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Die Zeit bis zu Camilles und Richards Hochzeit verging schnell.
Charlotte sah glänzend aus. Die dunklen Augenringe, die ihren Blick während der letzten beiden Wochen verdüstert hatten, waren verschwunden, und als sie ihr hübsches Gesicht im Spiegel sah, schienen die langen Nächte voller Tränen und Schmerz so weit weg, als wären sie eine Erinnerung an einen schrecklichen Albtraum, der in den ersten morgendlichen Sonnenstrahlen verfliegt und nur einen bitteren Nachgeschmack in der Seele zurücklässt. Hortensia war sich sicher, dass ihre Schwester die schönste Frau auf der Hochzeit sein würde. Aber trotzdem ließ sie sich nicht täuschen. Etwas hatte sich verändert. Charlotte war nicht mehr die unbekümmerte junge Frau, die das Leben mit jedem Atemzug in sich einsog. Das Leben hatte ihr einen heftigen Schlag versetzt, und nichts würde je wieder so sein wie früher.
***
Schon zum zweiten Mal seit er nach Virginia gekommen war, zog Klaus sich seine Galauniform an. Er blickte in den Spiegel und nickte zufrieden. «Wer hätte vor ein paar Tagen gedacht, dass Richard so bald heiraten würde.»
Scott lag auf dem Bett, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und blickte gedankenverloren an die Decke. Er antwortete nicht.
«Und was ist mit dir?», fragte Klaus und drehte sich zu Scott um, mit dem er das Zimmer teilte. «Willst du den ganzen Tag hier herumliegen?»
Ein Klopfen unterbrach Scotts Schweigen. Schnell öffnete Klaus die Tür.
«Richard!», sagte er erstaunt.
«Hallo. Kann ich hereinkommen?»
Klaus trat zur Seite. Richard hatte bereits seinen Hochzeitsanzug an, obwohl bis zur Zeremonie noch ein paar Stunden Zeit waren.
«Und, Richard? Nervös?»
«Ein bisschen.»
Richards ausweichender Blick und die Geschwindigkeit, mit der Scott vom Bett aufstand, waren für Klaus Zeichen genug, kurz in den Garten zu verschwinden.
«Hast du über meinen Vorschlag nachgedacht?», fragte Richard, kaum dass er mit Scott allein war.
Als er seinem Freund in die Augen sah, fand er nur Trauer darin. «Unter anderen Umständen wäre es eine Ehre für mich gewesen. Aber so … es tut mir leid, Richard, ich kann das nicht.»
Richard wirkte nicht überrascht. Eigentlich wäre er über eine andere Antwort enttäuscht gewesen.
«Klaus wird mit Vergnügen dein Trauzeuge werden.»
«Mal sehen. Bleibst du wenigstens bis zur Zeremonie?»
Scott senkte den Kopf.
«Verstehe.» Resigniert drehte Richard sich um und wollte schon das Zimmer verlassen, als Scott ihn am Arm packte.
«Sag mir wenigstens, warum, Richard. Erkläre mir, warum du eine Frau heiratest, die du nicht liebst, obwohl du bis über beide Ohren in eine andere verliebt bist, die deine Liebe noch dazu erwidert und noch heute deine Frau werden würde.»
«Ich tue, was ich tun muss.»
«Nein, Richard. Du bist kurz davor, den größten Fehler deines Lebens zu begehen. Und ich wäre kaum dein Freund, wenn ich tatenlos zusehen würde, wie du dich in einen Abgrund stürzt. Du bist nicht bei Verstand, eine Frau wie Charlotte Parrish gehen zu lassen. Sie betet dich an! Sie ist verrückt nach dir! Und du nach ihr. Warum unglücklich sein, wenn das Glück zum Greifen naheliegt?»
«Das ist nicht so einfach.»
«Warum?»
«Es gibt Dinge, von denen du nichts weißt.»
«Was für Dinge, Richard? Was kann so schwerwiegend sein?»
«Es ist doch egal, warum, Scott», sagte er. Das Geheimnis lag ihm schwer auf der Seele. «Es ist nur wichtig, dass ich sie niemals heiraten kann.»
«Warum? Weil ihre Mutter eine Sklavin war?»
Richard erbleichte.
