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Im September 1842 war das Schulschiff USS Somers von Brooklyn aus in See gestochen. An Bord hatten sich junge Freiwillige befunden, die man mit Hilfe dieser einzigartigen Erfahrung dazu bringen wollte, ihr Leben der Marine zu widmen. Viele Menschen waren zum Kai gekommen, um die jungen Leute zu verabschieden, die eine lange Überfahrt bis zur afrikanischen Küste unternehmen würden, aber niemand hatte ahnen können, dass das Abenteuer in einer Tragödie enden würde. Schon wenige Wochen nach dem Aufbruch wurde klar, dass man mit Disziplinproblemen zu kämpfen hatte. Und als das Schiff die liberianische Küste verließ und sich auf die Heimfahrt machte, erhärtete sich der Verdacht, dass eine Verschwörung im Gange war. Der Kapitän musste handeln. Philip Spencer, der Sohn des Kriegsministers der Vereinigten Staaten, hatte sich bereits verdächtig gemacht, und am 26. November entdeckte man bei ihm eine Liste mit den Namen der übrigen Verschwörer. Er und seine Anhänger wurden verhaftet und der Meuterei für schuldig befunden. Man verurteilte sie zum Tode, hängte sie noch auf dem Schiff und warf ihre Leichen ins Meer. Philip Spencer, der Rädelsführer, war erst neunzehn Jahre alt.

Die Meuterei auf der Somers hatte die Nation erschüttert. Nachdem man erkannt hatte, dass das Experiment, junge Männer ohne Ausbildung auf ein Schiff zu holen und sie den Beruf in der täglichen Praxis erlernen zu lassen, ein schrecklicher Misserfolg gewesen war, beschloss man, die neue Marineschule an Land zu errichten.

Dank der Bemühungen des Marineministers George Bancroft konnte die Schule 1845 in den Gebäuden von Fort Severn eingerichtet werden, zwischen der Mündung des gleichnamigen Flusses und dem Ufer der Chesapeake Bay im Bundesstaat Maryland.

Schon Anfang 1850 wurden die fünf Jahre der Basisausbildung auf sieben aufgestockt, und ab Sommer 1851, als die Fregatte USS Preble als Schulschiff in Dienst genommen wurde, wurde der vierjährige Teil der Ausbildung in einem Stück absolviert. Im gleichen Jahr erhielt die Schule den Namen United States Naval Academy.


Die USS Preble, ein Dreimaster mit sechzehn Kanonen war dafür konstruiert, große Kriegsschiffe zu unterstützen und mit hohen Geschwindigkeiten zu segeln.

Scott lächelte, als der Bug gegen die blaue Weite schlug und Schaum auf das Deck spritzte. Der Sommer war fast vorüber und damit auch die Fahrt über den Atlantik, die die jungen Männer in den letzten Monaten unternommen hatten. Als er jetzt den Wind im Gesicht spürte und den unendlichen Horizont vor sich betrachtete, wusste Scott, dass er dieses Gefühl von Freiheit vermissen würde.

***

Seitdem sie wieder an Land waren, hatte es nicht aufgehört zu regnen. Der Unterricht würde erst in ein paar Tagen beginnen, aber bei dem schlechten Wetter waren sie praktisch in ihren Zimmern eingeschlossen.

Richard las ein Buch über militärische Taktik, Arnold und Klaus spielten eine Partie Schach, Scott lag auf dem Bett. Arnold schlug Klaus’ Dame. «Schach und matt», verkündete er und nahm sich die Brille ab.

Zähneknirschend stellte Klaus fest, dass ihm kein Ausweg blieb. Ein weißer Springer verhinderte, dass er den König wegziehen konnte. Nachdem er nochmal alle Möglichkeiten analysiert hatte, schlug Klaus wütend gegen seine Figur, und der schwarze König fiel auf das Spielbrett. Dann stand er auf und stellte sich vor das Fenster.

«Verfluchter Regen!», schimpfte er. Scott warf einen Ball in die Luft und fing ihn wieder auf.

«Kannst du vielleicht aufhören, mit diesem verdammten Ball herumzuspielen?»

