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Ich werde einen Spaziergang machen», verkündete Charlotte. «Kommst du mit, Hortensia?»
Konzentriert mischte ihre Schwester ein wenig mehr Grau in das Blau, das sie auf die Palette gedrückt hatte, und tauchte die Spitze ihres Pinsels in die Farbe. «Ich bleibe hier. Ich möchte den Himmel fertig malen, bevor das Licht weg ist», antwortete sie.
Charlotte machte einen Schmollmund. «Wie du willst. Ich werde jedenfalls einen Spaziergang machen.»
«Vergessen Sie den Sonnenschirm nicht, Miss Charlotte», erinnerte sie Latoya, die auf der Veranda Kartoffeln schälte und dabei ab und zu einen bewundernden Blick auf Hortensias Werk warf.
Charlotte verabscheute es, den dämlichen Sonnenschirm mitnehmen zu müssen. Er war ihr lästig. Außerdem war erst April, und sie war sowieso viel hübscher, wenn eine leichte Sonnenbräune die Farbe ihrer Augen hervorhob. «Na großartig. Dann bleibe ich eben auch hier», sagte sie und ließ sich zurück in den Korbstuhl fallen, an dem der unliebsame Sonnenschirm lehnte.
In diesem Moment trat Noah aus der Küchentür und ging über die Veranda. Freundlich nickte Hortensia ihm zu. «Auf Wiedersehen, Noah.»
«Auf Wiedersehen, Miss Hortensia», gab der Sklave zurück.
Latoya bemerkte sofort den besonderen Glanz in Charlottes Augen und spürte, wie sich ihr die Nackenhaare aufstellten. Miss Charlotte langweilte sich, und in diesen Momenten konnte sie wirklich gefährlich sein. Die Sklavin hoffte, dass Noah rasch verschwinden würde. Aber Charlotte war schneller. «Ich habe es mir überlegt, ich werde doch einen Spaziergang machen», verkündete sie unschuldig und stand energisch auf. «Noah!»
«Ja, Miss Charlotte?», fragte der Sklave misstrauisch.
«Ich möchte einen Spaziergang machen. Nimm den Sonnenschirm.»
Noah zögerte. In fünf Minuten musste er auf den Feldern sein, wagte es aber nicht, Charlottes Befehl zu missachten.
«Worauf wartest du?», wiederholte Charlotte und mied bewusst den vorwurfsvollen Blick ihrer Schwester.
Gerade als Noah näher kam und die Hand ausstreckte, um Charlottes Befehl zu gehorchen, gab sie dem Schirm einen kleinen Tritt, und er fiel zu Boden.
Verärgert ließ Latoya die Arbeit sinken und beobachtete ihre junge Herrin. Es war unvorstellbar, dass sie diese arrogante junge Frau seit so vielen Jahren mit ihrem Schweigen schützte. Von den vier Sklaven, die Bescheid wussten, war nur noch sie übrig, dachte sie voll Bitterkeit, als sie jetzt instinktiv die schmale Narbe in der Handfläche berührte und sich an ihre verlorenen Freunde erinnerte.
Gerade hatte Noah sich nach dem Schirm gebückt, als Katherine auf der Veranda erschien. «Du kannst gehen, Noah.»
Sofort gehorchte der Sklave. Er lehnte den Sonnenschirm an die Wand und verschwand.
Charlotte wagte nicht, sich umzudrehen. Der kurzangebundene und scharfe Tonfall der Mutter kündigte Ärger an.
«Hortensia, Latoya, lasst uns bitte allein.»
Diskret zogen die beiden sich in die Küche zurück. Charlotte wollte ihnen folgen, aber ihre Mutter hielt sie fest. «Du nicht, Charlotte. Ich will mit dir reden.»
Ernst blickte Katherine ihre Tochter an. «Du enttäuschst mich.»
«Ich habe nichts getan. Ich wollte nur einen Spaziergang machen.»