«Seit Jahren weiß ich, was dich quält. Seit jener Nacht, in der du dich nach dem Besuch deines Onkels fast bis zur Besinnungslosigkeit betrunken hast und ich dich in die Akademie zurückschleppen musste.»
«Dann hast du, am nächsten Tag, als ich dich gefragt habe …»
«Ich habe gelogen. Was hätte ich tun sollen. Ich konnte dir doch nicht sagen, dass du mir im Rausch das größte Geheimnis der Frau anvertraut hast, die du liebst.»
Angst spiegelte sich in Richards Augen.
«Du musst es mir schwören!», befahl er verzweifelt. «Niemand darf es jemals erfahren!»
«Ach, Richard. Natürlich schwöre ich es. Dein Geheimnis ist bei mir sicher.»
Scotts dunkle Augen sagten die Wahrheit. Richard war so müde. Müde von dem Gewicht dieses Geheimnisses, das auf seiner Seele lag. Doch zum ersten Mal verspürte er etwas Erleichterung bei dem Gedanken, diese Last nicht allein tragen zu müssen.
«Weißt du, wie ihre Zukunft aussähe, wenn es herauskommt?», fragte Richard. «Allein, mir vorzustellen, was passieren könnte, macht mir schon Angst. Was würde aus ihr werden?»
«Dann heirate sie und befreie sie von dieser Zukunft.»
«Das kann ich nicht.»
«Warum? Weil sie eine Schwarze ist?»
«Nein, Scott», sagte er resigniert. «Ich kann es nicht, weil mein Onkel die Wahrheit kennt. Er würde ohne Zögern ihre Herkunft preisgeben, um unsere Verbindung zu verhindern. Was würde dann aus ihr werden? Meine einzige Möglichkeit, Charlotte zu retten, ist es, Camille zu heiraten.»
«Nun, dann tust du mir leid, Richard. Und mir tut auch diese junge Frau leid, weil sie niemals verstehen wird, warum du sie verlassen hast.»
***
Katherine hatte ihre Töchter und David nicht zur Hochzeit begleitet. Sie hatte behauptet, sich nicht wohl zu fühlen, aber tatsächlich hatte sie seit dem Zwischenfall bei Silvias Hochzeit an keinem gesellschaftlichen Ereignis mehr teilgenommen und auch jetzt keine Lust dazu.
Im Schutz der Veranda genoss Katherine das süße Aroma ihres Apfeltees, während sie den Blick in Richtung der Reemick-Plantage schweifen ließ. Zu diesem Zeitpunkt würde das junge Paar bereits nach Norfolk unterwegs sein, um dort ein Schiff in Richtung Norden zu nehmen, wo sie ausgedehnte Flitterwochen verbringen würden. Das Fest würde noch ein paar Stunden andauern, und Katherine würde also noch warten müssen, bevor sie Einzelheiten über die Feier erfuhr.
Trotz ihrer Zurückgezogenheit und obwohl keine ihrer Töchter etwas hatte verlauten lassen, war sie bestens über Charlottes Enttäuschung unterrichtet. Latoya hatte sie über die bevorstehende Vermählung von Richard und Camille informiert.
Im Laufe der Jahre hatte Katherine entdeckt, dass es kaum eine bessere Informationsquelle gab als die Sklaven. Auch wenn ihre Besitzer sich bemühten, sie zu ignorieren, die Ohren ihrer demütigen und allgegenwärtigen Diener waren zu jedem Zeitpunkt wach und aufmerksam.
