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Noch bevor Noah begreifen konnte, was eigentlich geschah, nahm er an seiner ersten Schulstunde teil. Vor ein paar Tagen hatte Herrin Katherine ihm eine große, knallgrüne Schachtel senden lassen. Darin lagen sorgfältig zusammengelegt eine schwarze Hose, die ihm wie angegossen passte, ein paar makellos weiße Hemden, Hosenträger, eine Halsschleife, Strümpfe und glänzend schwarze Stiefel. Alles für ihn. Und noch dazu war es vollkommen neu. Herrin Katherine hatte die Kleider extra für ihn in Richmond anfertigen lassen.
Bisher hatte Noah immer nur Gebrauchtes getragen, und allein bei dem Gedanken, dass vor ihm noch niemand in den Sachen gesteckt hatte, fühlte er sich wie jemand ganz Besonderes.
Seitdem Noah im Besitz der Schachtel war, hatte er sie nicht ein einziges Mal auf den Boden der Hütte gestellt. Sie war das Schönste, was er je besessen hatte, und sollte auf keinen Fall dreckig werden. Die Schachtel war so grün wie der Buntstift, mit dem Miss Hortensia gezeichnet hatte, als Noah im Herrenhaus gewesen war. Und wenn Noah abends schlafen ging, befolgte er von nun an ein strenges Ritual. Zuerst sah er nach, ob sich seine neuen Kleider noch alle im Inneren der Schachtel befanden. Danach legte er sie vorsichtig aufs Bett und streckte sich daneben aus. Und als wäre die Schachtel ein lebendiges Wesen, gab er ihr sogar ein Stück seiner Decke ab und legte einen Arm um sie, damit niemand sie ihm wegnehmen konnte, während er schlief. Lange bevor die Sonne hinterm Horizont versank, sein Schatz in der Dunkelheit die leuchtende Farbe verlor und all seines Zaubers beraubt zu einem grauem Umriss wurde, senkten sich schon Noahs Lider. Damit war der Weg frei in eine Welt voller Farben und Orte, die er sich bis zu seinem Besuch im Herrenhaus nicht hätte vorstellen können. Strände aus feinstem Sand, verschneite Gipfel und mächtige, feuerspuckende Drachen. Die Bilder, die er dort auf den Gemälden und Vasen erblickt hatte, wurden in seinen Träumen lebendig. Und beim Aufwachen, wenn die Morgensonne seiner schönen, grünen Schachtel ihren Glanz zurückgegeben hatte, betrachtete er sie zufrieden und stellte hoffnungsfroh fest, dass nicht alles, was er sich vorgestellt hatte, nur Phantasien waren.
Sogar Jeremias kam, um sich den Karton anzusehen. Als er ihm seinen kostbaren Schatz zeigte, nickte sein sonst so schwer zu beeindruckender Freund nur langsam voller Bewunderung und Neid.
Endlich kam der Tag, an dem Noah die neuen Kleider anziehen durfte. Als er aufstand, war er so ungeduldig, dass er den Maisfladen, den er zum Frühstück bekam, nicht aufessen konnte. An diesem Tag hätte er nicht einmal einen Brotkrümel hinunterbekommen. Er fühlte sich, als hätten sich hundert Schmetterlinge verabredet, gleichzeitig in seinem Bauch mit den Flügeln zu schlagen.
Mit der größten Sorgfalt zog Noah sich an. Seine Mutter half ihm, das Hemd zuzuknöpfen, und band ihm die schwarze Schleife um den gestärkten weißen Kragen. Obwohl er kaum atmen konnte, widersprach er nicht. Wenn die gezierten weißen Herren diesen unbequemen Strick klaglos um den Hals trugen, dann konnte er das auch. Schließlich war er zur Hälfte weiß. Dann legte er die Hosenträger an und machte sich ganz zum Schluss für die schlimmste Tortur bereit, nämlich die glänzend schwarzen Lederstiefel anzuziehen, die seinem Aufzug den letzten Schliff gaben.
Ganz vorsichtig steckte er die Füße in die Stiefel und stellte ungläubig fest, dass sie ohne den geringsten Widerstand hineinschlüpften. Die Stiefel waren weich und geschmeidig. Er konnte sogar die Zehen frei bewegen. Auf seiner Haut sah man noch immer die Abschürfungen und Blasen, die er von den alten Stiefeln davongetragen hatte. Jetzt aber taten sie nicht mehr weh, weil ein weiches Paar weißer Baumwollstrümpfe seine Wunden schützte.
