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Zwei Monate später war Charlotte noch immer auf Sarton. Als sie eines Nachmittags am Fluss ihre Kleider wusch, tauchte Melody hinter ihr auf.
«In ein paar Tagen wird die Herrschaft zurückkehren. Das Haus muss geputzt werden, und Mr. Boromat hat mir gesagt, dass ich eine Frau aussuchen darf, die mir helfen soll.»
Charlotte hörte für einen Moment auf, an einem hartnäckigen Fleck zu reiben, und sah auf.
«Und?»
«Nun, ich habe gedacht, dass du vielleicht Lust dazu hast.»
Eigentlich waren die beiden nicht gerade Freundinnen. Melody fand Charlotte hochnäsig, und Charlotte war umgekehrt der Ansicht, dass Melody etwas einfältig war. Wenn Melody sie ausgesucht hatte, dann weil die Sklavin an Noah interessiert war. Charlotte wusste nicht so genau, ob Noah diese Zuneigung erwiderte.
«Danke, Melody. Es wäre schön, für ein paar Tage etwas anderes zu machen.»
«Bis morgen also.»
Am nächsten Tag fingen sie mit dem Salon und dem Empfangszimmer an. Sie zogen die Laken von den Möbeln, wuschen die Gardinen, klopften die Teppiche, wischten Staub und bohnerten die Fußböden.
Am Ende des Tages wollte Melody noch die Kohle im Kamin zurechtlegen. Sie bereitete alles so vor, dass man ihn nur noch anzuzünden brauchte.
«Kannst du mir etwas Papier geben?», bat sie Charlotte. «Es liegt da hinten.»
Charlotte drehte sich um und entdeckte einen Stapel alter Zeitungen in einem Korb. Sie knüllte ein paar einzelne Seiten zusammen und reichte sie Melody. «Reicht das?»
«Noch ein bisschen mehr.»
Charlotte riss eine weitere Seite ab, aber kurz bevor sie sie zusammenknüllte, fiel ihr Blick auf eine Überschrift. Schlagartig richtete sie sich auf.
«Worauf wartest du», drängte Melody.
Unauffällig ließ Charlotte das Papier in ihrer Schürzentasche verschwinden und riss schnell eine neue Seite ab. «Hier.»
«Ist alles in Ordnung?», fragte Melody neugierig.
Charlotte nickte.
«Du bist ganz blass geworden. Als hättest du ein Gespenst gesehen.»
«Nein, mir geht es gut, wirklich.»
Melody bedrängte sie nicht weiter und stopfte das Papier unter die Kohlen.
«So, das war’s! Für heute sind wir fertig. Morgen sind die Schlafzimmer dran.»
***
Keuchend stürzte Charlotte in die Hütte. Sie war den ganzen Weg vom Herrenhaus gelaufen.
«Ach, zum Glück bist du schon hier, Noah!»
«Wir durften heute früher aufhören.»
Charlotte ließ ihn kaum ausreden und holte sofort das Stück Zeitung aus ihrer Schürze.
«Hier, lies das», sagte sie und streckte es Noah hin.
«Bist du verrückt geworden? Wir sind hier nicht auf New Fortune. Weißt du, was passiert, wenn jemand erfährt, dass wir lesen können?»
«Sei still und lies einfach!»
Noah nahm das Papier und strich es glatt. Es war eine Seite aus dem Gesellschaftsteil. Dort wurde berichtet, dass die Tochter eines der reichsten Landbesitzer Virginias heiraten würde. Erst in der letzten Zeile wurden die Namen des Brautpaars bekannt gegeben. Noah war sprachlos.
«Ich verstehe das nicht, Noah. Ich war mir so sicher, dass Robert Ardley um Hortensias Hand anhalten würde. Wie ist es möglich, dass sie jetzt Oberst Dugan heiratet?»
«Vielleicht hat dein Vater herausgefunden, dass eigentlich Hortensia Mollys Tochter ist, und sie gezwungen.»
«Aber wie soll er das herausbekommen haben? Sie hat es ihm bestimmt nicht verraten.»
«Ich weiß es nicht. Aber anders kann ich es mir nicht erklären. Wie hätte er sonst ihre Einwilligung erzwingen können?»
«Wann ist die Hochzeit?»
Noah überflog den Text noch einmal. «Am fünften Oktober. Die Hälfte des Septembers ist wahrscheinlich vorbei, also bleiben bis dahin noch zehn bis vierzehn Tage.»
Nervös lief Charlotte in der Hütte auf und ab. Ihr Kopf war kurz davor zu zerspringen.
«Das müssen wir verhindern!»