Es war Katherine nicht schwergefallen, die Zeichen zu einem Bild zusammenzufügen; Charlottes Tränen, die Verzweiflung in den Augen ihrer Tochter … Jedes Mal, wenn sie in der Dunkelheit der Nacht Charlottes verzweifelte Schluchzer gehört hatte, hatte sich ihr das Herz zusammengezogen. Heimlich hatte sie über ihren Schlaf gewacht, und tausendmal wäre sie beinahe in ihr Zimmer gelaufen, um sie in den Arm zu nehmen und zu trösten. Aber sie tat es nicht. Dafür hatte Charlotte ihre Schwester, und Katherine war sich bewusst, dass es für den verletzten Stolz ihrer Tochter fürchterlich gewesen wäre, wenn außer Hortensia jemand von dem Schmerz wüsste, den die Zurückweisung dieses Mannes ihr zugefügt hatte. Charlotte war stark und würde darüber hinwegkommen. Die Zeit würde ihre Wunden heilen. Vielleicht war es sogar das Beste, dass Richard Camille gewählt hatte, dachte Katherine und spürte, wie ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief. Wer wusste schon, ob die Dinge für ihre Töchter in Zukunft nicht schwieriger werden würden. Sie konnte nicht vermeiden, an jenen anderen Menschen zu denken, den die Mächte des Schicksals zerstört hatten. Molly, deren Leben plötzlich in tausend Teile zerbrochen war. Sie erinnerte sich daran, wie Molly in dieser neuen und feindlichen Umgebung nach und nach ihre Fröhlichkeit verloren hatte, bis sie fast eine lebende Tote gewesen war. Die dunklen Pläne, die die Zukunft für ihre Kinder möglicherweise bereithielt, lasteten schwer auf Katherine, und sie hatte Sehnsucht nach ihrer treuen Freundin.
Sie ritt zu Mollys Grab und setzte sich an den Fluss. In ihre Gedanken versunken und vom Plätschern des Wassers besänftigt, ließ sie ihr Leben an sich vorbeiziehen.
Als sie ihr Gesicht im Spiegel der kristallklaren Wasseroberfläche betrachtete, konnte sie in dieser müde aussehenden Frau kaum die naive und launenhafte junge Dame erkennen, die vor so vielen Jahren ihr Zuhause in New Orleans verlassen hatte.
Auch sie war sich ihrer Liebe sicher gewesen. Aber sie hatte sich getäuscht. Und noch immer, wenn sie an Davids Verrat dachte, traten ihr Tränen in die Augen, und das Herz wurde ihr eng. Sie hätte ihn damals schon verlassen sollen. Vielleicht wäre Molly dann jetzt noch am Leben. Bis jetzt war sie ihren Töchtern die Wahrheit schuldig geblieben. Aber plötzlich wusste Katherine, dass sie mit ihnen sprechen müsste. Die Zeit der Geheimnisse war vorbei.
Nachdem sie Kraft geschöpft hatte, legte sie einen Strauß frischer Dahlien auf das Grab, stieg auf und ritt zum Haus zurück. Vorher wollte sie noch beim Lagerhaus vorbei. Sie wollte mit Noah reden. Über die Jahre war er zu einem Freund geworden und hatte die Lücke ausgefüllt, die ihre geliebte Molly damals hinterlassen hatte.
***
Die starken Stürme, die in der vergangenen Woche über Virginia hinweggefegt waren, hatten die Pflanzungen zum Glück nicht beschädigt, aber das Lagerhaus der Plantage in einen üblen Zustand versetzt. Owen Graham hatte die Sklaven in Schichten organisiert, um es zu reparieren, bevor die Regenfälle anfingen und die gelagerte Baumwolle Schaden nehmen könnte.
Freundlich hob der Vorarbeiter die Hand an den Hut. «Guten Abend, Mrs. Parrish.»
Auch an dem rauen Gebirgsbewohner war die Zeit nicht spurlos vorübergegangen. Von seinem lockigen Haar hatte er allerdings jedes einzelne behalten, auch wenn es inzwischen grau geworden war. Owens Blick traf auf Katherines. Sie war noch immer eine schöne Frau.
«Guten Abend, Owen», begrüßte Katherine ihn freundschaftlich. «Ich sehe, dass die Schäden gravierend sind.»
Die beiden drehten sich um und betrachteten den Holzbau, der dicht am Ufer stand. Ein Teil des Daches war vollkommen weggerissen worden.
«So ist es, Mrs. Parrish. Die Männer arbeiten hart. In der Nacht wird in Schichten gearbeitet, und ich hoffe, dass das Dach fertig ist, bevor die Regenfälle anfangen.»
Als Katherine die grauen, dichten Wolken betrachtete, die von der Küste heraufzogen, dachte sie, dass die Männer sich beeilen mussten.
«Ist Noah hier?»
Er lächelte und zeigte zum höchsten Teil des Gebäudes. Mit den Jahren hatte er sich an die freundschaftliche Beziehung zwischen Katherine und Noah gewöhnt. Sie erwiderte sein Lächeln und folgte mit den Augen seinem Finger. Es war nicht schwer, Noah zwischen den Männern auszumachen, die ohne Unterlass auf dem Dach arbeiteten.
