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Charlotte hatte unter ein paar Bäumen am Ufer des Flusses Zuflucht gesucht. Wenn ihre Mutter einen Sklaven lieber hatte als sie, dann sollte sie doch! Charlotte versuchte, sich einzureden, dass es ihr egal war. Aber auf keinen Fall würde sie im Haus bleiben, während dieser dreckige Schwarze sich an ihr Pult setzte und ihre Stifte angrabbelte.
Während sie darüber nachdachte, schnappte sie sich einen Stock und schubste damit einen Wurm herum, der sich vergeblich abmühte, den Schutz der feuchten Erde am Ufer zu erreichen. Ihr war langweilig, und noch schlimmer, sie war wütend. Der Wurm entwand sich geschickt dem Stock und versuchte, ein Hindernis zu überqueren, das vor ihm lag, aber Charlotte war schneller, und als er sein Ziel fast erreicht hatte, schleuderte sie ihn zurück in die Dichte des Waldes.
Sie blickte dem unglücklichen Würmchen nach, als sie Noah auftauchen sah.
Er war elegant gekleidet und ging schnell, während ein dämliches, glückliches Lächeln sein Gesicht erhellte. Natürlich war dieser Idiot glücklich! Schnell duckte Charlotte sich tiefer hinter den Busch, als Noah dicht neben ihr vorüberging. Er konnte das unverkennbare Paar grüner Augen gar nicht bemerken, das jeder seiner Bewegungen folgte.
Charlottes Zorn wurde noch mehr entfacht, als sie mit ansehen musste, wie Noah sich dorthin begab, wo sie eigentlich hätte sein müssen. Nur wegen dieses unbedeutenden Sklaven wurde sie von ihrer Mutter bestraft. Und was glaubte er eigentlich, wer er war, dass er sich wie ein Weißer anzog. Ihre Mutter machte einen großen Fehler. Sie sollte Noah besser nicht erlauben, Dinge zu tun, die sonst nur Weiße taten, und ihre Töchter dazu zwingen, es zu akzeptieren. Wenn ihre Mutter glaubte, dass sie deshalb ihre Meinung über die Sklaven ändern würde, dann hatte sie sich mächtig geirrt. Und wenn sie dumm bleiben müsste, um ihr das zu beweisen, dann wäre das eben so.
Aber gleich darauf verwarf sie diesen Gedanken. Eigentlich wollte sie nicht, dass es so weit kam. Sie hoffte, dass ihre Mutter nach ein paar Tagen nachgeben würde.
Doch sie fühlte sich gedemütigt und wütend. Sie wollte sich rächen. Und sie wusste auch schon, wie.
Noah selbst hatte sie schon vor einer Woche auf eine Idee gebracht. Damals hatte sie der Begebenheit keine Bedeutung beigemessen, aber jetzt erinnerte sie sich an ein Gespräch zwischen Noah und einem etwas älteren Jungen, das sie zufällig mitangehört hatte. Auch da hatten die beiden Jungen Charlotte nicht bemerkt. In diesem Gebiet der Plantage wuchs das Gestrüpp nach Lust und Laune und hatte einen großen Teil der alten Wege überwuchert.
Eigentlich hätten ein paar Sklaven das Unkraut jäten und verbrennen können, aber zu dieser Jahreszeit wurden alle bei der Baumwollernte gebraucht. Man konnte nicht auf Arbeitskräfte verzichten, nur um ein Stück waldiges Gelände von Unkraut zu befreien. Zudem war es weit vom Herrenhaus entfernt und lag zu nah am Hüttendorf, als dass die weißen Herren sich gern dort aufgehalten hätten. Aber das war genau der Grund, weshalb Charlotte diesen Ort liebte. Im dichtbelaubten Wald konnte sie rennen, auf Bäume klettern und am Flussufer planschen, und niemand kümmerte sich darum.
Als Charlotte das Gespräch zwischen Noah und dem anderen Jungen, den er Jeremias nannte, belauscht hatte, hatte man sie auch gerade bestraft. Sie konnte sich nicht einmal mehr an den Grund erinnern. Aber während ihre Mutter Hortensia mitnahm, um Orante und Silvia, die Kinder von Onkel Quentin, zu besuchen, hatte sie auf New Fortune bleiben müssen.
Charlotte war neugierig auf diese grüne Schachtel gewesen, von der die Jungen gesprochen hatten. Sie hatte nicht mitgehört, wie Noah dieses Ding in die Hände bekommen hatte, aber ihr war an dem Tag so langweilig, dass ihr sogar ein blöder Karton interessant vorkam. Danach war sie ihnen in sicherem Abstand gefolgt. Nah genug, um sie nicht aus den Augen zu verlieren, aber zu weit entfernt, um sie noch weiter belauschen zu können.
Die Jungen begaben sich auf einem der unzähligen Pfade, die die Sklaven auf ihrem Weg durch das Gebüsch ausgetreten hatten, ins Hüttendorf. Noch nie hatte Charlotte diesen Ort gesehen. Sie wusste genau, wo er lag, und hatte unzählige Male in seiner Nähe gespielt, aber es hatte immer so etwas wie eine unsichtbare Grenze gegeben, die sie nicht überschreiten durfte.
Einen Moment lang zögerte sie. Ihr Vater hatte ihr streng verboten, dort hinzugehen, und auch wenn sie eigentlich nicht besonders gehorsam war, galt das doch nicht für die Anweisungen ihres Vaters. Charlotte betete ihn an und wollte ihn nicht enttäuschen. Eigentlich wollte sie das Sklavendorf auch gar nicht sehen. Wenn sie diesen Ort zu Gesicht bekäme, würde nichts mehr so sein wie vorher, das ahnte sie. Und Charlotte wollte nicht, dass sich die Dinge veränderten. Trotzdem war die Neugierde stärker gewesen als die Angst oder der Wunsch, es ihrem Vater recht zu machen.
Als die beiden Jungen die letzten Bäume hinter sich gelassen hatten, wagte Charlotte sich nicht weiter vor. Der Anblick dieses Ortes ließ ihr das Herz heftig in der Brust schlagen, ihr ganzes Wesen erzitterte. Es war schrecklich. Sie konnte nicht glauben, dass es auf New Fortune etwas so Fürchterliches gab. Der gepflegte Rasen, der bis auf die Baumwollfelder jeden Zoll der Plantage bedeckte, hatte hier einem gräulich und ausgezehrt wirkenden Boden Platz gemacht, auf dem die Hütten sich vollkommen willkürlich aneinanderdrängten.
