Katherine ahnte, dass das nicht stimmte, seufzte sie doch erleichtert auf. Alles war gut.
«Master David wartet schon. Wenn du dich nicht beeilst, wirst du auch diesen Sonntag zu spät kommen», sagte Molly.
«Auf keinen Fall!» Katherine ergriff dankbar die Gelegenheit, das Thema zu wechseln. «Heute werde ich pünktlich sein.»
Wie sonst auch trank Katherine nur eine halbe Tasse Tee und verschmähte das Frühstück aus Buttertoast mit Himbeermarmelade. Sie begnügte sich damit, an einem der geschälten Apfelschnitze zu nagen, die Latoya auf einem Tellerchen aus hauchdünnem Porzellan bereitgestellt hatte.
Zwanzig Minuten später traf Katherine ihren Mann im Empfangszimmer. Sie hatte ein dezentes Kleid mit spitzem Ausschnitt gewählt, das für einen Gottesdienst in der sittenstrengen Gesellschaft Virginias mehr als angemessen war.
***
Nach der Messe plauderten David und Katherine noch ein wenig mit ihren Nachbarn und kehrten dann nach New Fortune zurück. Zu Mittag speisten sie gegrilltes Lamm mit Gemüse, zum Dessert gab es einen köstlichen Pudding, den Olivia aus den letzten Brombeeren der Saison zubereitet hatte.
Am Nachmittag fuhr David zu Ross Dugans Plantage, um sich von seinem Freund zu verabschieden. Am nächsten Tag würde Dugan in den Westen zurückkehren. Mit einigen Indianerstämmen hatte es Probleme gegeben, und sein Regiment hatte die Aufgabe, für die Sicherheit der Siedler zu sorgen. Vielleicht würden ein paar Jahre vergehen, bevor sie sich wiedersahen. Vielleicht kehrte Ross Dugan aber auch nie zurück, wie viele andere, die vor ihm in diese unwirtliche Gegend aufgebrochen waren.
Während David in Gesellschaft einiger Freunde einen guten schottischen Whisky trank, wurden auf New Fortune zwanzig Paar Vorhänge aus feinstem Samt angeliefert. In nur einer Stunde waren die alten Stores ersetzt. Als Katherine feststellte, wie elegant sich der blaue Samtstoff von den hellen Farbtönen der Wände abhob, nickte sie zufrieden. Damit war die Renovierung der schönen Villa mit der weißen Fassade vollendet. New Fortune war endlich bereit, seine Nachbarn zu empfangen. Man müsste nur noch ein passendes Datum für die Feier finden.
***
David war in aller Frühe aufgebrochen. Da er einiges in Richmond zu erledigen hatte, hatte er angeboten, Ross Dugan in die Stadt zu bringen. Dugan würde am Bahnhof in den Zug steigen und über den Norden in die Westgebiete fahren. David hingegen würde sich mit Senator Browning treffen, mit dem er Geschäftliches zu besprechen hatte. Nach ein paar Einkäufen, die Katherine ihm aufgetragen hatte, würde er noch am gleichen Abend nach New Fortune zurückkehren.
Es war zwar erst sieben Uhr morgens, aber Katherine war voller Energie. David hatte ihr die Erlaubnis gegeben, einen Ball zu veranstalten. Es würde die prachtvollste Feier der Saison werden. Es gab viel zu tun: Die Einladungen mussten geschrieben werden, das Menü ausgewählt, das Haus dekoriert. Man musste an so viele Dinge denken, es war keine Minute zu verlieren.
Schwungvoll stieg sie aus dem Bett. Sie konnte unmöglich warten, bis Molly sie in ein paar Stunden wecken würde. Sie musste unbedingt jetzt schon mit ihr sprechen.