«Lüg mich nicht an, Charlotte! Du wolltest nichts weiter, als Noah demütigen.»
«Und wennschon!», brach es heftig aus ihr heraus. «Er ist nur ein Sklave! Und du behandelst ihn, als wäre er der Herr der Plantage.»
«Das stimmt nicht, Charlotte, und das weißt du.»
«Sag mir eins, Mutter. Warum hast du ihm das Lesen beigebracht?»
«Aus welchem Grund hätte ich das nicht tun sollen?»
«Weil es gesetzlich verboten ist, Mutter. Es ist gefährlich, wenn die Sklaven vergessen, wo sie hingehören. Oder hast du vielleicht Nat Turner vergessen? Wenn eines Tages herauskommt, was du getan hast, wird man dich bestrafen, und ihn auch.»
«Ah, jetzt verstehe ich.» Katherine nickte sarkastisch. «Du hast dich also zur Beschützerin der Weißen aufgeschwungen.»
«Irgendjemand muss das ja tun, wenn Papa nicht da ist. Ich werde nicht den gleichen Fehler machen wie du!»
Charlotte war kein Kind mehr. In Kürze würde sie achtzehn Jahre alt werden, und Katherine hätte kaum noch Einfluss auf ihre Tochter. Und leider setzten diese Ideen sich auf gefährliche Weise in ihrem Kopf fest. Katherine wusste nicht mehr, was sie noch tun könnte.
«Was habe ich falsch gemacht, Charlotte? Warum willst du nicht verstehen?»
«Du bist diejenige, die nicht versteht.»
«Was verstehe ich denn nicht, Charlotte?»
«Du kennst die wahre Natur der Sklaven nicht.»
«Was weißt du denn von ihrer wahren Natur, Charlotte? Hast du einmal darüber nachgedacht, wie hart ihr Leben ist? Weißt du, was es für einen intelligenten Jungen wie Noah bedeutet, ein Sklave zu sein?»
Charlotte schwieg. In gewisser Weise hatten Noahs Intelligenz und schnelle Auffassungsgabe sie wirklich überrascht, obwohl sie lieber zehn Peitschenhiebe in Kauf genommen hätte, als das zuzugeben.
«Glaubst du etwa, du beweist Mut, wenn du einen Menschen demütigst, der sich nicht verteidigen kann? Ich hätte dich für couragierter gehalten. Und pass auf, Charlotte», warnte Katherine ihre Tochter, «wenn du so weitermachst, wird aus dir eine arrogante und egoistische Frau. Ohne jedes Mitleid.»
«Er ist nur ein Sklave!»
«Ein Sklave», wiederholte Katherine ungehalten. «Was weißt du schon von ihm, von seinem Leben, seinen Wünschen? Glaubst du etwa, dass er nicht leidet, dass er nicht lacht? Dass er keine Träume hat? Nur sind seine Träume unerreichbar.»
Voller Trauer sah Katherine ihre Tochter an. Charlotte wurde ihrem Vater immer ähnlicher, und nur sie allein war daran schuld. Sie hatte versagt. Es wäre besser gewesen, wenn sie David verlassen hätte und weit weg gegangen wäre. Irgendwohin, wo diese Welt, bestehend aus Herren und Sklaven, keinen Einfluss mehr hatte. Sie hatte wahrlich kein Recht, ihre Tochter zu tadeln.
Eigentlich hatte Charlotte erwartet, dass ihre Mutter sie bestrafen oder ihr wie sonst bis zum bitteren Ende widersprechen würde. Diesmal aber seufzte sie nur und ging. Sie gab sich geschlagen.
Genau aus diesem Grund hatte der Streit Charlotte mehr als sonst mitgenommen. Sie überlegte ernsthaft, ihre Mutter um Verzeihung zu bitten, doch der unerwartete Besuch von Rebecca Sebastian hielt sie davon ab. Es gab überraschende Neuigkeiten.