Gänzlich unberührt von der sie umgebenden Armut, gingen Noah und Jeremias weiter und verschwanden in einer Hütte am Waldrand, die sich in keiner Weise von den anderen unterschied. Ein einfaches Fenster in der Rückwand war die einzige Öffnung, durch die Licht in diesen Holzkasten scheinen konnte. Irgendetwas in Charlottes Seele rebellierte beim Anblick dieses Ortes. Aber sie wollte dem keine Beachtung schenken. Sie versuchte sich einfach nur auf die beiden Jungen zu konzentrieren, um all die Bilder abzuwehren, die ihr Herz bestürmten.
Immer noch im Schutz des Waldes, schlich Charlotte zu einer Eiche, die genau hinter der Hütte stand, in der Noah und Jeremias gerade verschwunden waren. Sie wollte unbedingt wissen, was in der Hütte geschah, aber ihre Füße weigerten sich, noch weiter zu gehen. Dabei war das Fenster so nah, es waren nur ein paar Schritte bis dorthin. Gerade als Charlotte den nötigen Mut zusammengenommen hatte, um das Versteck zu verlassen, bewegte sich etwas hinter ihr. Wie ein Blitz rannte sie los in Richtung Herrenhaus.
Nachdem sie das Sklavendorf gesehen hatte, erwog sie, zu ihrem Vater zu gehen. Sie wollte wissen, warum es auf New Fortune einen solchen Ort gab. Aber sie überlegte es sich anders. Ihr Vater sollte nicht erfahren, dass Charlotte sich trotz seines Verbots diesem Bereich genähert hatte. Sie erinnerte sich daran, dass der Vater ihr unzählige Male erklärt hatte, dass Sklaven anders waren als weiße Menschen und auch nicht die gleichen Bedürfnisse hatten.
Trotzdem hatte Charlotte das Gefühl, dass nicht einmal die Sklaven unter solchen Bedingungen leben sollten. Sogar Hortensias Vögelchen hatte einen hübschen goldenen Käfig mit einer Schaukel.
Aber ihr Vater konnte sich nicht irren. Die Sklaven waren nicht wie sie, und sosehr ihre Mutter auch versuchte, sie vom Gegenteil zu überzeugen, ihr Vater hatte ihr das Versprechen abgenommen, diese Tatsache niemals zu vergessen. So hatte Charlotte also beschlossen, nicht mehr an den Vorfall zu denken und nie wieder einen Fuß an diesen schrecklichen Ort zu setzen.
Aber jetzt, nur eine Woche später, war alles anders. Dieser Dummkopf Noah hatte vergessen, wo er hingehörte, und hatte erreicht, dass Charlotte dafür bestraft wurde. Dabei würde ihre Mutter diesem Jungen ohnehin niemals Lesen und Schreiben beibringen können. Jeder Weiße wusste, dass schwarze Kinder nicht schlau genug waren, um etwas zu lernen. Und mit diesen Rachegedanken, die ihr Bewusstsein vollkommen ausfüllten, lenkte sie ihre Schritte erneut in Richtung Sklavendorf.
Als sie näher kam, verschwand der gepflegte Rasen, und eine Unzahl ausgetrockneter, kreuz und quer verlaufender Feldwege tauchte auf. Obwohl die Hütten sich alle glichen, fiel es ihr nicht schwer, diejenige wiederzuerkennen, in der Noah und Jeremias vor ein paar Tagen verschwunden waren. Sie erinnerte sich sehr gut an den dicken und knorrigen Baumstamm, der ihr als Versteck gedient hatte. Obwohl sie wusste, dass zu dieser Tageszeit alle Sklaven auf den Feldern waren, war sie vorsichtig. Sie wollte auf keinen Fall entdeckt werden, weder von einem verspäteten Sklaven, der die Hütten noch nicht verlassen hatte, noch von einem, der vor Ende des Arbeitstages zum Dorf zurückkehrte.
Sobald sie sicher sein konnte, dass keine Gefahr drohte, verließ sie den Schutz des Waldes und rannte zu der Hütte. Sie drückte sich eng an die Wand und schlich vorsichtig um die Hütte herum. Dann stand sie vor dem Eingang.
Ihr Herz klopfte so laut, dass sie beinahe fürchtete, die Schläge könnten sie verraten. Stockend atmete sie ein, rang förmlich nach Luft, während Furcht ihre Bewegungen lähmte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals solche Angst gehabt zu haben. Aber sie würde sich nicht aufhalten lassen. Ein ausgehungerter, müde aussehender Hund strich an ihr vorbei und hob nicht einmal den Kopf. Charlotte wollte sich nicht umsehen. Weder wollte sie die Reste der Lagerfeuer betrachten, über denen die Sklaven kochten, noch herausfinden, wo der starke Geruch nach menschlichen Ausscheidungen herkam. Obwohl sie sich so sicher war, dass die Bewohner dieser Siedlung nicht so waren wie sie selbst, überkam sie eine seltsame Unruhe, als sie die Tür zu Noahs Hütte öffnete.
Sobald die Tür hinter ihr zugefallen war, kam es ihr so vor, als versuchte sogar das Sonnenlicht, diesem hoffnungslosen Ort schnell zu entfliehen. Niemals hätte Charlotte gedacht, dass jemand mit so wenigen Dingen leben konnte. Kalt und hart spürte sie die trockene Erde unter ihren Füßen. Der Raum war dunkel. Sie sah zwei Pritschen, wacklige Stühle, von denen der Lack abgeblättert war und die neben einem ebenso klapprigen Tisch von undefinierbarer Farbe standen. An einer Wand war ein einfaches Holzbrett als Regal angebracht. Darauf befanden sich eine Öllampe, je zwei Teller und Becher, die aus Blech zu sein schienen, und eine leere Konservendose, auf der man erste Rostflecken sah. Und mitten in dieser farblosen Welt entdeckte Charlotte die Umrisse des vielgepriesenen Schatzes, den ihr schlimmster Feind wohl vor der staubigen Erde hatte schützen wollen.
Als sie die Decke zurückschlug und die Schachtel entdeckte, war Charlotte nicht einmal überrascht, dass der Sklave dieses einfache Behältnis aus Pappe so bewunderte. Es war so strahlend neu, dass es selbst ihr inmitten dieser armen und schäbigen Umgebung wertvoll vorkam, und dabei hatte sie den Schachteln, in denen Hüte aufbewahrt und Kleider geliefert wurden, vorher nie Beachtung geschenkt.