Die unterdrückte Wut, die man aus diesen Worten heraushörte, ließ Richard von seinem Buch aufblicken. Klaus hatte Scott nie ausstehen können, es war zwar in den letzten Monaten zu keinem Zusammenstoß mehr gekommen, aber das Eingeschlossensein der letzten Tage hatte den unbeherrschten jungen Mann deutscher Herkunft auf eine harte Probe gestellt.

«Hier kann wohl jemand nicht gut verlieren», murmelte Scott und warf seinen Ball erneut in die Luft.

«Was soll das heißen?»

«Nichts», sagte Scott, fing den Ball und warf ihn wieder hoch. Diesmal trat Klaus schnell einen Schritt vor, fing Scotts Ball im Flug ab und quetschte ihn voller Zorn zusammen.

«Warum bist du nicht schon längst verschwunden?»

«Weil ich so ungern auf deine Gesellschaft verzichten möchte. Und was ist übrigens mit dir? Warum bist noch hier? Strategisches Denken ist ja offensichtlich nicht deine Stärke.»

Richard warf Scott einen warnenden Blick zu. Klaus war zu impulsiv und zu stolz, um sich seine sarkastischen Bemerkungen gefallen zu lassen. Außerdem wusste Richard, warum Klaus Scott gegenüber so feindselig war. Klaus konnte ihm nicht verzeihen, dass er nach dem offiziellen Beginn des Unterrichts noch angenommen worden war. Im Gegensatz zu Richard gehörte Klaus zu keiner bedeutenden Südstaaten-Familie. Er hatte hart für einen Platz in der Akademie kämpfen müssen. Sein Aufnahmeantrag war erst nach zwei Jahren bewilligt worden. Dass jemand wie Scott seinen Platz ohne die geringste Anstrengung bekam, war Klaus unerträglich.

«Was willst du damit andeuten?», antwortete Klaus angriffslustig.

«Ich deute gar nichts an. Ich sage dir geradeheraus, dass jeder Idiot diesen Springer gesehen hätte.»

«Es reicht, Scott», warnte Richard.

«Wenn du so schlau bist, dann beweise es doch», höhnte Klaus und schleuderte ihm wütend den Ball ins Gesicht. Gerade noch rechtzeitig konnte Scott seine Arme hochreißen und das Wurfgeschoss abfangen. Dann sprang er auf und wartete, dass Arnold ihm seinen Platz überließ.

Obwohl Richard nicht ein einziges Mal beobachtet hatte, dass Scott Schach gespielt oder sich auch nur dafür interessiert hätte, ahnte er, dass Klaus nicht die geringste Chance hatte. Und ihm war ebenfalls bewusst, dass Klaus es nicht ertragen könnte, gegen Scott zu verlieren. Einen kurzen Moment lang hoffte er, Scott würde ihn vielleicht gewinnen lassen, aber der schien sich mächtig auf die Partie zu freuen.

Klaus setzte sich wieder auf seinen Platz.

Scott eröffnete mit dem Königsbauern. Klaus tat es ihm gleich. Dann zog Scott den Läufer, stand auf und spielte mit seinem Ball. Klaus hingegen überdachte akribisch alle seine Möglichkeiten, bevor er sich entschließen konnte, eine Figur zu bewegen. Keine fünf Minuten später war Klaus’ schwarzer König schon wieder bedroht.

«Schach», sagte Scott.

Klaus starrte den König an, der von einem einfachen Bauern bedroht wurde. Missgelaunt machte er sich daran, seinen König in Sicherheit zu bringen, als Scott auf zwei Figuren zeigte, die Klaus nicht bemerkt hatte.

«Vielleicht sollte ich gleich ‹Schachmatt› sagen.»

Als Klaus feststellte, dass Scott ihn mit den Springern in die Enge gedrängt hatte, lief sein Gesicht rot an.

«Wir spielen noch eine Partie», befahl er und ballte die Fäuste.

«Wir können so oft spielen, wie du willst, das Ergebnis wird sich deshalb trotzdem nicht ändern.»

«Jetzt spiele ich mit den Weißen», sagte Klaus, drehte das Brett um und fing an, die Figuren wieder aufzustellen.