Richard Reemick würde zurückkommen!
Richards Vater hatte einen leichten Herzanfall erlitten, und obwohl Mr. Reemick sich rasch wieder erholte, hatte man Richard Sonderurlaub gewährt.
Seit dem Hochzeitsfest ihrer Cousine Silvia waren fast vier Jahre vergangen, und Charlotte wusste nicht einmal, ob Richard sich überhaupt noch an sie erinnerte. Längst war sie nicht mehr das kleine vierzehnjährige Mädchen im geblümten Kleid. Sie war zu einer Frau herangewachsen und konnte es kaum abwarten, ihm das zu beweisen. Das Einzige, was sie brauchte, war eine Gelegenheit, und zwar bald. Denn wenn es stimmte, was Rebecca erzählt hatte, würde Richard nach nur wenigen Tagen nach Annapolis zurückkehren.
***
Als ihre Tochter am nächsten Morgen schon um acht Uhr früh in Reitkleidung im Esszimmer erschien, stutzte Katherine.
«Guten Morgen, Mama», grüßte Charlotte und gab ihr einen lauten Kuss auf die Wange.
«Guten Morgen, Charlotte. Darf man erfahren, wo du schon so früh hinwillst?»
Ohne sich hinzusetzen, nahm Charlotte sich ein knuspriges Brötchen und biss hinein.
«Ich werde ausreiten.»
«So früh schon?»
«Ich konnte nicht mehr schlafen.»
«Und Hortensia?»
«Sie wird später herunterkommen. Du weißt ja, dass sie nicht gerade eine Pferdenärrin ist.»
In diesem Moment erschien Latoya in der Tür, die das Esszimmer mit dem Dienstbotentrakt verband. Sie trug einen Korb mit Äpfeln. «Guten Morgen, Miss Charlotte.»
«Morgen», antwortete Charlotte gut gelaunt und stibitzte sich einen der glänzenden Äpfel.
«Ich bringe Ihnen sofort die Schokolade, Miss.»
«Nicht nötig. Ich werde heute nicht frühstücken.»
Katherine und die Sklavin warfen sich einen Blick zu. Das wäre das erste Mal, dass Charlotte eine Tasse Schokolade ablehnte.
«Geht es dir auch gut?»
«Ja, Mama», antwortete sie, vermied aber, ihrer Mutter in die Augen zu sehen. «Ich möchte nur nicht, dass es zu spät wird.»
«Wie du möchtest. Und denk daran, dass deine Cousine Silvia und ihr Mann heute zum Mittagessen kommen. Sie sind gerade bei deinem Onkel zu Besuch. Ich wäre dir dankbar, wenn du pünktlich zurück bist.»
Vor dem Haus wartete schon ein Sklave mit dem Pferd. Obwohl sie selbst den Befehl gegeben hatte, den Damensattel aufzulegen, verzog sie unwillkürlich das Gesicht. Normalerweise benutzte sie den Herrensattel, und die Vorstellung, seitlich auf dem Pferd zu sitzen, war ihr nicht besonders angenehm. Aber heute wollte sie Eindruck schinden. Trotz aller Unbequemlichkeiten würde sie sich also ausnahmsweise wie eine wohlerzogene junge Südstaatendame benehmen.
Der Sklave bückte sich neben dem Pferd, verschränkte die Hände und wartete, dass Charlotte ihren Fuß hineinsetzen würde, um sich abzustützen. Aber Charlotte hatte nie fremde Hilfe gebraucht, um auf- oder abzusteigen. Sie ignorierte die improvisierte Trittleiter des Sklaven, raffte ihren Rock ein wenig, schob ihren Stiefel in den Steigbügel und saß mühelos auf.