Der Schatten eines Zweifels begann an Charlotte zu nagen. Vielleicht hatte ihre Mutter gar nicht so unrecht, und die Sklaven waren nicht anders als sie selbst. Allein dieser Gedanke ließ sie von Kopf bis Fuß erzittern. Aber dann fielen ihr die Worte des Vaters wieder ein. Sie durfte kein Mitleid haben, hatte er ihr erst am Tag zuvor gesagt. Wenn man zuließ, dass die Sklaven vergaßen, wo sie hingehörten, würde Chaos in der Welt ausbrechen. Schon bald würden sie ihre Freiheit verlangen und in die Schule und die Kirche gehen wollen. Und noch bevor man etwas dagegen tun könnte, würden die Slaven sich gegen ihre weißen Herren auflehnen. Das war schon einmal geschehen, nur wenige Jahre vor Charlottes und Hortensias Geburt.
In Southampton County, dem benachbarten Bezirk, hatte ein Sklave namens Nat Turner beschlossen, sein Volk aus der Sklaverei zu befreien. Charlotte erinnerte sich gut an den Namen, weil ihr Vater ihn bei verschiedenen Gelegenheiten wiederholt hatte und weil es den Sklaven auf New Fortune, genau wie auf den meisten Plantagen der Umgebung, aufs strengste verboten war, ihre Söhne Nat zu nennen. Turner und sieben seiner Anhänger waren mitten in der Nacht in das Haus ihres Herren eingebrochen und hatten ihn und seine Familie ermordet. Danach hatten sich viele Sklaven Turner angeschlossen und ihren Weg in die Freiheit mit Blut getränkt. Als Turner und seine Anhänger Monate später schließlich hingerichtet wurden, hatten sie mehr als fünfzig weiße Männer, Frauen und Kinder getötet.
Seither waren über zehn Jahre vergangen, aber wenn jemand den Sklaven erwähnte, der damals sein Volk befreien wollte, rutschten die Weißen noch immer unruhig auf ihren Stühlen herum.
«Sklaven sind von Natur aus undankbar und rachsüchtig», hatte ihr Vater erklärt. «Sie haben kein Ehrgefühl und halten ihr Wort nicht. Und wenn du nicht willst, dass sie vergessen, wo ihr Platz ist, solltest du nicht vergessen, wo deiner ist», hatte er ihr gesagt.
Charlotte wusste genau, was ihr Vater meinte. Als ihre Mutter zuließ, dass ein Sklave gemeinsam mit ihnen unterrichtet wurde, hatte sie vergessen, wo ihr Platz war. Damit hatte sie unbewusst die ganze Familie in Gefahr gebracht. Aber Charlotte wusste, was sie zu tun hatte, und bevor die Zweifel an der Überlegenheit der Weißen sich in ihrem Herzen einnisteten, würde sie diese vertreiben.
Sie schleuderte die Schachtel zu Boden und sprang mit beiden Füßen auf ihr herum. In nur einem Augenblick hatte sie sie zerstört.
***
Als die Schulstunde vorbei war, rannte Noah zur Hütte. Er musste sich umziehen und so schnell wie möglich auf die Felder, um bei der Erntearbeit zu helfen.
Er konnte es kaum erwarten, zu seiner Mutter zu laufen und ihr zu erzählen, dass er eine Schiefertafel und Kreide bekommen hatte. Er war so aufgeregt, dass er die Schachtel erst auf den zweiten Blick bemerkte.
Sie war kaputt! Jemand war so sehr auf ihr herumgetrampelt, dass sie völlig zerrissen war.
Noah stieß einen Schrei aus und – vergessen war seine neue Kleidung – kniete sich auf den Boden, um die verstreuten Einzelteile zusammenzusuchen. Wer hatte etwas so Furchtbares tun können?, fragte er sich und fing bitter an zu weinen, während er sich die staubbedeckten Überbleibsel seines wertvollen Schatzes an die Brust drückte.
***
Clarisse Gassaud war zweiundvierzig Jahre alt, als sie zum ersten Mal den Fuß auf den nordamerikanischen Kontinent setzte. In den Schoß einer wohlhabenden Marseiller Adelsfamilie hineingeboren, wuchsen Clarisse und ihr Bruder inmitten von Luxus auf. Nichts war für die Gassauds gut genug. Doch eines Tages, Clarisse hatte die zwanzig kaum überschritten, starb ihr Vater, und alles brach zusammen. Durch ein Leben in Exzess und Müßiggang hatten ihre Eltern nur ein Menschenalter gebraucht, um das Familienvermögen zu verprassen. Nicht einmal die Revolution hatte Derartiges vermocht.
Sie waren ruiniert. Zu arm, um einen wohlhabenden Mann von Stand zu heiraten, und zu klug, um eine einfache Arbeiterin zu sein, entschied Clarisse sich für die einzige Möglichkeit, die einer Frau ihrer Herkunft offenstand, wenn sie nicht den Schleier nehmen wollte. Sie wurde Gouvernante.
Es war zwar nicht ganz einfach, eine Anstellung zu finden, aber dank der Freunde, die ihr noch geblieben waren, kam sie bei den Rambadots unter. Diese ordinäre Familie hatte mit einem Marktstand am Hafen ein Vermögen angehäuft, aber alle Juwelen und Parfüms der Welt konnten den Geruch nach Fisch nicht überdecken, der jeder ihrer Gesten entströmte.
Eine gute Aussteuer verhalf den vier Rambadot-Töchtern zu Ehemännern von hohem Stand, aber geringen Einkünften, die die Fischersfamilie endlich auch in die höchsten Sphären der Marseiller Gesellschaft einführten. Fast zwanzig Jahre hatte Clarisse in den Diensten der Rambadots gestanden, aber als die Familie ihre Ziele schließlich erreicht hatte, war ihre Gegenwart nicht mehr notwendig, und man entledigte sich ihrer mit einer Gleichgültigkeit, als wäre sie ein alter Hund.