Scott stand auf.

«Setz dich wieder hin», befahl Klaus ihm wütend. «Du schuldest mir eine Revanche.»

«Ich sage doch, dass ich keine Lust habe.»

«Das schuldest du mir.»

«Ich schulde dir überhaupt nichts. Du hattest deine Chance.»

Heftig presste Klaus die Kiefer aufeinander. Aber Scott beachtete ihn nicht. «Ganz schön dicke Luft hier drin. Ich mache wohl lieber einen Spaziergang», sagte er, wandte sich zur Tür und verließ den Raum, nicht ohne noch einmal seinen Ball in die Luft zu werfen.

In diesem Moment explodierte Klaus. Als er aufsprang, warf er rücksichtslos den Stuhl und den Tisch mit dem Schachbrett um und rannte Scott hinterher. Dann stürzte er sich mit einem solchen Zorn auf ihn, dass beide ins Treppenhaus taumelten, dort zu Boden fielen und polternd die Treppe bis zum Eingangsbereich im Erdgeschoss herunterrollten. Noch bevor Scott sich aufrichten und wehren konnte, war Klaus schon wieder über ihm. Er packte Scott mit wahnsinniger Wut, riss ihn hoch und beförderte ihn mit einem weiteren Schlag vor das Gebäude in den Matsch, wo Scott benommen liegen blieb.

Aufgeschreckt vom Lärm, liefen die Kommilitonen aus den angrenzenden Schlafräumen aus dem Haus.

Als Scott jetzt Anstalten machte, sich zu erheben, packte Klaus ihn erneut, riss ihn nach oben und versetzte ihm einen Schlag, der seine Lippe aufplatzen ließ und ihn erneut zu Boden streckte. Scott hatte keine Möglichkeit, sich zur Wehr zu setzen, und schirmte sein Gesicht mit den Armen ab, als Klaus sich auf ihn stürzte.

«Mach ihn fertig!», riefen jetzt einige der Kommilitonen, die sich trotz des strömenden Regens im Kreis um die beiden aufgestellt hatten. Mit dem lauter werdenden Geschrei geriet Klaus vollkommen außer Kontrolle.

Ein heftiger Treffer in die Magengrube zwang Scott dazu, seine Deckung aufzugeben. Der nächste Fausthieb traf ihn hart am rechten Wangenknochen. Er war kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren.

Jetzt verstummten die Zuschauer. Wenn Klaus weiter so auf Scott einprügeln würde, würde er ihn noch umbringen. Richard, der sich zwischen den Schaulustigen nach vorne gedrängelt hatte, versuchte sich Gehör zu verschaffen und jemanden um Hilfe zu bitten. Und da die Situation immer ernster wurde, ließen sich ein paar der Kadetten davon überzeugen, dass man die Kämpfenden trennen musste.

Drei von ihnen packten Klaus und hielten ihn fest, zwei weitere waren nötig, um ihn von seinem Gegner wegzuziehen. Richard stellte sich schützend vor Scott.

«Das ist noch nicht das letzte Wort, Yankee!», drohte Klaus und rang mit den jungen Männern, die all ihre Kräfte aufbieten mussten, damit er nicht wieder auf Scott losging.

Scott saß im strömenden Regen auf dem Boden. Beim Versuch aufzustehen, taumelte er und rutschte dabei fast im Matsch aus.

«Ich fordere Genugtuung!», schrie Klaus außer sich.

Richard packte Scott am Arm, um ihm aufzuhelfen. Sein Freund konnte sich kaum auf den Beinen halten. Seine Lippe blutete stark, und er rang nach Luft. Das rechte Auge war fast völlig zugeschwollen.

«Morgen früh um sechs! An der kleinen Bucht!»

«Bist du wahnsinnig geworden, Klaus? Duelle sind verboten, man wird euch hinauswerfen», warnte Richard, der Scott noch immer stützte. Aber Klaus ignorierte seine Warnung einfach. «Ich erwarte deine Sekundanten», schrie er wütend.

«Da kannst du lange warten, ich werde dir keine Sekundanten schicken», antwortete Scott mühsam. Mit einer Hand tastete er vorsichtig nach seiner Lippe.