«Vergiss nie, wer du bist», sagte seine Mutter mit tiefer Traurigkeit. «Du bist ein Sklave, und du wirst in diese Hütte zurückkehren und auf den Feldern arbeiten, bis deine Hände bluten. Nimm von dort mit, was du kannst, aber vergiss nicht, wo du hingehörst. Vergiss es nicht, Noah, sonst wirst du nicht glücklich sein.»
Velvet musste auf die Felder. Bevor sie die Hütte verließ, gab sie ihrem Sohn einen Kuss. Noah setzte sich und wartete geduldig, bis er zu seiner ersten Schulstunde gehen konnte.
***
Ein paar Stunden später betrat Katherine das Zimmer ihrer Töchter. Die dicken Samtvorhänge hielten jeden Sonnenstrahl ab, der den Schlaf der Mädchen stören könnte. Katherine ließ die Tür angelehnt, und der schmale Lichtstreifen, der aus dem Flur hineinfiel, leitete sie durch das Zimmer. Als sie die schweren Vorhänge zurückzog, wurde der Raum von Helligkeit durchflutet.
Die Möbel erwachten aus ihrem langen nächtlichen Schlaf. Die goldenen Nieten der Lampen funkelten, die Polster erstrahlten grün und violett, und das Holz glänzte in Ocker- und Mahagonitönen, sobald sich die ersten Sonnenstrahlen auf seiner polierten Oberfläche spiegelten.
Dann öffnete Katherine die Fenster. Noch lag erfrischender Morgentau in der Luft.
Wahrscheinlich würden die nächsten Tage nicht einfach werden, aber andererseits war nichts einfach gewesen, seit sie ihr Zuhause in New Orleans verlassen hatte. Katherine hatte eine Wahl getroffen, und auch wenn es wehtat, würde sie dementsprechend handeln.
Noch einmal atmete Katherine tief ein und sammelte die Kraft in sich, die sie brauchte, um den bevorstehenden Schwierigkeiten entgegenzutreten. Denn die würden wegen ihrer Entscheidung, den kleinen Noah mit ihren Töchtern unterrichten zu lassen, nicht ausbleiben. Aber ihre Prüfung hatte schon lange vorher begonnen. An dem Tag, an dem Molly gestorben war. Nein, schon in dem Moment, als sie entdeckte, wie ihr Mann sich heimlich aus dem Zimmer ihrer lieben Molly schlich. Damit hatte ihr Leidensweg begonnen. Zwar hatte sie damals nicht den Mut gehabt, ihren Mann zu verlassen, aber David würde so etwas nie wieder tun. Das würde sie nicht zulassen. Sie hatte sich geschworen, dass Mollys Tochter nicht das Schicksal ihrer Mutter erleiden würde und, soweit es möglich war, auch nicht der Sohn ihres Mannes. Sie wusste, dass ihre Last mit der Zeit nicht leichter werden würde, aber irgendwann würden sich die Dinge verändern. Deshalb durfte sie jetzt nicht schwach sein. Nicht aufgeben. Als sie nun in die Sonne blickte und die frische Energie der Morgenluft in sich spürte, schien alles viel leichter.
Hortensia, deren Bett näher am Fenster stand, murmelte im Halbschlaf etwas vor sich hin und verschwand unter der Decke, die noch genauso dalag, wie Katherine sie am Abend zuvor hingelegt hatte. Im Bett daneben schlief Charlotte wie eine Tote. Ihre Decke war auf den Boden gerutscht, und das Laken war lediglich vor diesem Schicksal bewahrt worden, weil es sich zwischen ihren Beinen verheddert hatte. Das Nachthemd hatte sich schief um ihren Körper gewickelt, und irgendwann in der Nacht hatte sie ihr Kissen einen guten Meter weit aus dem Bett geschleudert.
Die beiden Schwestern lagen nebeneinander, die kleinen Gesichter nicht weiter als zwei Handbreit voneinander entfernt. Lächelnd erinnerte Katherine sich daran, wie vor zwei Jahren die neuen Betten geliefert worden waren. Zuerst hatten sie einen Nachttisch dazwischen aufgestellt, aber schon am nächsten Morgen war der Nachttisch verschwunden und die Betten zusammengeschoben. Seither war es so geblieben.