Von ihrem Zimmer im ersten Stock aus durchquerte sie den kleinen Flur, der zur Dienstbotentreppe führte. Gerade wollte sie die Stufen hinaufsteigen, als sie sah, wie sich eine Gestalt über den unteren Treppenzug entfernte. Es war David. Er musste in der oberen Etage gewesen sein. Sie wollte ihn schon rufen, aber er hatte sie nicht bemerkt und schien es eilig zu haben. Es kam ihr sonderbar vor, dass er noch nicht weg war, aber sie maß dem keine weitere Bedeutung bei. Sie wandte sich wieder der Stiege zu, die sie bis jetzt noch nie benutzt hatte und die ihr steiler vorkam als normale Treppen. Es war leicht, Mollys Zimmer zu finden: Vom schmalen Gang im Dachgeschoss ging nur eine Tür ab. Jetzt fiel Katherine auf, dass sie noch nie in Mollys Zimmer gewesen war, nicht einmal, als sie noch in New Orleans gelebt hatten. Ohne zu klopfen, öffnete sie die Tür und trat ein.
Der Raum war zwar klein, aber sauber, und es gab ein hübsches kleines Fenster. Katherine erkannte die geblümte Decke, die sie Molly geschenkt hatte, und bemerkte den Riss, der sich durch den einzigen Spiegel im Zimmer zog. Man müsste ihn auswechseln lassen, dachte sie und wunderte sich, wo Molly war. Vielleicht war sie schon in der Küche. Gerade wollte sie nach unten laufen und nach ihr suchen, als sie hinter der Tür ein Wimmern hörte. Verwundert schloss Katherine die Zimmertür und entdeckte Molly, die sich eng in die Ecke gekauert hatte. Erschrocken beugte Katherine sich zu ihr herunter. Mollys Nachthemd hing in Fetzen von ihr herab, und ihr ganzer Körper war voller Blutergüsse.
«Molly?», rief Katherine sanft und versuchte vergeblich, der Sklavin in die Augen zu sehen, die ihr Gesicht verbarg. Als sie sich noch verzweifelter gegen die Wand drückte und ihren Kopf zwischen den Knien versteckte, verrutschte das Nachthemd, und Katherine erhaschte einen Blick auf den Rücken der Sklavin. Entsetzt entdeckte sie darauf tiefe Narben. Jemand musste sie mit blinder Wut ausgepeitscht haben, so tief hatten sich die Spuren der Hiebe in ihre Haut gegraben. Sie kniete sich verwirrt neben Molly auf den Boden. Sanft berührte sie ihren Rücken und streichelte vorsichtig über die Narben. Molly musste noch ein Kind gewesen sein, als man sie geschlagen hatte. Katherine erschauerte am ganzen Körper. Wie konnte es sein, dass sie nie etwas davon erfahren hatte? Was gab es alles noch, was sie nicht wusste?
«Molly, bitte, sieh mich an», sagte sie liebevoll und legte ihrer Freundin die Hand auf die Schulter.
«Ich kann nicht.»
Behutsam hob Katherine Mollys Kinn an und zwang sie, ihr in die Augen zu sehen. In Mollys Blick las sie solche Schuldgefühle, so viel Verzweiflung und Schmerz, dass sie sie in die Arme nahm.
«Ich konnte nichts tun. Ich habe es versucht! Ich schwöre es dir! Ich konnte ihn nicht davon abhalten!», beichtete Molly schluchzend.
Katherine erstarrte. Plötzlich verstand sie die Eile, mit der David das Haus heimlich über die Dienstbotentreppe verlassen hatte.
Katherine hielt Molly, die noch immer schluchzte, weiter in ihren Armen. Nie hatte sie sich für das Leben ihrer Sklavin interessiert, und nun legten sich die Gewissensbisse schwer auf ihre Seele.
«Bitte verzeih mir, Molly», flüsterte sie. «Ich schwöre dir, dass ich nicht zulassen werde, dass dir noch einmal jemand wehtut.» Während Katherine ihre Freundin zu trösten versuchte, spürte sie, wie ihr Herz vor Hass zu Eis gefror.