«Was?»

«Du hast es gehört. Ich habe nicht die geringste Absicht, mich mit dir zu schlagen.»

Klaus spuckte verächtlich aus. Niemals hätte er eine solche Antwort erwartet. «Feigling!», brüllte er.

Keiner der Anwesenden hätte zugelassen, dass jemand vor so vielen Zeugen seine Männlichkeit in Zweifel zöge. Keiner außer Scott.

«Ich werde trotzdem warten», rief Klaus.

«Dann wirst du umsonst warten. Ich werde nicht kommen. Ich werde mich mit niemandem schlagen!», schrie jetzt auch Scott, während ihm der hinunterprasselnde Regen Blut und Dreck aus dem Gesicht wusch. Alle sollten ihn hören.

«Wenn du nicht kommst, werden alle erfahren, was für ein Feigling du bist», drohte ihm Klaus erneut.

«Sollen sie denken, was sie wollen. Ich komme auf keinen Fall. Und selbst wenn ich käme und du mich tausend Mal umbrächtest, Schach kannst du deshalb immer noch nicht spielen.»

Einige der Anwesenden warfen sich eindeutige Blicke zu. Obwohl es eigentlich verboten war, konnte man praktisch kein Duell ablehnen, ohne automatisch vor allen als Feigling dazustehen. Und wie konnte ein Feigling weiter zu ihnen gehören? Wie sollte man einem Feigling vertrauen?

«Lasst mich los!», befahl Klaus.

Vorsichtig lockerten die drei Kadetten ihren Griff. Klaus schien sich beruhigt zu haben. Mit einer abrupten Bewegung schüttelte er schließlich die Hände ab und verschwand, nicht ohne Scott noch einen drohenden Blick zuzuwerfen.

Sobald Klaus verschwunden war, kehrten auch die letzten Schaulustigen zu ihren Aufgaben zurück. Diejenigen, die Scott geholfen und sich Klaus entgegengestellt hatten, taten es ihnen gleich. Nur Richard blieb unbeirrbar an Scotts Seite und stützte ihn auf dem Weg zurück ins Zimmer.

Vollkommen durchnässt und mit Schlamm und Blut verschmiert, murmelte Scott etwas, das nach einem «Danke» klang, und ließ sich dann aufs Bett fallen.

«Eigentlich schlägt er nicht mal richtig hart zu», flüsterte er noch, bevor er die Augen schloss.


Am nächsten Morgen hatte es aufgehört zu regnen. Als die Sekundanten kamen, um Scott abzuholen, schlief der noch. Trotz der schlechten Meinung, die Klaus von Scott hatte, konnte er nicht wirklich glauben, dass sein Gegner nicht erscheinen würde. Nicht einmal Scott konnte ein solcher Feigling sein. Klaus hielt also sein Wort und traf pünktlich bei der kleinen Bucht ein. Dort wartete er. Aber Scott kam nicht.

Nach diesem Zwischenfall wurde Scott von keinem Studenten der Akademie, der etwas auf sich hielt, mehr gegrüßt. Und diejenigen, die aus den Nordstaaten kamen, waren sogar noch strenger mit ihm. Während die Südstaatler einfach annahmen, dass Scott eben ein Feigling war, nicht würdig, unter ihnen zu weilen, hielten die Nordstaatler ihn außerdem für einen Verräter, der sie alle bloßgestellt hatte.

In dem Maße, wie die politische Situation im Land schwieriger geworden war, hatte sich zwischen den Studenten ein immer größerer Graben aufgetan. Eine Art stillschweigender Vereinbarung besagte zwar, dass man nicht über Politik sprach, aber in einigen Situationen kam das Thema doch auf, und die Spannung zwischen den Parteien wurde immer spürbarer. Die Zeiten vertrauter Freundschaft waren endgültig vorüber.