Der Sattel war unbequem und schränkte ihre Bewegungsfreiheit ein, aber das war es wert. Wie Rebecca nichtsahnend am Vortag beim Tee erzählt hatte, würde ihr Bruder Paul heute früh mit Orante und Richard ausreiten. Und sie hatte sogar gewusst, wohin. Als Charlotte Rebeccas Worte vernommen hatte, hatte sie sich schrecklich zusammennehmen müssen, um nicht vor Glück zu jubeln. Aber schließlich sollte niemand Verdacht schöpfen. Niemand musste wissen, dass sie entschlossen war, Richard Reemick zu heiraten.
Auf dem Gipfel des Hügels angekommen, hielt Charlotte das Pferd an und ließ ihren Blick über die Landschaft schweifen.
Am blauen Himmel war keine einzige Wolke zu sehen, und der Horizont zeichnete sich als deutliche Linie ab. Das Tal war aus dem langen Winterschlaf erwacht und hatte sich mit der Ankunft des Frühlings bunt gefärbt. Charlotte atmete tief ein. Milder Duft nach Lavendel und Lorbeer lag in der Luft. Es war ein wunderschöner Tag. Endlich würde sie Richard nach all den Jahren wiedersehen.
Glücklich betrachtete sie die Ebene, die sich zu ihren Füßen ausbreitete, als sie die drei Reiter entdeckte. Sie kamen im Schritttempo hinter einer Baumgruppe hervor, und man konnte den Widerhall ihrer Stimmen hören, den der Wind zu ihr trug. Die Reiter waren zu weit weg, als dass Charlotte ihre Gesichter hätte sehen können, aber sie erkannte ihre Pferde.
Vorneweg ging der Braune mit den weißen Hinterbeinen, der ihrem Cousin Orante gehörte. Dicht nach ihm kam Paul Sebastian, Rebeccas Bruder, auf Falcon. Der letzte Reiter saß auf einem Tier mit grauem Fell, das Charlotte noch nie zuvor gesehen hatte. Aber es war gar nicht nötig, Pferd oder Reiter zu erkennen. So wie ihr das Herz in der Brust schlug, konnte es nur Richard sein.
Paul entdeckte als Erster die Gestalt auf dem Hügel und hielt an. «Eine Frau», sagte er.
«Und sie ist nicht in Begleitung», präzisierte Richard, der vergeblich versuchte zu erspähen, wer sich in der Ferne vor der Sonne abzeichnete.
«Und ich würde sagen, dass sie uns mit großem Interesse beobachtet», fügte Orante hinzu. Die Hand schützend über die Augen gehalten, starrte er zum Hügel hinauf.
Einen Moment lang blieben die drei Männer unbeweglich stehen und fragten sich, wer die geheimnisvolle Dame auf dem Hügel wohl sein könnte. Dann unterbrach Paul die Stille. «Wollt ihr den ganzen Morgen lang nur diese Frau anstarren, oder seid ihr bereit für ein kleines Wettrennen zur alten Eiche?»
«Alles klar. Der Letzte gibt eine Runde aus.»
«Wie du willst, Orante, aber du glaubst doch wohl nicht, dass du gegen zwei Männer der Marine ankommst?»
«Das werden wir ja sehen, Richard.»
Die drei stellten sich in geringem Abstand nebeneinander auf dem Weg auf. Orante hob den Arm und sah nach rechts und links, um zu überprüfen, ob seine Freunde bereit waren.
«Vorwärts!», rief er dann, als er den Arm zum Startsignal hinunterriss. Der Klang seiner Stimme hallte durch die kühle, klare Morgenluft.
Charlotte hatte deutlich gesehen, was die drei vorhatten, und erriet auch sofort, wohin das Rennen führen sollte. Die Eiche war ein idealer Zielpunkt, und die Richtung, die die Reiter eingeschlagen hatten, bestätigte ihre Annahme. Der einsam stehende Baum erhob sich auf dem Gipfel einer sanft ansteigenden Anhöhe, etwa eine halbe Meile entfernt.
Energisch packte Charlotte die Zügel und gab ihrem Pferd die Sporen.