«Das können wir nicht, Charlotte. Wir können nichts tun. Du vergisst, wer wir sind und wo wir sind.»
«Das vergesse ich keineswegs. Und ich kann einfach nicht glauben, dass mein Opfer, alles, was ich durchgemacht habe, umsonst war. Wenn mein Vater wirklich weiß, wer sie ist, was wird nur mit ihr geschehen?»
Verzweifelt fuhr Charlotte fort: «Bitte, Noah. Ich flehe dich an. Wir müssen etwas tun. Du hast doch gesagt, dass du Hortensia immer gemocht hast.»
Noah sah sie an. Charlotte würde nie akzeptieren, nicht mehr selbst über ihre Zukunft bestimmen zu können. Noah zuckte hilflos mit den Schultern.
Wütend stampfte Charlotte mit dem Fuß auf. «Ich werde nicht untätig hier herumsitzen, während dieser Bastard von meinem Vater damit durchkommt. Ich schwöre beim Andenken meiner Mutter, dass ich diese Hochzeit verhindern werde. Mit oder ohne deine Hilfe.»
«Und was willst du tun?»
«Ich werde sie da rausholen.»
«Und wie willst du da hinkommen? Zu Fuß?»
«Kriechend, wenn es sein muss!»
«Du brauchst viel länger als zehn Tage. Selbst wenn du es schaffen würdest zu fliehen, würdest du doch niemals rechtzeitig ankommen.»
«Ich werde rechtzeitig dort sein. Ich kann versuchen, ein Pferd zu stehlen. Allein oder mit deiner Hilfe, ich schwöre, ich werde es versuchen.»
Noah wusste, dass Charlotte es ernst meinte. Aber allein könnte sie es niemals schaffen.
«Wenn sie uns schnappen, hängen sie uns auf.»
«Das ist immer noch besser, als für den Rest meines Lebens als Sklavin zu leben. Außerdem werden sie uns nicht schnappen.»
«Und was wird aus mir? Was soll ich danach tun, wo soll ich hin?»
«Du kommst mit uns. Wir werden uns um dich kümmern.»
Noah dachte nach, bevor er Charlotte eine Antwort gab. Er war sein ganzes Leben ein Sklave gewesen. Aber auch in ihm war langsam der Wunsch gewachsen, dieses Schicksal hinter sich zu lassen.
«Einverstanden. Ich gehe mit dir. Und außerdem ist da meine Mutter. Ich kann sie nicht dort allein lassen.»
Am nächsten Morgen ging Charlotte wieder mit Melody zum Haupthaus. Sie putzten die Schlafzimmer und taten die letzten Handgriffe. Danach würde sie zu Noah in die Hütte gehen, und in derselben Nacht noch würden sie fliehen.
«Am meisten Sorgen machen mir die Hunde», sagte Noah. Aber Charlotte grinste.
«Ich verstehe nicht, was daran so lustig ist.»
«Ich habe mir alles gut überlegt», antwortete Charlotte und holte einen kleinen, in ein Taschentuch gewickelten Gegenstand unter dem Bett hervor.
«Was ist das?»
«Unser Passierschein in die Freiheit!» Unter dem Tuch kam ein Parfümfläschchen zum Vorschein.
«Wo hast du das her?»
«Gefunden.»
«Du hast es gestohlen!»
«Sagen wir, ich habe es mir ausgeliehen», antwortete Charlotte gekränkt.
«Wenn sie dich erwischen, ziehen sie dir bei lebendigem Leib die Haut ab.»
«Wenn sie uns heute Nacht erwischen, ist dieses Parfüm wahrscheinlich unser geringstes Problem.»
Gegen Mitternacht gingen sie los. Schweigend verließen sie das Hüttendorf und gingen runter zum Bach. Niemand sah sie. Charlotte hatte dort hinter einem Gebüsch ein Bündel versteckt, das sie jetzt mitnahmen. Sie folgten dem Gewässer Richtung Norden, bis sie nach zwei Stunden an einem Punkt ankamen, wo der Bachlauf sich teilte. Einer der Arme führte wieder nach Süden zurück in Richtung Plantage.
«Hier ist es», sagte Noah und blieb stehen. «Ich hatte schon befürchtet, dass es diese Stelle gar nicht gäbe. Wir müssen uns beeilen, damit wir den Weg zurück noch schaffen und ein paar Stunden Vorsprung haben, bevor unsere Flucht bemerkt wird.»