Wenn Scott darunter litt, dass er auf einmal geschnitten wurde, zeigte er es jedenfalls nicht. Er machte weiter wie bisher. Nur Richard stand ihm freundschaftlich zur Seite. Irgendwie hatte diese hässliche Begebenheit sie sogar noch enger miteinander verbunden. Da war etwas in Scott, das Richard immer mehr respektierte. Und die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass sein Freund sicher noch für weitere Überraschungen gut wäre. Es wäre ein schlimmer Fehler, ihn zu unterschätzen.

Klaus hingegen beachtete Scott einfach nicht mehr. Er war nur noch ein Feigling für ihn. Er hatte es abgelehnt, sich zu duellieren, und die ganze Akademie wusste darüber Bescheid. So jemand war es nicht einmal wert, den Abschluss machen zu dürfen, und Klaus konnte sich ihm überlegen fühlen. Er schwor also, sich über nichts mehr aufzuregen, was dieses respektlose Großmaul von sich gab, denn das würde schließlich bedeuten, sich auf sein Niveau hinabzubegeben. Und wenn Klaus etwas mit Sicherheit wusste, dann, dass er weit über dieser Plage von einem Yankee stand.

***

Als die Bäume am Ufer des Severn River erneut ihre Blätter verloren, bekam Scott unerwarteten Besuch.

«Großvater!»

«Mein lieber Enkel», grüßte ihn der alte Herr und ließ sich umarmen. Aus irgendeinem Grund war Scott der einzige Mensch aus der ganzen Familie, bei dem der General weich wurde und seine steifen Umgangsformen ablegte.

«Wie bin ich froh, dich zu sehen!»

Sein Großvater lächelte. «Ich freue mich auch sehr. Ich habe dich vermisst.»

«Was machst du hier?»

«Der Superintendent ist ein Freund von mir. Er hat eine Zeit lang unter meinem Befehl gedient. Ich habe gedacht, wenn ich ihn besuche, kann ich bei der Gelegenheit sehen, wie es meinem Enkel geht.»

General Sanders legte Scott den Arm um die Schultern.

«Deine Mutter lässt dich grüßen.»

«Wie geht es ihr?»

«Du fehlst ihr.»

«Ich vermisse sie auch», sagte Scott melancholisch. Aufmunternd klopfte ihm sein Großvater auf die Schulter.

«Wie geht es Brian?»

«Deinem Bruder geht es gut. Dein Vater hat schließlich erreicht, dass er es in der Politik zu etwas bringt. Wenn er so weitermacht, wird er noch Gouverneur, bevor du hier deinen Abschluss machst.»

«Ich weiß. Mama hat mir geschrieben.»

«Kürzlich habe ich mit deinem Vater geredet. Er wird es zwar niemals zugeben, aber es ist ihm sehr schwergefallen, dich hierher zu verbannen.»

Bei der Erwähnung seines Vaters reagierte Scott abwehrend.

Sicherlich war General Sanders nie sehr glücklich darüber gewesen, dass seine Tochter einen irischen Einwanderer geheiratet hatte. Aber seine Familie drohte in Schulden zu versinken, als dieser Mann, der zwar keinen gesellschaftlichen Hintergrund, aber sehr viel Geld hatte, um die Hand seiner Beatriz anhielt. Beatriz bot sich an, für ihre Familie dieses Opfer zu bringen, und aus Angst, seine Stellung in der guten Bostoner Gesellschaft zu verlieren, hinderte der General sie nicht daran. Seither hatte er unter ständigen Gewissensbissen zu leiden, die sich in einem heftigen Groll seinem Schwiegersohn gegenüber äußerten. Im Laufe der Jahre hatte er dann aber feststellen müssen, dass seine Tochter eigentlich glücklich war. Und wäre ihr Verhältnis ein anderes gewesen, hätte er Raymond O’Flanagan wahrscheinlich sogar bewundert. Vielleicht war jetzt die Zeit gekommen, endlich seinen Frieden mit ihm zu machen.

«Es kümmert mich nicht, was er denkt», brummte Scott.

«Das sollte es aber. Du weißt, dass er dich sehr liebt.»

«Es sieht nicht danach aus.» Scott runzelte die Stirn.

«Wollen wir ein paar Schritte gehen?»

Scott nickte. Trotz ihrer unterschiedlichen Weltsichten war es für Scott immer einfach gewesen, mit seinem Großvater zu reden.