«Zeit zum Aufstehen, ihr Faulpelze», verkündete Katherine, während sie ihre Mädchen weiter betrachtete.
«Es ist noch so früh», murmelte Charlotte.
«Ja, Mama, lass uns noch ein bisschen schlafen», fand auch Hortensia, die sich jetzt vollkommen unter den Decken verkrochen hatte.
«Ihr habt wohl vergessen, was heute für ein Tag ist.»
Aufgeregt hörte man jetzt Hortensias Stimme. «Heute fängt der Unterricht an, oder?»
«So ist es. Gestern, als ihr schon im Bett lagt, ist eure Lehrerin angekommen, Mademoiselle Gassaud. Sie hat sich im Waldhaus eingerichtet und ist jetzt schon im Schulzimmer, wo sie noch ein paar Vorbereitungen trifft. Sobald ihr euch angezogen und gefrühstückt habt, könnt ihr zum Unterricht.»
Das brauchte sie nicht zweimal zu sagen. Die Mädchen sprangen wie der Blitz aus den Betten und stellten sich vor den Waschtisch, auf dem ein feiner geblümter Porzellankrug nebst passender Waschschüssel stand. Kaum hatte Katherine Wasser dort hineingossen, spritzte sich Charlotte schnell etwas von dem Nass unter die Achseln, hielt die Luft an und tauchte mit solchem Schwung ihr Gesicht in die Schüssel, dass die Marmorplatte von einer kleinen Welle überspült wurde. Mit triefnassem Gesicht und der ebenso nassen Häkelspitze ihrer Schlafhaube packte sie einen Zipfel ihres Nachthemds und trocknete sich damit ab, anstatt das Handtuch zu benutzen, das die Mutter ihr hinhielt. Eine Sekunde später lag die feucht zusammengeknüllte Nachtwäsche auf dem Boden. Katherine wollte ihre Tochter schon zur Ordnung rufen, überlegte es sich aber noch einmal und beschloss, sie noch ein wenig in Ruhe zu lassen.
«O Mama, wie schön!», rief Hortensia. «Ich möchte so gern schreiben und zeichnen lernen. Und bald werde ich auch die Geschichten mit den schönen Bildern lesen können, die Großvater uns Weihnachten aus New Orleans mitgebracht hat.»
Als Katherine an dieses Geschenk dachte, musste sie lächeln. Es waren wunderschöne Geschichten. Aber sie waren auf Französisch, der Sprache, die ihr Vater trotz der langen Zeit, die Louisiana schon nicht mehr zu Frankreich gehörte, nicht gegen das Englische eintauschen mochte. Das Geschenk war ein kleiner Fingerzeig an seine Tochter gewesen. Er wollte, dass seine Enkelinnen die Sprache ihrer Vorfahren lernten. Als sie noch Babys waren, hatte Katherine immer in ihrer Muttersprache mit ihnen gesprochen, aber eines Tages hatte sie einfach damit aufgehört. Inzwischen hatte sie zu ihrem Bedauern festgestellt, dass sie das Französische nur noch bei feststehenden Redewendungen oder Kosenamen gebrauchte.
«Aber Laura Burton hat gesagt, dass Französisch sehr schwer ist», beklagte Hortensia sich und sah ihre Mutter etwas mutlos an.
«Mach dir keine Sorgen, Hortensia. Du wirst es schnell lernen», ermutigte die Mutter sie. Dabei konnte sie kaum vermeiden zu grinsen, als sie an das affektierte Burton-Mädchen dachte, das mit einer übertriebenen Aussprache versuchte, die Nuancen der sinnlichen Sprache nachzuahmen. «Mademoiselle Gassaud ist extra aus Frankreich gekommen, um es euch beizubringen. Und ich kann ja auch Französisch mit euch sprechen.»
«Ich will es auch schnell lernen», fiel Charlotte ein, während sie in ein hübsches, blaugrün kariertes Kleid schlüpfte, das ihre Mutter extra für die Schulstunden hatte anfertigen lassen. «Alle eleganten Damen sprechen Französisch. Außerdem habe ich es satt, dass Laura immer damit angibt, wie gut sie sprechen kann und wie elegant sie ist.»