Charlotte nickte. Sie warf das Bündel auf die andere Seite des Baches, entledigte sich ihrer Kleider und watete ans andere Ufer. Dort zog sie ein Kleid an, das im Bündel gewesen war. Jetzt zog sich auch Noah aus. Er legte seine und Charlottes Kleider vor einen Stein und trat ein paar Schritte zurück. Jetzt schleuderte er das Parfümfläschchen gegen den Stein. Es zerbrach und ergoss seinen Inhalt über die Kleider.
Dann durchquerte auch er den Bach und zog auf der anderen Seite ein Hemd und eine Hose an, an denen noch der Geruch eines anderen Menschen haftete.
«Wie bist du an die Sachen gekommen?»
«Ich habe Melody gesagt, dass ich ihr bei der Wäsche helfen würde, zum Dank dafür, dass sie mich ausgesucht hat, um im Haus zu helfen. Die Sachen sind von ihr und ihrem Vater.»
«Hat sie dir geglaubt?»
«Warum sollte sie mir nicht glauben? Denkst du, dass es etwas nützt?»
«Vermutlich schon. Die Hunde werden unsere Spur bis hierher problemlos verfolgen. Wenn sie die parfümierten Sachen finden, wird ihr Geruchssinn für ein paar Stunden ausgeschaltet sein. Und es wird sie auch verwirren, dass wir die fremden Kleider angezogen haben. Zudem haben wir unseren Verfolgern genügend Indizien dafür geliefert, dass wir nach Norden wollen. In dieser Richtung liegt Pennsylvania. Niemand, der einigermaßen bei Verstand ist, würde annehmen, dass zwei entlaufene Sklaven den Hals riskieren, indem sie sich in den Süden zurückbegeben, wenn die Freiheit nur wenige Meilen weit entfernt ist.»
«Du hast recht», antwortete Charlotte zufrieden.
Den Rückweg legten Charlotte und Noah im Bach watend zurück. Im Wasser würden sie keine Spuren hinterlassen, die die Hunde verfolgen könnten. Es war riskant, eine falsche Fährte zu legen und ihre Verfolger glauben zu machen, dass sie in den Norden fliehen wollten, denn jetzt mussten sie noch einmal zurück auf das Gebiet der Plantage. Aber es war die einzige Möglichkeit, ihre Spuren zu verwischen und etwas Zeit zu gewinnen.
Als sie die Plantage endlich zum zweiten Mal hinter sich gelassen hatten, schlugen sie sich in den Wald. Fast im Dunkeln kämpften sie sich zwischen dichtem Gebüsch und tiefhängenden Ästen vorwärts. Kurz bevor der Sonnenaufgang drohte, verbargen sie sich in einem Erdloch und bedeckten sich mit Laub und Zweigen. In diesem Versteck warteten sie den Anbruch der sicheren Nacht ab. Am nächsten Tag schafften sie es bis zu den Bergen. New Fortune rückte immer näher.
Weil sie sich tagsüber verstecken mussten, kamen sie nur langsam voran. Sie ernährten sich nur von wilden Beeren und Früchten, die sie auf ihrem Weg finden konnten. Und während die Tage vergingen und ihre Kräfte schwanden, zweifelte sogar Charlotte manchmal daran, dass sie noch rechtzeitig ankommen würden, um Hortensias Hochzeit zu verhindern.
***
«Miss Hortensia. Hier ist Ihr Kleid.»
Hortensia drehte sich zu Latoya um, die gerade das Zimmer betreten hatte. «Leg es dort hin.»
Vorsichtig breitete die Sklavin das Hochzeitskleid auf dem Bett aus, das unter den vielen Metern elfenbeinweißer Naturseide fast nicht mehr zu sehen war. «Es ist wunderschön», sagte sie bewundernd.
«Ja, es ist sehr hübsch», erwiderte Hortensia mit erstickter Stimme. Ihr war, als hätte ihr jemand eine Schlinge um den Hals gelegt und zöge sie immer fester zu.
Latoya blickte ihre Herrin an. Seit Charlotte als Sklavin verkauft worden war, war Hortensia nicht mehr sie selbst gewesen. Immer war sie traurig. Sie verließ kaum einmal ihr Zimmer, und wenn doch, dann lief sie wie eine verlorene Seele durch das Haus. Latoya fühlte die Narbe in ihrer Handfläche und verspürte tiefe Trauer. Sie war die Letzte, die noch wusste, was damals geschehen war. Sie hatten Stillschweigen geschworen, und trotzdem hatten sie nichts erreicht. Mollys Tochter würde das gleiche Schicksal erleiden wie ihre Mutter. Sie hatten Charlotte nicht retten können.
«Seien Sie nicht traurig, Miss Hortensia», versuchte Latoya ihre Herrin aufzumuntern. «Mr. Dugan liebt Sie sehr.»