Orante, Paul und Richard kämpften darum, sich an die Spitze zu setzen, nahmen aber trotzdem wahr, dass die Frau den Hügel hinuntergaloppiert kam. Offensichtlich wollte sie auch an dem Rennen teilnehmen.
Als Richard die letzten fünfhundert Meter in Angriff nahm, waren Paul und Orante weit abgeschlagen. Nur die geheimnisvolle Unbekannte lag noch vor ihm, mit etwa zehn Pferdelängen Vorsprung. Es war, als flöge sie im Wind. Richard war vollkommen hingerissen vom ungewöhnlichen Anblick dieser jungen Frau, die ihm vorkam wie eine Naturgewalt.
Je mehr er von ihr sah, desto mehr wünschte er sich, sie einzuholen, und spornte sein Pferd an, noch schneller zu laufen. Auf der halben Anhöhe hatte er sie fast eingeholt, aber die Lady ritt, als wäre der Teufel hinter ihr her.
Charlottes Pferd keuchte und griff nicht mehr ganz so weit aus. Das letzte und steilste Stück des Aufstiegs hatte begonnen, bis zur Eiche waren es keine fünfzig Meter mehr. Niemand war vor ihr, und Charlotte spürte eine unbändige Kraft in sich. Sie würde siegen. Nur noch ein umgestürzter Baumstamm, der quer über dem Weg lag, trennte sie vom Ziel. Sie gab ihrem Pferd die Sporen und setzte zum Sprung über das Hindernis an. In diesem Moment tauchte Richards Grauer zu ihrer Rechten auf und sprang ebenfalls. Als sie gleichzeitig wieder auf dem Gras aufsetzten, trafen sich ihre Blicke. Lächelnd überholte er sie jetzt.
Neben der Eiche stoppte Richard abrupt. Er saß ab und ging Charlotte entgegen. Noch etwas außer Atem gratulierte er ihr.
«Sie haben ein gutes Rennen geliefert.»
«Danke. Das gilt auch für Sie.»
«Erlauben Sie.» Mit einem wunderschönen Lächeln streckte er seine Arme aus, um ihr beim Absteigen zu helfen.
Charlotte legte Richard die Hände auf die Schultern und wartete, dass er sie um die Taille fasste. Mühelos hob er sie hoch und setzte sie langsam auf dem Boden ab. Dabei konnte er den Blick nicht von ihr wenden. Charlotte war, als würde sie in das Blau des Himmels tauchen, das sich in seiner grauen Iris spiegelte. Und auch Richard spürte, wie jene schönen grünen Augen ihn gefangen nahmen.
Erst als Paul Sebastian ins Ziel geritten kam, wurde der Bann gebrochen.
Paul stieg ab und klopfte seinem Pferd beruhigend auf den Hals. Dann hob er mit seinem strahlendsten Lächeln die Hand an die Hutkrempe, um Charlotte zu begrüßen.
«Noch nie habe ich jemanden so schnell den Abhang hinunterreiten sehen!»
«Danke, Mr. Sebastian, aber das ist einzig das Verdienst meines Pferdes», antwortete Charlotte mit der gleichen Freundlichkeit. «Es ist eines der besten Tiere meines Vaters.»
Jetzt kam auch Orante.
«Wie geht es dir, Orante?»
«Charlotte! Ich habe mir fast schon gedacht, dass du es bist. Es gibt wohl keine andere Frau, die so reitet», lachte er. «Vor allem nicht in so einem Sattel.»
«Halb so schlimm, Orante. Ich bin es wohl gewöhnt», log Charlotte.
Richard sah verwirrt aus. Er schien der Einzige zu sein, der die Frau nicht kannte.
«Pardon», entschuldigte sich Orante, als er sah, dass Richard keine Ahnung hatte, mit wem er es zu tun hatte. «Vielleicht erinnerst du dich an meine Cousine Charlotte. Charlotte Parrish. Das ist Richard Reemick.»