Schweigend gingen sie eine Weile nebeneinander her. Sie verließen das bebaute Gelände und liefen bis zum Wald am Fluss entlang.

«Wie geht es dir hier?», fragte der General.

«Für meinen Geschmack legt man hier ein bisschen zu viel Wert auf Ehre.»

Charles Sanders kannte den Sarkasmus seines Enkels zur Genüge. «Du meinst damit den Zwischenfall mit Leutnant Fritz?»

Überrascht zog Scott die Augenbrauen hoch. «Wie hast du davon erfahren, Großvater?»

«Nun, man hat mich nicht grundlos zum General befördert.»

«Und? Willst du mir jetzt auch vorwerfen, dass ich ein Feigling bin?»

«Ich habe nie geglaubt, dass du ein Feigling bist, und das werde ich auch jetzt nicht tun. Manchmal braucht es sehr viel mehr Mut, sich den anderen entgegenzustellen, als alles mitzumachen. Scott, ich weiß, dass du deinen Onkel sehr geliebt hast, aber es ist langsam Zeit, ihn loszulassen.»

Scotts Miene verdüsterte sich.

«Ich habe ihn auch geliebt, Scott. Er war mein Sohn. Aber du musst lernen, dass das Leben weitergeht. Er war nicht wie du. Such nicht nach Schuldigen. Das Schicksal hat bestimmt, dass er sein Leben verliert.»

«Es hatte mit dem Schicksal nichts zu tun, Großvater. Das, was ihn umgebracht hat, war der Wunsch, niemanden zu enttäuschen.»

«Ich kann nicht von dir erwarten, dass du das verstehst, Scott, aber er hat getan, was er in diesem Moment für richtig hielt.»

«Er hat sich töten lassen, Großvater!»

«Es war ein Unfall, Scott. Er ist in einem Duell gestorben.»

«Du irrst dich. Ich weiß, dass es kein Unfall war. Nachdem er aus dem Westen zurückgekommen war, hatte er sich verändert. Bisher habe ich es noch nie jemandem erzählt und werde es auch nicht wiederholen, aber in der Nacht vor dem Duell war ich bei ihm. Ein Freund hatte mir erzählt, dass Lead sich am nächsten Morgen schlagen würde. Es war fast Mitternacht, als ich ankam. Die Dienstboten hatten sich schon zurückgezogen. Du selbst warst damals für ein paar Tage in Washington.»

General Sanders lauschte aufmerksam den Worten seines Enkels. Er hatte nicht gewusst, dass Scott in der Nacht vor dem Duell mit seinem Sohn gesprochen hatte.

«Lead war betrunken. Ich bat ihn, nicht noch mehr zu trinken, aber er hörte nicht auf mich. Er war am Boden zerstört, Großvater. Seine Augen hatten diese Freude verloren, die er immer ausgestrahlt hatte. Er erzählte mir davon, was er im Westen alles getan hatte. Er erzählte mir von den Grausamkeiten, die er in seinen Feldzügen gegen die Indianer begangen hatte. Frauen und Kinder hatte er ermordet. Und nur, um ihnen ihr Land zu rauben. Ihn quälten schreckliche Gewissensbisse, weil das Blut unschuldiger Menschen an seinen Händen klebte. Die Grundsätze, die ihm als Fundament für sein Leben dienten, waren wie ein Kartenhaus zusammengefallen. Sein Leben hatte jeden Sinn verloren.»

«Das … das wusste ich nicht.»

«Er hätte es niemals zugegeben. Er wollte lieber sterben, als dich zu enttäuschen. Der Wunsch, in deinen und den Augen der Welt perfekt zu sein, war stärker als er. Er hätte dir niemals sagen können, dass er die Armee verlassen wollte.»

Schweigend nahm der General diesen Bericht über den Tod seines Sohnes auf.

«Und du machst genau das Gegenteil», sagte er schließlich. «Du stellst sicher, dass niemand etwas von dir erwartet, damit du keine Angst zu haben brauchst, uns zu enttäuschen.»

Scott senkte den Kopf.