Zum zweiten Mal in ihrem Leben wusste sie nicht, wohin sie sollte. Aber obwohl sie sich gedemütigt und gekränkt fühlte, war Clarisse im Grunde höchst erleichtert, diese Familie los zu sein. Sie hatte sie immer verachtet. Hätte der Adel sich nicht für eine Handvoll Münzen kaufen lassen, hätten sie niemals Zugang zu den besten Kreisen der Gesellschaft gefunden. Als Clarisse feststellen musste, dass solche Menschen nun die gleiche gesellschaftliche Stellung einnahmen wie früher ihre Eltern, brach ihre Welt wie ein Kartenhaus zusammen. Denn trotz all der erlittenen Entbehrungen hatte sie sich immer an die Überzeugung geklammert, diesen Menschen überlegen zu sein. Und diese Gewissheit hatte ihr geholfen, ihr demütigendes Leben zu ertragen. Jetzt aber waren diese dummen Mädchen Marquisen und Gräfinnen geworden, gingen auf Bälle und in die Oper, während sie, eine Tochter der alten Grafenfamilie Gassaud, nur eine Gouvernante war, ohne Anstellung und arm wie eine Kirchenmaus.
Als sie dann aus reinem Zufall eine Anzeige entdeckte, in der eine Gouvernante in Übersee gesucht wurde, zögerte sie nicht. Ihre Verpflichtungen würden sich auf den Unterricht beschränken, und sie würde sogar ein eigenes Haus bewohnen. Das Angebot, in die Neue Welt zu reisen und die Hauslehrerin der Töchter eines Plantagenbesitzers zu werden, kam ihr reizvoll vor. Es war die ideale Gelegenheit, Marseille zu verlassen und neu anzufangen. Vorher allerdings musste sie noch eine letzte Demütigung über sich ergehen lassen. Sie musste den ordinären Fischer um ein Empfehlungsschreiben bitten.
***
Zwei Wochen nachdem Mademoiselle Gassaud auf New Fortune angekommen war, hatte sie noch immer nur zwei Schüler, darunter einen Farbigen.
«Wie ist es im Unterricht?», fragte Charlotte eines Nachmittags ihre Schwester.
«Es ist schön. Aber du fehlst mir. Wann kommst du endlich auch?»
Charlotte schüttelte den Kopf und spielte mit ein paar Steinen in ihrer Tasche.
«Das hängt von Mama ab.»
«Ach, Charlotte. Noah ist ein sehr kluger Junge. Er lernt sehr schnell. Er kann schon seinen Namen schreiben.»
Obwohl Charlotte nicht viel von Buchstaben verstand, wusste sie doch, dass der Name des Sklaven sehr viel einfacher war als der ihrer Schwester. «Er ist schließlich älter als wir», gab sie trotzig zurück. «Und mit einem so kurzen Namen hätte das jeder gelernt.»
«Aber er kann auch meinen Namen schreiben. Und deinen auch!»
Das hatte gesessen. Auf keinen Fall konnte Charlotte zulassen, dass ein Sklave ihren Namen schrieb, bevor sie selbst es konnte. Am nächsten Tag schluckte sie ihren Stolz hinunter und nahm an ihrer ersten Schulstunde teil.
***
«Großvater!», riefen die Mädchen im Chor.
Gaston Lacroix drehte sich zu seinen Enkelinnen um und breitete die Arme aus, um die Kinder in Empfang zu nehmen. «Mes petites!»
«Mama hat uns gar nicht gesagt, dass du kommst», beschwerte sich Charlotte, während der Großvater sie nacheinander in die Luft hob.
«Es war auch eine Überraschung!»
Katherine beobachtete ihren Vater. Seit er sie das letzte Mal besucht hatte, hatte er zugenommen, und obwohl er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, wurden ihm die Mädchen schnell zu schwer. «Kommt, Kinder. Lasst euren Großvater.»
Gaston Lacroix stellte jetzt Hortensia vorsichtig wieder auf dem Boden ab und richtete sich auf. «Seit meinem letzten Besuch seid ihr ganz schön gewachsen», keuchte er.
Stolz reckte sich Charlotte, damit ihr Großvater sehen konnte, wie groß sie geworden war.
«Und Hortensia ist noch mehr gewachsen!» Sie zog ihre Schwester, die noch ein gutes Stück größer war, zu sich heran.
«Aus dir wird eine sehr große junge Dame werden.» Mit der Handfläche markierte er die Stelle an seiner Brust, an die der Kopf seiner Enkelin reichte.
Hortensia lächelte. «Großväterchen, wir haben schon die Geschichten gelesen, die du uns letztes Jahr geschenkt hast.»
«Habt ihr sie mit Mama gelesen?»
Rasch verneinte Hortensia. «Nein, mit Mademoiselle Gassaud.»
«Mon Dieu! Und wer ist Mademoiselle Gassaud?»
«Die Gouvernante der Mädchen», fiel Katherine ein. «Sie ist am Anfang des Sommers angekommen.»
Überrascht erstrahlte Gastons Gesicht, als er den Namen der Hauslehrerin vernahm. «De la France?»
«Oui, papa, de la France», antwortete Katherine.
«Lernt ihr denn viel bei Miss Gassaud?»
Die beiden Mädchen nickten.
«Und haben euch die Geschichten gefallen?»
«Sie waren wundervoll, Großvater!», rief Hortensia aus. «Und Noah haben sie auch sehr gefallen.»
«Noah? Und wer ist Noah?»
«Noah …», Hortensia wusste nicht, wie sie es sagen sollte, «das ist ein Junge …»
«Es ist der Sklave, der mit uns zum Unterricht geht», erklärte Charlotte mit Unschuldsmiene. Sie wusste nur zu gut, dass niemand außerhalb von New Fortune erfahren durfte, dass ein Sklave gemeinsam mit ihnen am Unterricht teilnahm. Ihr Vater hatte ihr erklärt, welche Unannehmlichkeiten das für ihre Mutter haben konnte, und sie hatte ihm versprechen müssen, mit niemandem darüber zu reden. Aber der Großvater gehörte zur Familie. Und Charlotte wollte keinesfalls eine Gelegenheit verstreichen lassen, um ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen und einen Verbündeten zu suchen.
Hortensia schubste ihre Schwester heimlich, damit sie nicht noch mehr sagte, aber Charlotte blieb ungerührt.
Obwohl man nicht die Spur einer Veränderung in Gaston Lacroix’ Gesichtsausdruck sah, loderten seine Pupillen auf. Katherine vermied es, ihn direkt anzusehen.
«Sehr gut», sagte er und schnippte laut mit den Fingern. «Wer errät wohl, für wen diese Kästchen sind?»
Sofort hatten die Mädchen Noah vergessen und wandten sich dem Tisch zu, auf den der Großvater zeigte.