«… Charlotte», wiederholte er und erinnerte sich deutlich an das Mädchen, das sich vor Jahren auf den jüngsten Spross der Carmodys gestürzt hatte, nachdem dieser ihre Familie beleidigt hatte. Überrascht stellte er fest, wie sehr sie sich in den letzten vier Jahren verändert hatte. «Es tut mir leid, Miss Parrish, ich habe Sie nicht wiedererkannt.»
«Es sind ja auch einige Jahre vergangen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben», antwortete Charlotte und sah ihn an.
«Ja», nickte Richard noch immer verwundert. «Wie schnell die Zeit vergeht.»
Plötzlich trat Stille ein, und wieder konnten Charlotte und Richard die Blicke nicht voneinander losreißen.
«Wir könnten einen Spaziergang machen», brach Paul das Schweigen.
Die jungen Leute gingen zu Fuß die Anhöhe hinunter und führten die noch keuchenden Pferde an den Zügeln mit. Charlotte und Richard blieben ein paar Schritte zurück.
«Es ist mir eine Freude, Sie wiederzusehen, Miss Parrish.»
«Bitte sagen Sie Charlotte zu mir.»
Charlotte strahlte. Niemals hätte sie sich vorstellen können, wie wunderbar es war, an Richards Seite zu gehen.
«Ich musste mich schon lange nicht mehr so anstrengen, um ein Wettrennen zu gewinnen. Mit einem Sattel wie dem Ihrem hätte ich mich wohl in ernsthaften Schwierigkeiten gesehen.»
Charlotte ließ ein bezauberndes Lachen hören, das in Richards Ohren wie die schönste Musik klang, die er je vernommen hatte.
Als sie auf der Wiese ankamen, ließen sie die Pferde grasen und setzten sich an einen kleinen Bach. Galant breitete Richard sein Jackett auf dem Rasen aus und bat Charlotte, darauf Platz zu nehmen.
Inzwischen war die Morgenluft etwas wärmer geworden, und eine sanfte Brise umwehte die jungen Leute. Bei Orantes amüsanten Geschichten, die den anderen mehr als ein Lachen entlockten, verging die Zeit wie im Flug, und ehe sie es bemerkten, war schon Mittag.
Plötzlich fiel Charlotte wieder ein, dass Silvia zum Essen kommen wollte. Obwohl sie den Bann, unter dem sie standen, nur ungern brechen wollte, entschied sie doch, dass es Zeit war, nach Hause zurückzukehren.
«Es tut mir leid, aber ich fürchte, dass ich nach Hause muss. Gerade ist mir eingefallen, dass meine Cousine Silvia zum Essen kommt. Ich bin schon viel zu spät dran.»
«Wenn Sie erlauben, würde ich Sie gern begleiten», bot Richard sich an.
Charlottes Augen erstrahlten noch ein wenig mehr. Die Welt könnte nicht vollkommener sein. Endlich wären sie allein. Leider mischte Orante sich ein und machte ihre Hoffnungen zunichte.
«Ich komme auch mit euch. Ich hatte ganz vergessen, dass meine Schwester und ihr Mann zum Essen bei euch sind. Dann kann ich Tante Katherine und Hortensia sehen und reite später mit Silvia und Jonathan nach Heaven’s Door zurück.»
Charlotte hörte nicht auf zu lächeln, bedachte ihren Cousin jedoch mit einem eisigen Blick.
Orante ließ sich nicht von seinem Vorhaben abbringen. Selbst ein Blinder hätte bemerkt, wie viel Leidenschaft in den Blicken steckte, die Richard und Charlotte einander schon den ganzen Morgen zuwarfen. Natürlich war sich Orante absolut sicher, dass Richard ein Ehrenmann war, aber seine Cousine war unberechenbar. Seine Anwesenheit würde böses Gerede verhindern.