Als Katherine gerade einen Fuß aus dem Steigbügel genommen hatte, kroch plötzlich eine Schlange aus dem Gebüsch. Im Bruchteil einer Sekunde stieg das Pferd und warf Katherine vor den entsetzten Augen Owens und der Sklaven zu Boden.
Schnell hatte sie sich schützend die Arme vor den Kopf gehalten und sich instinktiv zusammengerollt. Aber das Pferd raste vor Angst und trat wie wild auf sie ein. Der erste Tritt traf sie an den Rippen. Katherine schrie vor Schmerz laut auf, da wurde sie bereits erneut getroffen.
Owen versuchte, die Zügel des Tieres zu packen und es von der Frau wegzuziehen. Das Pferd würde Katherine sonst töten. Aber es stieg erneut und schüttelte den Vorarbeiter ab, der zu Boden fiel und von einem Huf am Arm getroffen wurde.
Inzwischen waren einige der Sklaven eilig vom Dach heruntergeklettert. Ihnen gelang es endlich, das Tier zu beruhigen.
Katherine lag regungslos am Boden.
Owen kniete sich neben sie. Er war wie gelähmt vor Angst, während die Sklaven aufgeregt um ihre Herrin herumliefen. Nur Noah warf sich neben sie auf den Boden.
«Herrin Katherine!», rief er und legte sein Ohr auf ihre Brust. Ganz schwach konnte er ihren Herzschlag hören.
«Sie lebt!», rief er. Die Männer ließen ein paar Freudenschreie hören, und Owen spürte grenzenlose Erleichterung.
Katherine öffnete die Augen.
«Alles wird gut», sagte Noah beruhigend.
Sie lächelte ihn an.
«Noah, du kannst nichts tun», flüsterte sie schwer atmend.
«Sie werden das überleben. Das verspreche ich Ihnen!»
Ohne das Einverständnis des Vorarbeiters abzuwarten, holte Noah ein Brett und schob es unter Katherines geschundenen Körper. Danach band er ihr mit Hilfe eines Tuchs den Kopf an der improvisierten Trage fest.
«Was tust du da?», fragte Owen schroff und hielt den Arm des Sklaven fest.
«Ich will verhindern, dass sie sich bewegt. Eine plötzliche Bewegung könnte eine Blutung verursachen.»
Owen dachte einen Moment lang nach und ließ den Sklaven dann gewähren. Noahs Interesse für die Medizin war ein offenes Geheimnis auf der Plantage, und Owen hatte schon vor langer Zeit akzeptiert, dass Noah intelligenter und gebildeter war, als er selbst es je sein würde.
«Ich sehe, dass diese Abhandlung über Medizin, die ich dir geschenkt habe, zu etwas nütze war», konnte Katherine leise flüstern, während Noah den Knoten festzog und sie sich in Richtung Herrenhaus auf den Weg machten.
«Bitte sprechen Sie nicht. Sie müssen Ihre Kräfte sparen», bat Noah sie.
Aber Katherine wusste, dass es keine Bedeutung mehr hatte, ob sie sprach oder nicht.
Ein paar Sklaven trugen Katherine zum Herrenhaus, und Owen und Noah legten sie in ihr Bett. Gerade wollte Noah aufstehen und das Zimmer verlassen, als Katherine seinen Arm ergriff.
«Noah, lass mich nicht allein.»
«Ich werde mich nicht von hier wegbewegen», versprach er und nahm ihre zarte weiße Hand. «Alles wird gut.»
«Wie sonderbar», überlegte sie. «Vor mehr als zwanzig Jahren war ich in der gleichen Situation, in der du jetzt bist. Ich habe versucht, meine Freundin zu retten und den Tod in die Irre zu führen. Aber das konnte ich nicht, genauso wenig wie du jetzt. Aber ich darf nicht sterben! Noch nicht», rief sie aus und klammerte sich verzweifelt an Noahs Hand. «Ich muss mit meinen Töchtern reden. Ich muss ihnen etwas sagen.»
Die leidenschaftlich ausgesprochenen Worte verursachten einen heftigen Hustenanfall. «Halten Sie durch! Kämpfen Sie!», schluchzte der Sklave, als er im Mundwinkel seiner Herrin ein dünnes Rinnsal Blut entdeckte. «Ihre Töchter werden gleich hier sein. Der Aufseher hat sie holen lassen.»