Dort standen zwei Holzkästchen. Sie sahen so ähnlich aus wie die Zigarrenkästchen ihres Vaters, nur etwas breiter.
«Sind die für uns?»
«So ist es. Für jede eines.»
Charlotte hatte schnell das Kästchen an sich genommen, auf dem ihr Name eingeprägt war. Als sie es öffnete, blieb ihr der Mund offen stehen.
«Sie sind aus Gold», erklärte Gaston Lacroix. «Eine für jeden Geburtstag.»
Auch Hortensia öffnete den Verschluss ihres Kästchens mit zitternden Händen und betrachtete gebannt die Goldmünzen darin.
«Schaut sie euch einmal genau an», meinte Gaston Lacroix und nahm jeweils die erste Münze aus den Kästchen. «Auf dieser hier ist dein Name und der Tag eurer Geburt eingraviert.» Er zeigte sie Hortensia. «Und dies ist deine, Charlotte.»
Lacroix legte die Münzen wieder in die mit Samt ausgeschlagenen Mulden und zeigte auf die beiden folgenden.
«Seht ihr? Hier erscheint das Datum eures ersten Geburtstages, und des zweiten, des dritten … für jeden Geburtstag eine Münze. Und von jetzt an werde ich euch jedes Jahr eine neue schenken.»
Gaston Lacroix freute sich an den staunenden Gesichtern seiner Enkelinnen.
«Außerdem», flüsterte er geheimnisvoll, «hat mir ein Vögelchen gezwitschert, dass es vielleicht noch eine Überraschung gibt …»
«Geschenke?», rief Charlotte, als sie das Kästchen schnell wieder zuklappte.
«Wer weiß?», antwortete Lacroix. «Ich weiß nur, dass das Vögelchen aus eurem Zimmer geflogen kam.»
Behutsam strich Hortensia über die Münzen und klappte ihr Kästchen langsam zu. Dann ging sie zu ihrem Großvater und gab ihm einen Kuss. «Danke! Das ist das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe.»
Dann rannten die beiden Mädchen in ihr Zimmer.
«Du verwöhnst sie zu sehr», mahnte Katherine ihn liebevoll, als die Mädchen sie allein gelassen hatten.
Lächelnd zuckte ihr Vater mit den Schultern.
***
Gaston Lacroix hatte es sich auf der Veranda gemütlich gemacht, als Katherine zu ihm trat und ihn mit einem Kuss begrüßte.
«Wie war der Spaziergang?»
Der Saum ihres Kleides war mit Dreck verschmutzt. «Angenehm», antwortete sie.
«Leistest du mir ein wenig Gesellschaft?»
«Natürlich, Papa.»
Lacroix wartete, bis Katherine an seiner Seite Platz genommen hatte. «New Fortune ist wirklich ein wunderschöner Ort», sagte er sinnierend und ließ seinen Blick über die Hügel schweifen, von denen die Plantage umgeben war.
«Das stimmt.»
«Katherine …?»
«Ja, Vater?»
Am nächsten Tag würde Gaston nach New Orleans zurückkehren, nachdem er fast zwei Wochen auf New Fortune verbracht hatte. Und obwohl Katherine und David sich bemüht hatten, den Schein zu wahren, spürte Gaston die Spannung, die zwischen ihnen herrschte.
«Bist du glücklich?»
Katherine legte ihrem Vater die Hand auf den Arm. «Ich habe mir mein Leben selbst ausgesucht.»
Gaston schien über die Worte seiner Tochter nachzudenken. «Heute habe ich Noah kennengelernt.»
«Noah?»
«Ja.» Er nickte. «Ohne Frage ein intelligenter, aufgeweckter Junge. Er erinnert mich daran, wie sein Vater war, als ich ihn gerade kennengelernt hatte.»
«Wie hast du es herausgefunden?»
Gaston lächelte. «Noch bin ich weder zu alt noch zu dumm, um zu bemerken, was in meiner Umgebung vor sich geht. Ein Sklave, der mit den Töchtern seiner Herrschaft zur Schule geht! Ich kenne dich, Katherine. Du willst ihn damit demütigen.»
«Das stimmt nicht. Ich sorge mich nur um das Wohlergehen des Kindes.»
«Bist du sicher, dass du es für das Kind tust?»
Bei dieser Frage ihres Vaters spürte Katherine ein leichtes Unbehagen. «Wie kann es für ein Kind, das immer ein Sklave bleiben wird, gut sein, Wissen zu erwerben? Du wirst den Jungen nur noch unglücklicher machen. Katherine, wenn dir wirklich etwas an der Zukunft dieses Jungen und seiner Mutter liegt, kann ich sie nach New Orleans mitnehmen. Bei mir wird es ihnen gutgehen.»
Zwar wusste Katherine tief in ihrem Inneren, dass ihr Vater nicht unrecht hatte, aber sie wollte es nicht zugeben.
«Er hat mich betrogen», sagte sie.
Gaston Lacroix war immer ein praktisch veranlagter Mensch gewesen und hielt seine Tochter ebenfalls dafür. «Du bist eine kluge, erwachsene Frau. Und auch wenn man nicht darüber spricht, musst du wissen, dass es durchaus üblich ist, dass weiße Männer zu ihren Sklavinnen gehen … Das war schon immer so. Eine Frau sollte wissen, wann sie wegschauen muss.»
«Ich kann das nicht, Papa. Und es überrascht mich, dass du das von mir verlangst.»
«Ich verlange es nicht von dir, ich glaube einfach, du solltest nachdenken und gerecht sein. Als David den Jungen gezeugt hat, kannte er dich nicht einmal.»
«Er hat mich betrogen», wiederholte Katherine und dachte dabei an Molly.
«Sei vorsichtig, Katherine. Verletzter Stolz ist ein schlechter Ratgeber. Eines Tages wird David es satthaben zu warten. Wenn du eure Verbindung zu sehr strapazierst, wird sie zerbrechen. Das Leben geht so schnell vorbei, meine Kleine. Lass nicht zu, dass Groll das deine zerstört. Wenn du ihm nicht verzeihen kannst, dann verlass ihn. Komm mit mir nach Hause zurück.»
«Danke, Papa, aber mein Platz ist hier.»
«Wie du willst, Katty. Aber vergiss nicht, dass Deux Chemins immer dein Zuhause sein wird. Was auch immer geschieht.»
«Ich werde daran denken, Papa.»