***
Sobald seine Verpflichtungen es zuließen, machte David sich auf den Heimweg. Als er auf New Fortune ankam, dämmerte es gerade erst, aber Katherine hatte sich schon zurückgezogen. Zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte er die Treppe hinauf und blieb vor ihrem Schlafzimmer stehen. Kurz tastete er in seiner Tasche nach dem rubinbesetzten Ring aus Weißgold, den er ihr in Richmond gekauft hatte. Bei der Berührung des kühlen Metalls leuchtete sein Gesicht auf. Katherine würde sich freuen. Aber als er den Türgriff drehte, ging die Tür nicht auf. Er versuchte es wieder – ohne Erfolg. Katherine hatte abgeschlossen.
Sofort war ihm klar, dass seine Frau Bescheid wusste. Vielleicht hatte die Sklavin geredet, dachte er im ersten Moment, verwarf diesen Gedanken jedoch sofort wieder. Niemals hätte sie gewagt, ihn zu verraten. Kein Sklave würde je seinen Herrn beschuldigen. Aber er hatte einiges riskiert. Trotzdem wollte er diese Geschichte nicht zu ernst nehmen, denn ein Ausrutscher konnte jedem passieren, und obwohl es nicht offen ausgesprochen wurde, war man sich doch einig, dass ein Herr über die Sklavinnen in seinem Besitz verfügen konnte, wann immer es ihm beliebte.
Also beruhigte er sich und beschloss, im Gästezimmer zu übernachten. Am nächsten Tag würde er mit Katherine reden. Wenn er genügend Reue zeigte, würde sie sicher Verständnis haben und ihm verzeihen.
Aber als David seine Frau am nächsten Morgen traf, strahlten ihre Augen in einem veränderten Licht. David entdeckte etwas in ihnen, das er vorher nie gesehen hatte: die Flamme des Hasses. Es würde wohl doch schwieriger werden, ihre Vergebung zu erlangen.
Einen ganzen Tag lang sprachen sie nicht miteinander, sie sahen sich nicht einmal an. Entsetzt begriff David, dass die Frau, die eben noch so verliebt gewesen war, ihn plötzlich verabscheute. Und der stumme Hass, mit dem sie ihre Verachtung ausdrückte, war mehr, als er ertragen konnte.
Niemals hätte er die Sklavin anfassen dürfen, dachte er reumütig. Aber er konnte es nun mal nicht ungeschehen machen. Dennoch zermarterte er sich den Kopf. Es musste doch einen Ausweg geben. Sie war wütend und verletzt, aber sie musste doch Verständnis für ihn haben. Schließlich hatte es für ihn nichts bedeutet, und er liebte nur sie.
Trotz allem beschloss David, sie nicht um Vergebung anzuflehen. Das Beste war, ihr Zeit zu geben. Er würde weggehen und erst zurückkommen, wenn Katherine in Ruhe nachgedacht hatte und einsah, dass das Geschehene keine Bedeutung hatte. Schließlich war er ihr Mann, und diese Frau, die sie so mochte, war nichts weiter als eine Sklavin.
Noch am gleichen Abend verließ David New Fortune.
***
Im Dezember fielen die letzten Blätter von den Bäumen.
Katherine und Molly saßen auf der Veranda und ließen sich die Gesichter vielleicht das letzte Mal in diesem Jahr von der Sonne wärmen. Obwohl es noch recht mild war, hatte Katherine sich einen Wollschal umgelegt. Auch Molly saß, in eine Decke gewickelt, in einem Schaukelstuhl. Über ihnen zog ein Schwarm Wildgänse nach Süden, wo die Vögel vor dem harten, kalten Winter Zuflucht suchten.
Owen Graham ging an den beiden Frauen vorbei und grüßte mit der Hand am Hut. «Mrs. Parrish. Molly.»
«Guten Tag, Owen.»
Molly lächelte, sagte aber nichts.
Schon vor geraumer Zeit hatte der Vormann beschlossen, einfach zu vergessen, dass Molly eine Sklavin war.