Einen Moment lang drang die Luft nicht mehr zu ihren Lungen durch. Katherines Augen verdunkelten sich. Fast sah es so aus, als wäre ihr Ende gekommen, aber der Anfall war plötzlich vorbei. Ihr Todeskampf würde noch etwas andauern.
«Mein lieber Noah», sagte sie sanft, sobald sie wieder sprechen konnte. «In all den Jahren warst du ein Trost für mich. Und du, Owen», sie blickte den Mann an, der seine Augen nicht von dem verletzten Körper der Frau wenden konnte, die er seit über zwanzig Jahren heimlich liebte, «mein treuer Freund.»
Owen lächelte ihr zu. Worte waren nicht notwendig. Sie hatte Owens wahre Gefühle immer gekannt.
«Strengen Sie sich nicht an», wiederholte Noah vergeblich.
«Aber ich muss reden, Noah. Ich will, dass du mir verzeihst.»
«Es gibt nichts zu verzeihen. Was sollte ich Ihnen verzeihen? Ich bin Ihnen dankbar.»
«Ich war so egoistisch! Mein Vater hatte recht», klagte sie, während ihr Körper um einen weiteren Atemzug kämpfte. «Ich hätte meinen Mann bitten sollen, dich und deine Mutter freizulassen. Aber ich habe euch hierbehalten. Jetzt erst begreife ich es. Die ganzen Jahre lang habe ich mich von verletztem Stolz lenken lassen. Nur deshalb bin ich bei David geblieben. Hass und Rachsucht gegenüber dem Mann, der mich gedemütigt hat, haben mein Leben bestimmt.»
Katherine war vollkommen erschöpft.
Nachdem sie wieder zu Atem gekommen war, flüsterte sie: «Verzeih mir, Noah, dass mein Stolz mich daran gehindert hat, das Richtige zu tun.»
Tränen traten in ihre honigfarbenen Augen.
«Ich verzeihe Ihnen, Katherine. Ich verzeihe Ihnen aus ganzer Seele.»
***
Es war eine schlichte Zeremonie. Klaus übernahm die Rolle des Trauzeugen, und Camille, die wunderschön aussah in ihrem weißen Kleid, konnte nicht aufhören zu lächeln.
Charlotte hatte keine Gelegenheit gehabt, sich Richard zu nähern, und jetzt schritt das frischvermählte Paar auf seinem Weg zur Kutsche durch das Spalier der Gäste hindurch. Ganz kurz trafen sich Richards und Charlottes Blicke. Sie tauchte ein in das tiefe Grau seiner Augen und suchte verzweifelt nach einer Antwort. Aber sie sah nichts als Trauer. Er verabschiedete sich von ihr. Charlotte spürte, wie die Tränen in ihr aufstiegen, als Hortensia sie in den Arm nahm. Dann schloss sie die Augen und ließ ihn gehen.
Genau wie Hortensia versprochen hatte, wich sie Charlotte keine Sekunde lang von der Seite. Nicht einmal Robert Ardley konnte sie zu einem Tanz überreden. Sobald Richard und Camille abgereist waren, fühlte Charlotte sich etwas besser. Die Begegnung mit ihm hatte sie von ihren quälenden Zweifeln befreit. Es blieb nur noch tiefes Leid in ihrem Herzen. Obwohl Charlotte ihre Schwester dazu ermunterte, das Fest zu genießen, blieb Hortensia weiter an ihrer Seite und überraschte sie mit ihrer Zähigkeit. Also beschloss Charlotte, die Aufforderungen der Männer nicht weiter abzulehnen und die nächste Einladung zum Tanz anzunehmen. So konnte der verliebte Robert wenigstens für ein paar Minuten mit Hortensia allein sein.
Leider wurde sie als Nächstes von William Burton aufgefordert.
Alles für das Glück meiner Schwester, dachte sich Charlotte und nahm Williams Hand. Es stellte sich heraus, dass er zwei linke Füße hatte und überhaupt kein Gefühl für den Takt. Obwohl Charlotte konzentriert auf die ungelenken Bewegungen ihres Partners achtete, um nicht hinzufallen, erkannte sie Jeremias, der am Rand der Tanzfläche aufgeregt mit ihrem Vater sprach.