***
«Miss Charlotte, können Sie mir das Ergebnis nennen?»
Charlotte hatte die Frage nicht gehört. Verstohlen blickte sie zum benachbarten Pult, aber Hortensia schien ebenso verloren zu sein wie sie selbst. «Zwanzig», antwortete sie aufs Geratewohl.
«Miss Hortensia. Fünfzehn mal zwei?» Müde wiederholte die Gouvernante ihre Frage.
Wenn es etwas gab, das Hortensia nicht mochte, dann war es Rechnen. Sie liebte es, zu malen und den schönen Geschichten und Märchen aus den Büchern zu lauschen, aber es lag auf der Hand, dass Zahlen nichts für sie waren. Sie warf einen Blick in ihr Heft, in dem zwei hässliche Striche neben einer dritten Zahl zeigten, dass sie ihre Meinung mehrmals geändert hatte.
«Dreißig?», brachte sie verzagt vor.
«Richtig.»
Erleichtert seufzte das Mädchen. Aber bevor sie sich entspannen konnten, hatte Mademoiselle Gassaud schon eine weitere Aufgabe an die Tafel geschrieben.
Charlotte verzog das Gesicht, als sie die vielen Siebenen sah, die in der Rechenaufgabe enthalten waren. Siebenen hatte sie noch nie gemocht.
«Siebenundsiebzig mal sieben?»
Zum zweiten Mal drehte Charlotte sich hilfesuchend nach Hortensia um, aber die zuckte mit den Schultern.
«Weiß jemand die Antwort?»
Die beiden Mädchen steckten die Köpfe tief in ihre Hefte und wagten nicht aufzublicken. Und Noah tat gar nichts. Er hatte die Aufgabe noch nicht einmal in sein Heft geschrieben. Schon vor einiger Zeit hatte er festgestellt, dass er für Mademoiselle Gassaud nicht existierte. Außerdem mochte er die hochnäsige Frau mit dem verkniffenen Gesicht nicht. Die vorstehende Nase und die schmalen, eng zusammenstehenden Brauen, die sich in der Mitte abwärts neigten, verliehen ihr das Aussehen ständiger schlechter Laune. Die farblosen Lippen hoben sich kaum von der blassen Haut ab. Verstohlen betrachtete Noah die Hände der Lehrerin, ihren langen und dünnen Hals, und versuchte dann, sich vorzustellen, wie die braunen, sauer dreinblickenden Augen wohl aussahen, wenn sie in einem Lächeln erstrahlten. Dabei entstand plötzlich ein ganz anderes Bild von Mademoiselle Gassaud, ohne den schrecklichen Dutt und die Brille, die ihr an einem Kettchen um den Hals hing. Und er dachte überrascht, dass sie eigentlich eine schöne Frau gewesen sein musste.
Als Noah vor einem Jahr mit dem Unterricht angefangen hatte, standen die drei Pulte noch in einer Reihe, aber Mademoiselle Gassaud hatte nach wenigen Wochen verfügt, die Mädchen nach vorne zu setzen und Noah dahinter, neben die Tür, um das Schulzimmer harmonischer zu gestalten, wie sie sagte.
«Vielleicht weiß Noah die Lösung, Mademoiselle Gassaud», sagte Charlotte, die aus den Augenwinkeln erspäht hatte, dass Noahs Heft leer war.
Die Gouvernante musste nur den Namen des Jungen hören, damit sie sich noch etwas gerader aufrichtete. Seit dem ersten Unterrichtstag sagte sie sich, dass sie ihn einfach nicht beachten würde. Außerdem war sie davon überzeugt, dass ein Sklave nicht fähig wäre, irgendetwas zu lernen. Das würde auch Mrs. Parrish bald einsehen müssen und sich schließlich geschlagen geben. Dann würde man ihn wieder auf die Baumwollfelder schicken, wo er wahrscheinlich hergekommen war, und sie wäre ihn los. Die Ordnung wäre wiederhergestellt.
Aber trotz allem lernte der Sklave, und zwar schneller als jeder andere Schüler vor ihm. Diese Aufgabe hatte er jedoch nicht einmal von der Tafel abgeschrieben. Vielleicht wusste er die Lösung nicht. Clarisse wollte unbedingt beweisen, dass dieser Junge nicht so intelligent war, wie es den Anschein hatte. Einige grundlegende Prinzipien durften sich einfach nicht verändern. Genauso wenig wie Fischverkäufer zum Adel aufstiegen, konnte ein Sklave so klug sein wie ein Weißer.
«Sie!»
Noah hob den Kopf und deutete mit dem Finger fragend auf seine Brust.
«Ja, Sie», wiederholte Mademoiselle Gassaud streng. «Wie viel ist siebenundsiebzig mal sieben?»
Die Mädchen drehten sich um. Noah spürte, wie Charlotte ihn förmlich anstarrte. Mademoiselle Gassaud hingegen versuchte, ihm nicht direkt ins Gesicht zu sehen. Aber er hatte durchaus schon bemerkt, wie sie ihn ansah, wenn sie sich unbeobachtet glaubte. Dann erkannte er das Feuer in ihren Augen. Auf die gleiche Weise sah auch sein Vater ihn an. Hinter dieser Frage versteckte sich tiefer Hass.
Noah zögerte. Er wusste nicht, ob er antworten sollte.
Ein triumphierendes Lächeln zeigte sich auf Charlottes Gesicht. Nur Hortensia versuchte, ihn mit ihrem Blick zu ermutigen. Noah wusste, dass sie Vertrauen in ihn hatte.
«Fünfhundertneununddreißig», brachte er mit dünner Stimme hervor.
Hasserfüllt blickte Mademoiselle Gassaud ihn an. «Können Sie das wiederholen?»
«Fünfhundertneununddreißig.»
Die Lehrerin drehte sich um und löste die Rechenaufgabe an der Tafel. Eine nach der anderen erschienen die Zahlen, drei, neun … und als die Fünf auf dem schwarzen Untergrund der Tafel Form annahm, wurde die Kreide langsamer und zerbrach. Charlottes anmaßendes Lächeln wich einer erstaunten Grimasse. Jetzt schenkte Hortensia dem Sklavenjungen das süßeste Lächeln, an das er sich erinnern konnte. Und zum ersten Mal seit Beginn des Unterrichts lächelte auch Noah.