«Gibt es Neuigkeiten?» Diese Frage war fast schon zur Gewohnheit geworden.
«Nicht sehr viele, Mrs. Parrish. Sie wissen ja, dass zu dieser Jahreszeit nicht viel auf der Plantage zu tun ist.»
Katherine nickte. Zwar hatte sie sich nie sonderlich dafür interessiert, wusste aber trotzdem einiges über den Anbau von Baumwolle. Sobald die Felder einmal gejätet und für die neue Ernte vorbereitet waren, musste man nur auf den nächsten Frühling warten. Daher hatte Davids Rückkehr sie auch so überrascht. Zuerst hatte sie angenommen, er suche noch einmal nach Versöhnung, aber nachdem er sie kein einziges Mal angesprochen hatte, schloss sie diesen Gedanken aus. Zum Glück verbrachte David die meiste Zeit in der Bibliothek.
An diesem Nachmittag war er ausgeritten und würde sicher nicht vor Ablauf einer Stunde zurückkommen.
«Setzen Sie sich doch einen Moment zu uns.» Der Aufseher ließ sich nicht lange bitten. Er war gern in Gesellschaft der beiden Frauen.
Katherine sah Owen dabei zu, wie er sich auf eine Stufe der Verandatreppe setzte. In dem sorgfältig rasierten Mann, der sein gebügeltes Hemd ordentlich zugeknöpft hatte, konnte sie den Menschen, der sie zu Beginn des Sommers begrüßt hatte, kaum wiedererkennen.
«Wie ich gehört habe, war einiges los», sagte der Aufseher.
«Sie meinen den kleinen Unfall gestern bei den Rennen? Das war gewiss sehr bedauerlich», sagte Katherine und schüttelte in übertriebener Weise den Kopf, während sich ein breites Lächeln auf ihrem Gesicht abzeichnete. «Es tat mir wirklich leid. Die arme Gwendolyn. Es muss schrecklich für sie gewesen sein, als ihr Stuhl zerbrach und sie so furchtbar auf den Rücken fiel. So ein Pech, nicht wahr, Molly?»
«Wirklich Pech!», grinste Molly komplizenhaft.
«Es ist doch erstaunlich, dass ein Stuhl dermaßen nachgeben kann. Und wenn man bedenkt, dass er eigentlich für Sie bestimmt war.» Owen Graham wirkte erleichtert. «Ich habe gehört, dass mehrere Männer helfen mussten, um sie aus dem Matsch zu ziehen.»
«Es war wirklich schrecklich», nickte Katherine. Mit schier übermenschlicher Anstrengung versuchte sie, ernst zu bleiben und nicht laut herauszulachen, als sie sich genüsslich ins Gedächtnis rief, wie Gwendolyn Burton im Dreck gelandet war, und zwar vor den Augen der wichtigsten Persönlichkeiten des County, die sich zu den traditionellen Pferderennen eingefunden hatten.
Natürlich ahnte Owen nicht, dass die Person, die für Gwendolyn Burtons Unglück verantwortlich war, genau vor ihm saß. Molly hingegen wusste es, obwohl Katherine ihr nichts gesagt hatte. Das war nicht nötig. In dem Moment, als Gwendolyn sich hinsetzte, hatte Katherine schnell zu Molly herübergesehen, wie um ihr ein Zeichen zu geben.
Als Gwendolyn vor allen Leuten auf dem Boden aufschlug, spürte Molly, dass ihre Demütigung gerächt war. Und Katherine hatte sogar dafür gesorgt, dass Molly dabei zusehen konnte. Es war das einzige Mal, dass die beiden Frauen New Fortune in den vergangenen Monaten verlassen hatten.
Während Owen noch einmal wiederholte, was für ein Glück es doch war, dass Mrs. Burton schließlich Katherines Platz eingenommen hatte, zwinkerten sich die beiden Frauen hinter seinem Rücken zu. Als Molly ein stummes «Danke» mit den Lippen formte, das tief aus ihrem Herzen kam, sah man zum ersten Mal seit langer Zeit wieder Freude in ihren Augen.