Sofort begriff sie, dass etwas nicht in Ordnung war. Dann entfernte sich ihr Vater plötzlich eiligen Schrittes. Auch Hortensia war inzwischen auf die Männer aufmerksam geworden, blickte zu Charlotte hinüber, und gemeinsam rannten sie zu Jeremias.
«Was ist los?», fragte Charlotte ängstlich. «Wo ist mein Vater hingegangen?»
«Die Herrin», brachte Jeremias keuchend heraus. «Es ist etwas Schreckliches passiert, Herrin Katherine hatte einen Unfall.»
«Einen Unfall?», fragte Hortensia jetzt erschrocken. «Geht es ihr gut?»
Jeremias senkte den Kopf.
«Sprich, verdammt», sagte Charlotte, die fast die Geduld verlor.
Jeremias hob die Augen und sah Charlotte an. «Es tut mir leid!», sagte er schluchzend. «Herrin Katherine geht es sehr schlecht. Sie will mit Ihnen reden. Sie müssen sich beeilen!»
***
Als die Kutsche vor dem Haus anhielt, wartete Latoya schon in der Tür. Ihre Augen waren voller Tränen.
Das Pferd ihres Vaters stand bereits dort.
Schnell sprang Charlotte aus der Kutsche und lief zu der Sklavin. «Lebt sie?», fragte sie Latoya, die nicht aufhören konnte zu wimmern. «Lebt sie?», fragte sie noch einmal und schüttelte die Sklavin.
«Oh, Miss, der Herrin geht es sehr schlecht.»
Charlotte ließ Latoya los und rannte wie der Blitz die Treppen hinauf. Hortensia eilte ihr nach.
Als sie in das Zimmer ihrer Mutter kamen, blieben beide wie erstarrt stehen. Noch nie hatten sie ihre Mutter schwach gesehen. Ein dünnes Blutfädchen rann aus ihrem Mundwinkel, ihre Haut hatte jede Farbe verloren, und ihre wunderschönen, honigfarbenen Augen waren hinter den geschlossenen Lidern versteckt.
David kniete neben dem Bett und hielt die leblose Hand seiner Frau, während er unaufhörlich ihren Namen flüsterte.
«Wie geht es ihr?», fragte Charlotte.
«Es tut mir leid», sagte Owen traurig. «Es gibt nichts, was wir tun können.»
«Das kann nicht sein. Wo ist der Doktor? Warum kommt er nicht?»
«Mama, bitte wach auf», flüsterte Hortensia ihr zu.
Nervös blickte Charlotte sich um.
«Was ist passiert?», schimpfte sie wütend und suchte nach einem Verantwortlichen, den sie mit ihrem Zorn überschütten könnte.
Owen hatte das Gefühl, als wiederholte sich die Tragödie, die sich vor über zwanzig Jahren abgespielt hatte.
«Es war ein Unfall», hörte man plötzlich Katherine mit schwacher Stimme. «Niemand trägt die Schuld.»
Charlotte warf sich sofort neben sie aufs Bett.
«Mama! Bitte verlass uns nicht!», flehte Hortensia unter Tränen.
David lächelte, als Katherine erwachte, und führte ihre Hand an seine Lippen. «Alles wird gut», beruhigte er seine Frau.
Aber trotz ihres ernsten Zustands zog Katherine ihre Hand weg, sobald sie bemerkte, dass es David war, der sie gehalten hatte. «Ich will mit meinen Töchtern allein sein», sagte sie und wandte ihr Gesicht von David ab.
Davids Gesichtsausdruck verhärtete sich.
«Wie du willst, Katherine.» Er stand auf. Ein letztes Mal hatte ihr Stolz die Worte der Liebe erstickt, die in seinem Inneren aufgekeimt waren. Der Tod würde sie von seiner Seite reißen, ohne dass sie ihm verziehen hätte.
Dann blieben Mutter und Töchter allein.
***
In jener Nacht betrat Owen Graham die Kneipe von Joe Bruck. Er setzte sich in die hinterste Ecke der verfallenen Hütte, bestellte eine Flasche Whisky und trank ein Glas nach dem anderen, bis er bewusstlos vom Stuhl kippte. Er musste den Schmerz in seiner Seele ertränken. Am liebsten wollte er sterben. Einen Grund zu leben hatte er nicht mehr.