Clarisse Gassaud brauchte ein paar Sekunden, um die Fassung wiederzuerlangen und sich erneut ihren Schülern zuzuwenden. Dieser dumme Sklave hatte sie gedemütigt, und das würde sie ihm nicht verzeihen. Sie faltete die Hände vor dem Schoß, begab sich mit festem Schritt zu ihrem Pult und öffnete das Lesebuch. Die Mathematikstunde war vorbei.
«Beginnen Sie, Miss Charlotte.»
Augenblicklich verschwanden die Mathematikhefte von den Pulten und wurden durch die Lesebücher ersetzt.
Noch immer wütend darüber, dass sie Noah nicht hatte bloßstellen können, öffnete Charlotte das Buch an der Stelle, an der sie das letzte Mal aufgehört hatten. Stockend begann sie zu lesen.
Es handelte sich um die «Reise um die Welt» des großen englischen Seefahrers James Cook. Im Moment lasen sie das Kapitel, in dem er von der Entdeckung einer sehr entlegenen Insel namens Neuseeland erzählte. Ihre Einwohner waren Wesen mit dunkler Haut, wild, gewalttätig und halbnackt, die ihre Ohrläppchen mit Tierknochen durchbohrten und ihre Körper von Kopf bis Fuß tätowiert hatten. Sogar eine Illustration zeigte das furchterregende Aussehen jener Wilden.
Charlotte ärgerte sich darüber, dass Hortensia sich so gut mit Noah verstand. Aber ihre Schwester konnte nichts dafür. Sie war gut und vertrauensselig, und im Unterschied zu Charlotte wusste sie nichts über die wahre Natur der Sklaven. Hortensia hatte die Geschichten ihres Vaters nie gemocht. Sie wollte nichts von Nat Turner hören und den schrecklichen Dingen, die er getan hatte. Zwar warnte Charlotte ihre Schwester ständig davor, wie gefährlich es war, sich mit den Sklaven abzugeben, aber immer wenn sie davon anfing, beschränkte Hortensia sich darauf zu erklären, dass sie Noah mochte und für einen sehr sympathischen und intelligenten Jungen hielt.
Auch jetzt lächelten die beiden sich glücklich zu und achteten gar nicht auf den Text, den Charlotte ohne große Leidenschaft vortrug. Aber die Stelle über die Wilden und die Illustration dazu hatten Charlotte auf eine Idee gebracht. «Mademoiselle Gassaud?»
Die Lehrerin blickte auf. «Miss Charlotte? Wünschen Sie etwas?»
Der schneidende Ton in der Stimme der Gouvernante verriet Charlotte, dass sie den Zwischenfall mit Noah noch nicht vergessen hatte. Das Mädchen hatte gleich bemerkt, dass diese einsilbige Frau heftigen Groll gegenüber dem Sklaven hegte. Neben der Tatsache, dass sie seine Gegenwart seit einem Jahr ignorierte, zeigten das auch die heimlichen Blicke, die sie ihm hinter ihrem Textbuch verschanzt zuwarf. Dabei glühten ihre Augen, und ihr Kiefer war angespannt. Diese Frau hasste den Sklaven, das hätte sogar ein Blinder bemerkt. Nur ihre Mutter ahnte nicht das Geringste.
Charlotte lächelte unschuldig. Das war ihre Gelegenheit. «Entschuldigen Sie, Mademoiselle Gassaud. Könnten Sie uns erklären, warum die Wilden und die Sklaven dunkle Haut haben?»
«Gott hat sie so erschaffen», antwortete die Lehrerin und sah Noah zum ersten Mal seit ihrer Ankunft auf New Fortune fest an.
Noah fühlte, wie er bis über beide Ohren errötete.
«Der Herr hat sie farbig gemacht, um sie zu zeichnen. So kann man sie vom weißen Mann unterscheiden, den Er nach seinem Bild erschaffen hat», erklärte sie und ließ all dem Hass freien Lauf, den sie in ihrem Leben angehäuft hatte.
Hortensia warf Charlotte einen wütenden Blick zu, aber die achtete einfach nicht auf ihre Schwester.
Inzwischen hatte die Lehrerin die übliche Kontrolle über ihre Stimme wiedererlangt. Noah verstand nicht, wie es sein konnte, dass Mademoiselle Gassauds Stimme fern und kalt klang, während die seiner Herrin so sanft und warm war, wo doch beide die gleiche Sprache sprachen.
Um den feindseligen Blicken zu entgehen, die ihn förmlich durchbohrten, senkte Noah den Kopf so weit hinunter, wie er konnte. Am liebsten wäre er weggelaufen, aber doch hielt ihn etwas zurück. Er wollte wissen, warum er anders war. Warum war seine Haut dunkel und die seiner Schwestern hell? Oft schon hatte er danach fragen wollen, aber wen? Seine Mutter wollte er nicht traurig machen, und er glaubte nicht, dass einer der anderen Sklaven die Antwort kannte. Heute würde er es endlich erfahren.
«Die dunkle Haut zeichnet jene, die Satan dienen», fuhr Mademoiselle Gassaud fort.
Bei der Erwähnung von Satan hielten Charlotte und Hortensia erschrocken den Atem an. Auch Noah blieb reglos sitzen. Er durfte nicht einen Laut verpassen. Alles wollte er wissen. Er versuchte, den Namen dieses mächtigen Herrn im Kopf zu behalten, aber im Unterschied zu seinen Schwestern, die ihn zu kennen und zu fürchten schienen, hatte Noah noch nie von ihm gehört.
Die drei Schüler wagten nicht einmal zu blinzeln.
«Zu Anbeginn der Zeit, als sich der Herr der Finsternis gegen unseren Gott auflehnte, schlossen sich ein paar missgünstige Wesen den Horden des Bösen an. Trotzdem triumphierte das Gute. Der Aufstand wurde niedergeschlagen, und der bösartige und gehässige Satan, der sich gegen den eigenen Vater aufgelehnt hatte, wurde in die Hölle verbannt. Nach dieser Niederlage wurden alle verflucht, die sich vom Allmächtigen abgewandt hatten und dem Verräter folgten.»
Hier machte Mademoiselle Gassaud eine wirkungsvolle Pause. Noah schluckte, und Hortensia und Charlotte fassten sich an den Händen.