Owen bemerkte die heimlichen Botschaften nicht. Der honigfarbene Blick dieser Frau hatte ihn an den Tag erinnert, an dem David Parrish ohne weitere Erklärung das Haus verlassen hatte. Seitdem waren zwei Monate vergangen. Wie konnte jemand, der eine solche Ehefrau hatte, so lange von ihr fernbleiben?, fragte er sich. Owen selbst hätte sich keine Sekunde von einer Frau wie Katherine getrennt. Und tatsächlich war er es auch, der für Davids Rückkehr verantwortlich war. Es gab da eine Angelegenheit, von der Mrs. Parrish nichts wissen durfte.
Während der Aufseher über das sonderbare Verhalten seines Dienstherrn nachgrübelte, kam Latoya aus der Küche und goss kochendes Wasser in die Teekanne, die zwischen Katherine und Molly auf einem Tischchen stand. Sobald das heiße Wasser die Teeblätter berührte, stieg aromatischer Dampf auf.
Molly verzog kaum merklich das Gesicht, als sie den intensiven Teegeruch wahrnahm. Owen überlegte einen Moment und betrachtete sie dann forschend. Wie hatte ihm das entgehen können? Jetzt war ihm alles klar. Die Müdigkeit, die Augenringe, die Übelkeit und das häufige Übergeben. Molly war schwanger. Diese Feststellung verwirrte ihn nur noch mehr. Wer war dafür verantwortlich? Er selbst hatte sie schließlich nicht angerührt. Ein Zwischenfall wie damals auf der Veranda hatte sich nicht wiederholt. Er hatte sein Verhalten ehrlich bereut, und kein anderer Mann der Plantage hätte gewagt, Hand an die persönliche Sklavin der Herrin zu legen. Niemand außer David selbst.
Katherine bemerkte die leichte Veränderung in Owens Blick. Der Aufseher hatte begriffen, warum ihr Mann so plötzlich verschwunden war. Doch in seinem Gesichtsausdruck entdeckte sie nur Mitleid und Sorge um Molly.
«Was für ein schöner Tag», sagte Katherine im Bewusstsein, dass ihr Geheimnis sicher war.
«Ja, es ist wirklich ein herrlicher Tag», pflichtete Owen ihr nachdenklich bei.
Da kam ein Sklave aus dem Wald gelaufen und begab sich zur Veranda. Er machte eine leichte Verbeugung und näherte sich dann dem Aufseher, dem er etwas ins Ohr flüsterte.
Owens Gesicht wurde ernst.
«Ist etwas passiert, Owen?»
Der Sklave, ein etwa fünfzehnjähriger Junge, sah die Herrin verstohlen an.
«Nichts weiter, Mrs. Parrish», wehrte Owen ab. «Anscheinend wird eine Sklavin niederkommen. Wenn Sie mich entschuldigen …» Owen stand auf und hob die Hand an die Hutkrempe.
Aus der Entfernung konnte Katherine nicht mehr hören, was gesagt wurde, aber Owen gab dem Jungen ein paar Anweisungen, woraufhin dieser nickte und in die Richtung losrannte, in die David vorhin weggeritten war.
Auch Latoya, die noch immer den Wasserkessel in der Hand hielt, wirkte beunruhigt.
Ihr Instinkt sagte Katherine, dass irgendetwas nicht stimmte. Zwar waren die Sklaven ein geschätztes Gut auf der Plantage, aber es kam ihr komisch vor, dass so viel Aufhebens um eine Geburt gemacht wurde. «Latoya, wer ist diese Sklavin? Kenne ich sie?»
«Ich glaube nicht, Herrin», antwortete Latoya ausweichend. «Es ist ein Mädchen, das auf den Feldern arbeitet. Sie war noch nie im Herrenhaus.»
«Wie heißt sie?»
«Velvet», antwortete Latoya zögernd.