Als sie die Unordnung betrachtete, die Charlotte verursacht hatte, und sah, wie sie sich jetzt verdrehte, um an die hinteren Knöpfe zu kommen, dachte Katherine, dass ihrer Tochter außer korrektem Französisch noch etwas mehr fehlte, um zu einer perfekten Südstaatendame heranzuwachsen. Ganz anders Hortensia. Trotz ihres jungen Alters konnte man schon sehen, dass eine Schönheit aus ihr werden würde. Nicht nur ihr Gesicht und ihr Benehmen, alles an ihr war zart und fein. Zurückhaltung und Schüchternheit, die notwendigen Eigenschaften einer Dame, waren ihr angeboren. Ohne Zweifel war auch Charlotte ein hübsches Mädchen, aber ihre Schönheit war exotischer. Im Feuer ihrer grünen, etwas schrägen Augen erkannte man die rebellische Natur ihrer Seele. Für ein Mädchen ihrer Stellung war Charlotte viel zu ungestüm und leidenschaftlich, und um eine umschwärmte junge Frau der strengen Oberschicht des Südens zu werden, würde sie lernen müssen, ihren Charakter zu beherrschen. Katherine war sich nicht sicher, ob sie das mit ihrer Erziehung erreichen konnte. Und tief in ihrem Inneren wollte sie es vielleicht auch gar nicht.
Hortensia starrte immer noch auf das Wasser in der Schüssel, als Charlotte die Mutter schon darum bat, ihr die weiße, mit Rüschen besetzte Schürze umzubinden. Seufzend öffnete Katherine die Verschlüsse, die Charlotte falsch zusammengeknöpft hatte, schloss das Kleid gerade und machte eine hübsche Schleife in die Bänder der Schürze.
Nach einer Ewigkeit entschloss sich auch Hortensia endlich, mit der Morgenwäsche zu beginnen. Das Mädchen nahm ganz wenig Wasser mit den Händen auf und hob es so langsam hoch, dass eigentlich alles schon wieder in der Schüssel gelandet war, als sie bei ihrem Gesicht ankam. Erleichtert atmete das Kind auf und drückte sich für eine Sekunde die feuchten Handflächen aufs Gesicht. Dann schnappte sie sich sofort ein Handtuch, um die unangenehmen Tropfen schnell loszuwerden.
Inzwischen hatte Katherine Charlottes Haar gebürstet und zu einem Pferdeschwanz gebunden. Nun wartete sie auf Hortensia, um die Prozedur zu wiederholen. In den meisten Familien – und auch bei ihr war es so gewesen, als sie noch ein Kind war – wurde diese Aufgabe Sklavinnen übertragen. Die Tatsache, dass sie ihren Töchtern jeden Morgen die Haare bürstete und sie anzog, hätte bei mehr als einer ihrer Nachbarinnen Anstoß erregt. Aber seit geraumer Zeit schon machte Katherine sich keine Gedanken mehr über das Gerede. Sie wollte sich selbst um ihre Kinder kümmern. Sie liebte jede Sekunde, die sie mit ihnen verbrachte. Es war wundervoll, sie ins Bett zu bringen, sie aufzuwecken und von ihren Ängsten und Wünschen zu erfahren, und kein lächerlicher Brauch würde sie dieser Freude berauben. Außerdem wollte sie, dass Charlotte und Hortensia es als etwas Selbstverständliches ansahen, wenn eine Mutter sich um die wichtigsten Bedürfnisse ihrer Kinder selbst kümmerte. Vor allem sollten sie es nicht für eine würdelose Aufgabe halten, die man besser Sklaven überträgt.
Trotz der Schlafhaube waren Hortensias Haare vollkommen verklettet, und Katherine war fünf lange Minuten damit beschäftigt, den dichten blonden Lockenkopf des Mädchens zu glätten. Ihr Haar war mit Sicherheit das einzig Rebellische an ihrer Kleinen. Nur mit viel Geduld schaffte Katherine es, große Korkenzieherlocken aus Hortensias Zopf fallen zu lassen.
«Ihr seht sehr hübsch aus», lobte Katherine die Mädchen, als sie fertig waren. «Jetzt geht frühstücken, und dann könnt ihr Mademoiselle Gassaud begrüßen.»
Hand in Hand verließen die beiden Mädchen das Zimmer und rannten lachend die Treppe hinunter. Katherine folgte ihnen.