«Es tut mir leid, Großvater. Aber ich kann ihm nicht verzeihen, dass er sich aus Angst darüber, was andere über ihn sagen könnten, hat töten lassen. Meinetwegen hätte er sein Leben nicht dafür aufs Spiel setzen müssen. Er wäre der Gleiche geblieben. Welche Bedeutung hätte es jetzt, dass jemand ihn einen Feigling nennt?»

«Für ihn hätte es eine Bedeutung gehabt», gab sein Großvater zurück. Jetzt erst verstand er vieles von dem, was seinen Sohn gequält hatte. «Vielleicht wirst du es eines Tages begreifen.»

«Nein, Großvater. Das werde ich nie begreifen.»

Ihr Spaziergang hatte sie zum Schießstand geführt.

So oft er konnte, kam Richard zum Üben her. Er trainierte gern allein. Und auch heute war er der Einzige. Scott und sein Großvater näherten sich genau in dem Augenblick, als Richard abdrückte und das Schwarze nur um eine Daumenbreite verfehlte.

«Ein guter Schuss, junger Mann!», lobte ihn der General.

«Danke», antwortete Richard und drehte sich zu dem Uniformierten in Scotts Begleitung um. Sofort als er die Sterne am Uniformrock des Unbekannten entdeckte, nahm Richard Haltung an.

«Großvater, das ist Richard Reemick. Richard, darf ich dir meinen Großvater vorstellen, General Sanders.»

Bei der Nennung dieses Namens hielt Richard den Atem an und stellte sich noch etwas gerader hin. Belustigt bemerkte Scott die Überraschung seines Freundes. «Sanders ist der Familienname meiner Mutter», erklärte er.

«General Sanders, es ist mir eine Ehre …», stotterte Richard, als er sich plötzlich dieser Legende gegenübersah.

Jeder Mann, der an einer amerikanischen Militärakademie studierte, kannte den Namen von General Sanders. Als Sanders kaum älter als zwanzig gewesen war, hatten seine gewagten militärischen Manöver im Krieg von 1812 den Vereinigten Staaten zum Sieg gegen die Engländer verholfen.

«Stehen Sie bequem, junger Mann.»

Richard lockerte seine Haltung. «Ich wusste nicht, dass Scott Ihr Enkel ist», brachte er heraus.

«Nun, er scheint unsere Verwandtschaft nicht häufig zu erwähnen. Ich nehme an, dass es ihm das Leben etwas leichter macht. Sind Sie aus dem Süden?»

«Virginia, Sir.»

«Eine wunderschöne Gegend», seufzte der General nostalgisch. «Die Wiege vieler guter Schützen.»

«Richard ist der Klassenbeste», teilte Scott ihm mit.

«Besser als du?»

«Niemand ist besser als ich, Großvater.»

Der alte General lachte.

«Was denken Sie, Mr. Reemick? Glauben Sie, dass mein Enkel ein guter Schütze ist?»

Die Frage kam überraschend für Richard. Er musste irgendetwas Löbliches sagen, wollte aber nicht lügen.

«Ich glaube, dass er seit seiner Ankunft hier sehr viel besser geworden ist.»

General Sanders schien mit der Antwort des jungen Mannes zufrieden zu sein.

«Rücksichtsvoll, aber ehrlich. Sie gefallen mir, Mr. Reemick», sagte er und nahm eine der beiden Pistolen, die Richard schon geladen auf einer Ablage bereithielt. «Darf ich?»

«Aber natürlich, Sir.»

«Zeigst du mir, wie du dich verbessert hast, Scott?»

Scott blieb nichts anderes übrig, als die Waffe zu nehmen, die sein Großvater ihm hinhielt. In diesem Moment wünschte Richard, nicht so ein Großmaul gewesen zu sein. Unfreiwillig hatte er seinen Freund bloßgestellt, der es im letzten Jahr keineswegs geschafft hatte, sich zu verbessern, und der das Ziel unweigerlich um mindestens zwanzig Zentimeter verfehlte. Gemeinsam mit dem kurzsichtigen Arnold kam ihm die zweifelhafte Ehre zuteil, der schlechteste Schütze des Kurses zu sein.