Irgendwo hatte Katherine den Namen schon einmal gehört. Angestrengt dachte sie nach. «Jetzt erinnere ich mich!», rief Katherine so laut, dass Latoya beinahe den Kessel fallen ließ. Es war die junge Frau, die Katherine Anfang Oktober getroffen hatte. Also hatte sie ihr Kind noch nicht bekommen. Katherine runzelte die Stirn. Langsam kam es ihr so vor, als hätten sich alle verschworen, um ihr etwas zu verheimlichen.
Molly war neben ihr eingeschlafen. In letzter Zeit schlief sie ständig ein. Katherine stand auf und deckte sie liebevoll zu. «Latoya, ich will, dass du mich zu Velvet bringst.»
Erschrocken riss Latoya die Augen weit auf. «Aber … aber Herrin», stotterte sie. «Das Sklavendorf ist kein Ort für die Ehefrau des Herrn. Sie sollten nicht …»
«Ich möchte aber.» Anscheinend sollte wirklich verhindert werden, dass sie die junge Frau zu Gesicht bekam.
«Der Herr wird es gewiss nicht richtig finden …», wagte Latoya erneut einzuwerfen, aber Katherine unterbrach sie. «Denk nicht einmal daran, ihm etwas zu sagen!» Ohne auf das Mädchen zu warten, schlug Katherine den Weg zu den Sklavenhütten ein.
In den letzten Tagen hatte es heftig geregnet, und der kalte Boden, der von den ersten Nachtfrösten hart geworden war, hatte das Wasser der Niederschläge nicht aufgenommen. Die Erde hatte sich in eine dicke Schlammschicht verwandelt.
Während Katherines feine Schuhe in den matschigen Boden einsanken, zog ihr Herz sich zusammen. Am liebsten hätte sie weggesehen, sich einfach nicht darum gekümmert, wie sie es ihr ganzes Leben lang getan hatte, aber das konnte sie nicht mehr. Und sie würde es nie wieder können.
Es kam Katherine vollkommen unmöglich vor, sich in diesem Durcheinander von Hütten zurechtzufinden, die ohne jede Ordnung errichtet worden waren und alle aussahen, als würden sie jeden Moment zusammenbrechen. Aber Latoya, die ihre Herrin schließlich eingeholt hatte und vorausging, steuerte mit sicherem Schritt durch das Chaos auf eine Gruppe Sklavinnen zu.
Einige der Frauen waren damit beschäftigt, mit am Waldrand aufgesammeltem Zunder und Ästen ein Feuer am Brennen zu halten. Darüber brodelte Wasser in einem rostzerfressenen Topf. Andere tauchten Stofffetzen in das kochende Wasser und brachten sie gleich darauf in eine nahegelegene Hütte.
Als Owen sah, dass Katherine ihm zwischen den zurückweichenden Sklavinnen entgegenkam, glaubte er zuerst, seine Vorstellungskraft spiele ihm einen üblen Streich.
«Mrs. Parrish, was tun Sie hier?»
«Ich wollte sehen, wie es der jungen Frau geht.»
«Sie dürfen nicht hier sein», sagte er nervös und warf Latoya, die nicht wusste, wohin sie sich verkriechen sollte, einen scharfen Blick zu.
«Latoya trifft keine Schuld», erklärte Katherine. «Ich musste ihr befehlen, mich herzubringen.»
«Aber …»
Katherine unterbrach ihn mit einer Handbewegung. Sie hatte die Ausflüchte satt. «Es ist sehr freundlich, dass Sie sich Sorgen machen, aber ich bin eine erwachsene Frau und kann die Geburt eines Kindes durchaus ertragen. Selbst wenn das arme Ding inmitten von Dreck und Armut zur Welt kommen muss.»
Noch immer stand Owen vor der Holztür.
«Wollen Sie mich nicht hineinlassen?»
Owen zögerte. Was sollte er tun? Wenn Katherine über die Schwelle dieser Hütte trat, könnte er ernsthaften Ärger mit David bekommen.