Kurz bevor sie zum Haus kamen, verabschiedete Richard sich und ritt auf seinem Weg weiter. Auch für ihn war es spät geworden. Am nächsten Tag würde er zur Akademie zurückkehren, und er musste noch seine Reise vorbereiten.
***
Fast eine Stunde hatte man auf Charlotte gewartet. Dann hatte Katherine beschlossen, mit dem Essen anzufangen.
«Es tut mir so leid, Silvia», entschuldigte sie sich, als sie sich damit abfand, dass ihre Tochter nicht kommen würde.
«Es wird ihr doch nichts passiert sein, Tante?»
Katherine hatte auch daran gedacht. Einen Moment lang stieg die Vorstellung in ihr auf, dass Charlotte vielleicht allein und verletzt irgendwo liegen könnte, und sie verspürte Panik. Aber die Art und Weise, wie Hortensia ihren Kopf über den Teller beugte, beruhigte sie. Anscheinend wusste Hortensia, wo Charlotte war, auch wenn sie das Geheimnis ihrer Schwester niemals preisgeben würde.
«Mach dir keine Sorgen, Silvia. Ich bin mir sicher, dass sie irgendwann mit einer hübschen Ausrede durch diese Tür kommen wird.»
Als Orante und Charlotte endlich auf New Fortune ankamen, war es zwei Uhr, und das Dessert stand bereits auf dem Tisch. Und genau wie Katherine vorausgesagt hatte, erfand Charlotte eine lächerliche Geschichte von einem Sonnenstich, wo doch gerade mal der Frühling angefangen hatte. Dabei schilderte sie in so schillernden Farben, wie sehr sie unter der Sonne hatte leiden müssen, nachdem sie ihren Hut verloren hatte, dass Silvia beinahe die Tränen in die Augen traten.
«Zum Glück habe ich Orante getroffen», gestand sie schließlich.
«Ja, wirklich ein Glück, dass du ihn zufällig getroffen hast», sagte Katherine, als Charlotte fertig war, und sah ihren Neffen fest an, der sichtlich nervös nickte.
«Nun, nach all den Abenteuern wirst du hungrig sein, Orante. Setzt euch bitte.»
Orante setzte sich neben Hortensia, und Charlotte nahm gegenüber von ihr Platz.
Sofort stellte Darsy, die nach Olivias Tod dem Haus zugeteilt worden war, um Latoya zu helfen, Teller vor die beiden.
«Darsy, Miss Charlotte fühlt sich nicht wohl, sie braucht keinen Teller. Bring ihr bitte einen Tee.»
Charlotte spürte, wie ihr Magen knurrte. Am Morgen hatte sie kaum gefrühstückt und seitdem nichts gegessen. «Ich fühle mich schon viel besser, Mama.»
«Meine liebe Charlotte. Alle Welt weiß, dass man bei einem Sonnenstich nichts essen darf.»
Normalerweise hätte Charlotte protestiert, aber ihre Mutter war wütend. Sie hatte die Entschuldigung nur hingenommen, weil Silvia und ihr Mann anwesend waren.
«Deine Mutter hat recht», mischte Silvia sich ein, noch immer bewegt von Charlottes dramatischer Schilderung.
«Meinetwegen», gab Charlotte schließlich widerwillig nach. «Ein Tee wird genügen.»
Während sich Orante, der sein Grinsen kaum verheimlichen konnte, über die großzügige Portion gegrillten Kaninchens hermachte, blieb Charlotte nichts anderes übrig, als die Nase über den Tee zu halten. So konnte sie wenigstens den leckeren Duft der Speisen vertreiben, der ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ.
Nach dem Essen verabschiedeten sich die Gäste. Es war ein langer Weg bis Heaven’s Door, wo sie noch ein paar Tage bleiben würden, bis es wieder nach Norfolk zurückging.
Kaum waren sie fort, entwischte Charlotte in die Küche und machte sich über die Reste des Kaninchens her.