Als sie im Esszimmer ankam und am Kopfende des großen Esstisches Platz nahm, saßen die Mädchen schon. Zu ihrer Rechten hatte Hortensia geduldig auf ihre Mutter gewartet. Links von ihr versuchte Charlotte zu verheimlichen, dass sie sich schon etwas in dem Mund gesteckt hatte.
«Charlotte, du sollst erst anfangen, wenn alle am Tisch sitzen», rügte die Mutter sie.
Die Backen zu voll, um zu antworten, nickte Charlotte und schluckte hastig die fünf Weintrauben hinunter, die sie stibitzt hatte.
Latoya, das Haar mit einem grünen Kopftuch bedeckt, stand unbeweglich neben einem geblümten Lampenschirm und war kaum zu bemerken. Erst als ihre Herrin sich gesetzt hatte, nahm die Sklavin die Teekanne von einem Silbertablett auf der Anrichte. Zuerst schenkte sie Katherine ein, dann nahm sie den Krug mit heißer Schokolade für die Mädchen.
«Danke, Latoya», sagte Katherine und atmete genussvoll das Aroma ein, das aus der Tasse aufstieg.
Ganz leicht nur nickte die Sklavin und füllte gleichzeitig Charlottes Tasse bis zum Rand mit Schokolade. Zum Schluss bediente sie Hortensia. Diesmal aber füllte sie die Tasse nur bis zur Hälfte mit der dunklen Flüssigkeit. Dann zwinkerte Latoya dem Mädchen zu und blickte für den Bruchteil einer Sekunde zur Mitte des Tisches, wo vor Hortensia eine Schale mit Milchbrötchen stand.
Das Mädchen folgte Latoyas Blick und fand, was es suchte. Halb unter den größeren Brötchen versteckt, lag ein kleineres, das Hortensia eilig nahm. Dankbar lächelte sie Latoya zu. Im Unterschied zu ihrer Schwester, deren gieriger Appetit kaum zu stillen war, hatte Hortensia niemals Hunger. Trotzdem hatte die Mutter bestimmt, dass sie jeden Morgen wenigstens ein Brötchen essen und eine Tasse Schokolade trinken musste, bevor sie vom Tisch aufstehen durfte.
Deshalb machte Olivia ihr jeden Morgen ein kleineres Brötchen, und Latoya sorgte dafür, dass es in Hortensias Reichweite lag.
«Vielen Dank, Latoya.»
«Gern geschehen, Miss Hortensia.»
Keinem anderen weißen Herren hätte Latoya gewagt zu antworten, aber bei Herrin Katherine und Miss Hortensia lag der Fall anders. Charlotte war dagegen wie ihr Vater, also wie die meisten weißen Herrschaften.
Hortensia zupfte ein winziges Stück aus dem Brötchen und steckte es sich in den Mund. Eine Minute später kaute sie immer noch darauf herum. Aber an jenem Vormittag war das Glück auf ihrer Seite. Ihrer Mutter schien plötzlich etwas einzufallen, und sie wandte sich einen kurzen Augenblick lang an Latoya. Genug Zeit für Hortensia, um ihrer Schwester unter dem Tisch heimlich die Hälfte ihres Brötchens zu reichen, das Charlotte sich auf einmal in den Mund steckte.
«Es ist noch früh, Charlotte. Du hast Zeit, iss langsam», schalt Katherine ihre Tochter, als sie die vollen Backen des Mädchens sah.
«Bald beginnt der Unterricht. Noah wird sicher gleich hier sein.»
Fast verschluckte sich Charlotte und stellte die Tasse wieder hin, die Latoya gerade ein zweites Mal gefüllt hatte. Mit vor Überraschung aufgerissenen Augen sah das Mädchen ihre Mutter an und versuchte zu widersprechen, aber ihr Mund war viel zu voll, um ein Wort artikulieren zu können.
«Charlotte, wie oft muss ich dir noch sagen, dass du mit vollem Mund nicht reden sollst. Erst hinunterschlucken, dann kannst du so viel protestieren, wie du willst.»
«A…ber …»
«Charlotte!», warnte Katherine.