«Ich glaube nicht, dass Ihr Mann das gutheißen würde.»
«Mr. Graham, ich habe vor einiger Zeit aufgehört, mich um die Wünsche meines Mannes zu scheren. Tatsächlich gibt es kaum etwas, was mir mehr Vergnügen bereitet, als ihnen zuwiderzuhandeln», teilte Katherine ihm ungeduldig mit.
«Es tut mir leid, Mrs. Parrish. Ich kann Sie nicht durchlassen.»
«Owen! Sofort treten Sie zur Seite, oder ich werde Sie persönlich beiseiteschieben. Und wenn ich diese Tür mit meinen eigenen Händen niederreißen muss, ich versichere Ihnen, dass ich in diese Hütte gelange!»
Die Intensität, mit der jene honigfarbenen Augen ihn fixierten, und die Art, wie Katherine die Fäuste ballte, genügten. Owen wusste, dass seine Herrin es ernst meinte, und trat beiseite.
Als Katherine das junge Mädchen entdeckte, das auf einer Decke auf dem Boden lag, verstummte sie. Es war haarsträubend, dass eine Frau unter solchen Bedingungen gebären sollte. Dann entdeckte sie das einfache Bett und begriff, dass es der Heftigkeit einer Geburt nicht standhalten würde.
Eine Gruppe von Frauen stand der Gebärenden zur Seite. Eine hatte Velvets Kopf auf ihren Schoß gebettet, während zwei andere ihre Hände hielten. Eine dritte, in der Katherine Nana Lo, die alte Hebamme der Plantage, wiedererkannte, wartete darauf, dass das Kind kam.
Katherine trat näher. Jetzt, mit offenem Haar und schweißgebadet, sah das Mädchen noch jünger aus als damals, als Katherine es auf ihrem Rückweg von den Feldern getroffen hatte. Als Velvet ihre Herrin bemerkte, erschrak sie.
«Keine Angst!», beruhigte Katherine sie. «Ich bin nur hier, um zu helfen.»
Mit Ausnahme der alten Hebamme warfen die Sklavinnen sich beunruhigte Blicke zu. Was wollte die Gattin des Herrn hier? Ahnte sie etwas?
Es war eine schwierige Geburt. Aber obwohl Nana Lo müde wirkte, bewegte sie ihre von Arthritis verkrümmten Hände mit unglaublichem Geschick. Als das Kind kam, hielt die Hebamme es mit einem geübten Griff fest und trennte die Nabelschnur mit einem schartigen Messer, das sie aus ihrer Schürze holte. Besorgt fragte Katherine sich, wie die Frauen bei einem derartigen Mangel an Hygiene überleben konnten.
Während die Frauen Velvet in ihr Bett halfen, wusch Nana Lo das Kind. Als sie es in eine alte Decke wickeln wollte, nahm Katherine ihre Stola ab und reichte sie der Sklavin.
Als wenige Minuten später Owen in die Hütte trat, lächelte Katherine. Sie konnte kaum glauben, dass das junge Mädchen, das sicher noch keine siebzehn Jahre alt war, gerade ein so großes Baby bekommen hatte.
Fast hatte der Aufseher Katherine davon überzeugt, die Hütte zu verlassen, damit die Sklavin sich ausruhen konnte, als plötzlich David auftauchte.
Sie sprachen kein einziges Wort, aber das war auch nicht nötig. Der warnende Blick, den Owen seinem Dienstherrn zuwarf, die Angst in den Augen der jungen Mutter, die Art, wie sie sich das Baby an die Brust drückte, und Davids überraschtes Gesicht, als er Katherine an der Seite der Sklavin und ihrem Neugeborenen entdeckte, all das ließ keinen Zweifel zu.
Jetzt verstand sie die Geheimnistuerei, die Art, wie die junge Frau damals auf dem Weg so verschämt zu Boden geblickt hatte, die plötzliche Rückkehr ihres Mannes und den Eifer, mit dem alle sie von Velvet fernhalten wollten. David war der Vater dieses Kindes, und jetzt versuchte er, es loszuwerden.