«Ihrer Seelen beraubt, wurden sie und ihre Nachkommen dazu verdammt, wie Wilde über die Erde zu wandeln. Damals ist ihre Haut dunkel gefärbt worden, damit sie ihren Verrat nicht verbergen konnten. Der Herr hat das zu unserem Schutz getan. So können sie uns nicht mit ihren hinterlistigen Worten über ihre gehässige Natur hinwegtäuschen. Seither müssen sie den weißen Männern und Frauen dienen, die unserem Gottvater treu geblieben sind. Das ist ihre Strafe, und die Farbe ihrer Haut ist ihre Schmach.»
Sosehr er sich auch anstrengte, Noah konnte sich nicht erinnern, jemals diesem schrecklichen Herrn Satan gedient zu haben, und er glaubte auch nicht, dass seine Mutter es getan hatte. Er hatte immer geglaubt, dass sie auf einer Plantage in der Nähe geboren war und an Master Parrish verkauft wurde, als sie noch ein Kind war. Vielleicht waren die Vorfahren schuld, von denen Mademoiselle Gassaud gesprochen hatte. Als er seine dunkle Haut betrachtete, verstand Noah zum ersten Mal den Grund für die Verachtung im Blick seines Vaters. Im Unterschied zu seinen Schwestern war er mit dem Zeichen für Satans Verrat geboren worden. Master David musste also denken, dass er ihn eines Tages verraten würde. Aber das stimmte nicht. Als sie ihn einfärbten, hatten sie sich geirrt. Er war nicht böse, und selbst wenn er dieses Ding namens Seele nicht hatte, war er auch kein Wilder. Und das würde er beweisen. Als Mademoiselle Gassaud ihm in die Augen gesehen hatte, hatte sie gesagt, dass seine dunkle Haut nur gefärbt war. Und Farbe ging ab, auch wenn sie in einer dünnen Schicht an seinem Körper haftete. Er hatte das bei Hunderten von Möbeln auf der Plantage gesehen. Und er konnte das auch, er konnte diese dunkle Schicht, die ihn in den Augen seines Vaters böse und gehässig machte, abreißen und sich in ein weißes Kind verwandeln, das man bedenkenlos lieben konnte.
***
Am nächsten Tag stand Noah im Morgengrauen auf. Es war Sonntag, und er musste nicht in die Schule. Er nahm einen rauen Schwamm aus Espartogras, den er aus dem Lager mitgenommen und unter dem Kissen versteckt hatte, und stahl sich lautlos aus der Hütte, damit seine Mutter nicht aufwachte.
Ohne dass ihn jemand bemerkte, lief er zwischen den Hütten hindurch und rannte dann flussaufwärts bis zu der Biegung, wo sich das Wasser in einem kleinen Bassin staute. Sie war von Bäumen umgeben, und am Ufer stand ein einfacher Grabstein mit frischen Blumen, wo der Leichnam einer freigelassenen Sklavin ruhte.
Nervös blickte Noah nach links und rechts. Er war ungeduldig, wollte aber nicht, dass ihn jemand entdeckte. Als er sicher war, dass ihn nicht einmal die Vögel beobachteten, zog er sich aus, nahm den Espartoschwamm aus der Hosentasche und tauchte ins eisige Wasser ein. Für einen Moment hörte das Blut auf, in seinen Adern zu zirkulieren, und seine Lippen wurden blau. Seine Zähne klapperten laut, aber er konnte nicht mehr zurück. Jetzt fing er an, sich mit dem harten Espartoschwamm abzuschrubben. Er rieb so kräftig, dass seine Haut rot wurde.
Vor Kälte ganz starr, schrubbte er immer weiter, ohne den Mut aufzubringen, sich anzusehen. Erst als er keine Kraft mehr hatte, betrachtete er hoffnungsvoll seinen Körper. Voller Schrecken entdeckte er, dass seine Haut zwischen all den Kratzern und dem Blut, das Tropfen auf den Wunden bildete, genauso schwarz war wie vorher, und er begriff, dass kein Schwamm der Welt das ändern könnte. Mutlos ließ er den Schwamm los und schleppte sich aus dem Wasser. Als er sich am Ufer zu Boden fallen ließ, fing er untröstlich zu weinen an.
***
In jener Nacht hatte Katherine wie so oft nicht einschlafen können. Es war noch sehr früh am Morgen, als sie sich anzog und einen Spaziergang machte. Gerade wollte sie aus dem Dickicht der Bäume treten und Mollys Grab besuchen, als sie einen Jungen sah, der zum Ufer rannte. Es war Noah. Katherine zögerte einen Moment lang, aber sie beschloss, noch im Schutz der Bäume stehen zu bleiben und das Kind zu beobachten. Sie sah, wie er sich auszog und ins Wasser tauchte. Obwohl der Morgen angenehm war, musste das Wasser sehr kalt sein.
Aufmerksam beobachtete sie den Jungen, bis er sich kraftlos und besiegt zu Boden fallen ließ, das Gesicht tränennass.
Dann näherte Katherine sich ihm leise und setzte sich neben ihn ans Ufer. Er zitterte vor Kälte, und sein ganzer Körper war mit blutigen Schrammen bedeckt.
Als Noah merkte, dass die Herrin sein Geheimnis entdeckt hatte, spürte er Scham in sich aufsteigen und versank noch tiefer in all den verwirrenden Gefühlen, die ihm den Atem stocken ließen. Aber Herrin Katherine sagte nichts. Sie blieb nur bei ihm sitzen und deckte ihn mit ihrem wunderschönen Seidenschal zu, der mit Blumen in prachtvollen Farben bestickt war. Danach saßen sie nebeneinander schweigend da, bis die Sonne hinter dem Horizont erschien.
Katherine Lacroix erzählte nie jemandem Noahs kleines Geheimnis, und er würde niemals das Geheimnis seiner Herrin enthüllen. Er hatte es zufällig vor ein paar Tagen entdeckt, als er sich nah am Grab der freigelassenen Sklavin hinter den Bäumen versteckt hatte. Katherine sprach mit dieser Frau, und Noah konnte sogar ihre Worte verstehen. Sie erzählte von der Tochter, die die Sklavin nicht aufwachsen sehen konnte. So hatte Noah herausgefunden, was David niemals aus dem Mund seiner Frau erfahren würde.
An diesem Tag war zwischen dem kleinen Sklaven und seiner Herrin eine Freundschaft entstanden, die im Verlauf der Jahre immer weiter wachsen sollte.
Am nächsten Tag verließ Mademoiselle Gassaud die Plantage. Katherine Lacroix kümmerte sich von da an selbst um die Erziehung der drei Kinder ihres Mannes.