Ein Blick ihrer Mutter genügte, und Charlotte wusste, dass sie besser gehorchte. Schnell ergriff sie die Tasse mit der Schokolade und spülte mit einem großen Schluck alles hinunter. «Ich dachte, er würde doch nicht kommen», klagte sie schließlich gekränkt.
«Nun, ich glaube, ich habe neulich sehr deutlich gesagt, dass er auf jeden Fall am Unterricht teilnehmen wird.»
Hortensia nutzte den Streit, um unauffällig den Rest des Brötchens zu zerkrümeln und auf ihrem Teller zu verteilen.
«Ich werde nicht gemeinsam mit ihm zum Unterricht gehen!», schimpfte Charlotte halsstarrig.
Im Stillen betete Hortensia, dass der Streit nicht ausartete.
Katherine musste bedrückt feststellen, dass sie das Verhalten ihrer Tochter richtig eingeschätzt hatte. Aber sie hatte lange genug Zeit gehabt, sich eine Antwort zurechtzulegen. «Wenn du das wirklich willst, meinetwegen.»
Charlotte lächelte triumphierend. Ihre Schwester allerdings sah ungläubig auf. Bisher hatte ihre Mutter nie zugelassen, dass Charlotte mit ihrer Starrköpfigkeit durchkam, und Hortensia wunderte sich, dass dies das erste Mal sein sollte.
Natürlich war auch Charlotte überrascht, aber sie bildete sich viel zu viel auf ihren unerwarteten Triumph ein, als dass sie der Schnelligkeit, mit der die Mutter nachgegeben hatte, größere Beachtung schenkte. Noch immer von dem Machtgefühl berauscht, stürzte Charlotte den Rest ihrer Schokolade hinunter. Dann bat sie um die Erlaubnis, aufstehen zu dürfen, die Katherine ihr gab. Hortensia ahmte ihre Schwester nach. Geschwind hob sie ihre Tasse zum Mund und stellte sie wieder ab, ohne einen einzigen Tropfen getrunken zu haben. Dann versuchte sie, unauffällig aufzustehen und vom Frühstückstisch zu verschwinden.
«Hortensia, setz dich wieder hin!»
Ihr Fluchtversuch war missglückt, das Mädchen sank zurück auf den Stuhl.
«Soll ich dir vielleicht ab jetzt persönlich eingießen und dein Brötchen aussuchen?»
Die Mutter schien so wütend zu sein, dass sie ihre Drohung wahr machen und sie sogar ans andere Ende des Tisches setzen könnte, damit Charlotte ihr nicht mehr half. Allein die Vorstellung ließ Panik in ihr aufsteigen.
An der Treppe wartete ungeduldig ihre Schwester. «Komm schon, Hortensia.»
Charlottes Worte gaben ihr den nötigen Anstoß. Mit geschlossenen Augen atmete sie tief ein und stürzte die Schokolade hinunter. Noch mit vollem Mund blickte sie ihre Mutter fragend an, aber sie durfte erst aufstehen, als ihre aufgeblasenen Wangen in ihren normalen Zustand zurückgekehrt waren. Wie der Blitz war Hortensia bei ihrer Schwester, und Hand in Hand rannten die beiden Mädchen, neugierig auf ihre erste Unterrichtsstunde, die Treppe hinauf. Das Schulzimmer war im ersten Stock eingerichtet worden.
«Wohin gehst du, Charlotte?», rief Katherine ihnen hinterher.
Charlotte wandte sich um. Sie war wirklich sehr hübsch. «Zum Unterricht!», verkündete sie triumphierend.
«Ich fürchte, das wirst du nicht. Gerade hast du dich entschieden, nicht mit Noah zusammen zu lernen.»
«Aber du hast doch gesagt …»
«Ich habe gesagt, dass es in Ordnung ist, wenn du nicht mit Noah zusammen lernen willst.»
Es war allzu deutlich, dass Charlotte den Sinn der Worte nicht verstand.
«Es ist ganz einfach», erklärte ihre Mutter. «Solange du deine Meinung nicht änderst, wirst du nicht am Unterricht teilnehmen.»
Nicht in einer Million Jahren hätte Charlotte geglaubt, dass so etwas passieren könnte. Sie war sprachlos. Und fürchterlich wütend. Aber sie würde sich nichts anmerken lassen. Wenn sie sich entscheiden musste, würde sie das tun. Nie, nie, nie würde sie Seite an Seite mit einem Sklaven lernen.