Sie spürte Wut in ihrem Inneren auflodern. Molly war also nicht die Erste gewesen. Sie kam sich wie eine Idiotin vor!
«Katherine …»
«David», antwortete sie ruhig, ohne ihre wahren Gefühle zu verraten.
«Was tust du hier?»
Katherine sah ihren Mann an. «Wenn ich es richtig sehe, lerne ich wohl gerade deinen Sohn kennen.»
Verzweifelt blickte David zu Boden. «Es ist nicht so, wie du denkst», versuchte er, sich zu rechtfertigen. «Damals kannte ich dich noch nicht. Das Kind bedeutet mir nichts.»
«Ach, so ist das!», fauchte Katherine. «Und dieses arme Mädchen, das du geschwängert hast, bedeutet dir wahrscheinlich auch nichts.»
Owen trat einen Schritt zurück, und auf ein Zeichen von David verließ er die Hütte.
«Hör zu, Katherine», bat David nun. «Ich verspreche dir, dass sie dir nicht noch einmal unter die Augen kommen. Noch heute werden sie weggebracht.»
Schweigend betrachtete Katherine ihren Ehemann. Dieses Ungeheuer konnte unmöglich der bezaubernde junge Mann sein, den sie in New Orleans kennengelernt hatte.
«Die Mutter und das Kind werden nirgendwohin gehen.»
«Wie? Aber willst du denn nicht, dass sie verschwinden?»
«Nein.»
Überrascht sah David sie an. Dann verhärtete sich sein Gesicht. «Das ist unmöglich, sie müssen gehen!»
«Ich verstehe», sagte Katherine mit einem sarkastischen Lächeln. «Du willst sie also gar nicht wegschicken, um mir den Schmerz zu ersparen. Eigentlich geht es um dich.»
«Bist du verrückt geworden? Sie können nicht bleiben!» David verlor die Kontrolle. «Auf keinen Fall wird ein schwarzer Bastard auf meinem Land herumlaufen.»
«Das hättest du dir vorher überlegen sollen. Ich versichere dir, die beiden werden bleiben. Sie bleiben, um dich daran zu erinnern, was du getan hast.» Katherines Stimme nahm einen drohenden Tonfall an, als sie jetzt mit dem Finger auf David zeigte. «Und hör mir gut zu, jeder Bastard, den du gewaltsam zeugst, wird hierbleiben!»
«Du bist verrückt, wenn du glaubst, dass ich das zulasse. Niemals!»
«Und ob du es zulassen wirst. Das schuldest du mir!»
David sah nicht aus, als ob er nachgeben würde. «Nein, Katherine, das werde ich nicht», sagte er mit fester Stimme.
«Doch, du wirst. Denn sonst werde ich dich verlassen, das schwöre ich beim Leben des Kindes, das ich in mir trage, und du wirst dein Kind niemals zu Gesicht bekommen.»
Zögernd sah David ihr in die Augen. Das konnte nicht sein. Aber nein, Katherine würde nicht lügen. Sie war schwanger.
Für einen Moment glaubte er, dass alles wieder so werden könnte wie früher. Der Vorfall mit Molly würde bald vergessen sein. Und wenn Gras über die Sache gewachsen war, könnte er Velvet und ihren schwarzen Bastard von der Plantage bringen lassen. David wollte sich Katherine nähern, er wollte sie umarmen, sie trösten. Jetzt würde sie ihn mehr brauchen denn je.
Aber der eiskalte Blick seiner Frau hielt ihn zurück. Noch immer war Katherine zu stolz, um ihm zu verzeihen.
«Gut, Katherine. Du hast gewonnen.»
***
Am nächsten Tag fuhr David wieder nach Richmond. Er setzte erst wieder einen Fuß auf New Fortune, als er Monate später die Nachricht von der Geburt seiner Töchter und von Mollys Tod erhielt.