Die Zielscheibe befand sich in einer Entfernung von zwanzig Schritten.

Nachdem Scott sich vergewissert hatte, dass die Pistole geladen war, wog er die Waffe in seiner Hand und bereitete sich auf den Schuss vor. Aber bevor er den Abzug betätigte, unterbrach der General seinen Enkel.

«Wollen wir die Distanz nicht ein bisschen erhöhen?»

Der alte General ist wohl schon etwas vertrottelt, dachte Richard, während er dabei zusah, wie Scott sich auf die Position begab, die der General ihm angewiesen hatte.

«Glaubst du, du triffst?»

«Kein Problem, Großvater.»

Zwar hatte er seinen Freund schon Hunderte von Malen schießen sehen, aber heute fiel Richard auf, dass Scott sich ganz anders aufstellte. Es war, als hätte er ein vollkommenes Gleichgewicht gefunden. Sein Körper wirkte nicht so ungeschickt und kraftlos wie sonst, und er hielt den Arm mit großer Sicherheit und Ruhe.

Verwirrt beobachtete Richard, wie Scott sein Ziel anpeilte. Dann hörte man die Detonation des Schusses. Als Richard zur Zielscheibe ging, entdeckte er ungläubig das Loch. Scott hatte mitten ins Schwarze getroffen. Lächelnd klopfte General Sanders seinem Enkel auf die Schulter.

«Mein lieber Enkel, ich sehe, dass du dir wirklich Mühe gibst, nicht positiv aufzufallen.»

Scott verzog das Gesicht und zuckte mit den Schultern.

«Ich tue, was ich kann, Großvater.»

Richard brauchte eine Weile, um die Sprache wiederzufinden. «Offensichtlich», sagte er schließlich, «hast du neben der Navigation noch andere versteckte Talente.»


Der General lud die beiden jungen Männer zum Mittagessen in einen Gasthof in der Nähe des Bahnhofs ein.

«Wann hast du schießen gelernt, Scott?», fragte Richard nach dem zweiten Glas Wein.

«Als Kind.»

«Er war acht Jahre alt, als ich es ihm beigebracht habe», erzählte der General stolz. «Damals war er vom Schießen nahezu besessen. Jeden Tag hat er stundenlang geübt. Mit vierzehn war er schon fast so gut wie sein Onkel Lead, mein Sohn, der ein hervorragender Schütze war.»

Richard wirkte nachdenklich. «Klaus wird wohl niemals erfahren, was für ein Glück er hatte», murmelte er vor sich hin. Aber der General hatte zugehört. «Anscheinend ist dieser Klaus ein ziemlich impulsiver Bursche», sagte er.

«Das kannst du wohl sagen. Wenn ich geahnt hätte, was mir bevorsteht, hätte ich ihn gewinnen lassen.»

Der General lächelte. Erstaunlicherweise schien dieser Ehrenmann in keiner Weise darüber entsetzt zu sein, dass Scott in der Akademie der Ruf eines Feiglings anhaftete.

«Und wenn ich richtig unterrichtet bin, Scott», sagte er, «hätte ich dir wohl besser das Boxen beibringen sollen.»

Die drei brachen in schallendes Gelächter aus.

Als sich die beiden Freunde von Scotts Großvater verabschiedeten, erklärte Richard erfreut, einen herrlichen Nachmittag verbracht zu haben. Und bei sich dachte er, dass er eine ganz neue Seite an Scott entdeckt hatte, sein Freund hatte ganz entspannt gewirkt und seine spöttische Art für eine Weile abgelegt.

Auf dem Rückweg wandte Richard sich seinem Freund zu und sah ihm fast feierlich in die Augen.

«Scott O’Flanagan, du bist immer für eine Überraschung gut.»

***

Für Richard und Scott, deren Freundschaft sich verändert hatte und noch tiefer geworden war, vergingen die folgenden Jahre wie im Flug. Richard hielt den Platz des Klassenbesten, und Scott schaffte es zum Erstaunen aller, die Prüfungen immer noch im letzten Moment zu bestehen und auf der Schule zu bleiben.

Fesseln des Schicksals
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