«Ich weiß, Latoya. Er ist ein guter Mann. Aber ich liebe ihn nicht.»
Verwirrt senkte die Sklavin den Kopf. Wenn sie ihn nicht heiraten wollte, warum hatte sie den Antrag dann angenommen?
«Miss Hortensia, wir werden Sie alle sehr vermissen, wenn Sie gehen.»
Hortensia ging einen Schritt auf Latoya zu und umarmte sie.
«Danke», sagte sie mit Tränen in den Augen. «Ich werde euch auch sehr vermissen.»
«Weinen Sie nicht, Miss. Sie werden sehen, dass morgen alles wunderbar wird», sagte Latoya aufmunternd. «Sie werden eine wunderschöne Braut sein, und die Gäste kommen von überall her. Außerdem können Sie uns besuchen, wann immer Sie wollen. Die Plantage von Mr. Ross ist nicht weit weg, und Ihr Vater wird sich sicher freuen, wenn Sie kommen, jetzt, wo er ganz allein geblieben ist.»
Hortensia versuchte zu lächeln.
«Bestimmt. Alles wird gut werden.»
Aber als Latoya aus dem Zimmer ging, setzte Hortensia sich aufs Bett und betete mit ganzer Seele, dass ihre Hochzeit nicht stattfinden würde.
***
Seit Stunden hockten Noah und Charlotte hinter den Ställen und beobachteten das Haus, als endlich das letzte Licht gelöscht wurde.
«Es wurde auch Zeit», sagte Charlotte. «Ich dachte schon, sie würden gar nicht zu Bett gehen.»
«Denk daran», ermahnte Noah sie, «bring Hortensia sofort hierher, sobald du sie gefunden hast. Ich hole meine Mutter. Sei vorsichtig, Charlotte!»
«Du auch, Noah.»
Charlotte trat aus dem Versteck.
«Viel Glück», flüsterte Noah, dann liefen sie beide geduckt in entgegengesetzte Richtungen, Noah zum Hüttendorf und Charlotte zum Haupthaus.
Hortensia saß im Dunkel ihres Zimmers und grübelte über einen Ausweg nach, als sich plötzlich eine Gestalt in ihr Zimmer schlich. Erschrocken hielt sie den Atem an und drückte sich tiefer in den Sessel. Der Schatten bewegte sich vorsichtig in Richtung Bett und flüsterte ihren Namen: «Hortensia.»
Die Verzweiflung hatte ihren Tribut gefordert, dachte Hortensia, die glaubte, die Stimme ihrer Schwester zu erkennen.
«Hortensia», sagte die Stimme wieder.
Die Gestalt blieb stehen, und während sie sich an der Öllampe auf dem Nachttisch zu schaffen machte, brachte Hortensia ein fragendes «Charlotte?» heraus.
In diesem Moment wurde es hell im Zimmer.
«Du bist es!», sagte Hortensia und konnte kaum glauben, was ihre Sinne ihr vorgaukeln wollten. Zögernd streichelte sie Charlottes lächelndes Gesicht. «Du bist es wirklich!», sagte sie erneut und brach in Tränen aus. «Ich habe gebetet, ich habe mir so sehr gewünscht, dich wiederzusehen. Er weiß Bescheid. Er weiß, dass ich Mollys Tochter bin», gestand sie ihrer Schwester voller Angst.
«Ich weiß.»
«Ich habe dich so sehr vermisst, Charlotte. Lass mich nicht wieder allein.»
Die beiden Schwestern verschmolzen in einer Umarmung.
«Niemals», flüsterte Charlotte und ließ endlich ihren Tränen freien Lauf.
***
Auch in dieser Nacht machte Velvet sich darauf gefasst, lange wach zu liegen. Seit Noah von ihr getrennt worden war, schlief sie schlecht. Sie legte sich aufs Bett und wartete vergeblich auf den Schlaf.
Als sie Noah in die Hütte kommen sah, dachte sie, sie wäre endlich eingeschlafen und würde träumen. «Lass mich nicht aufwachen», flehte Velvet die Nacht an, ohne den Blick von Noah abzuwenden.
Jetzt nahm Noah das Gesicht seiner Mutter zwischen seine Hände und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
«Du schläfst nicht, Mutter. Ich bin es, Noah. Ich bin gekommen, um dich mitzunehmen.»
«Mein Kleiner», sagte sie und nahm ihren Sohn in den Arm. «Aber wie soll das gehen?»
«Jetzt ist keine Zeit für Erklärungen, Mama. Zieh dich an, wir müssen uns beeilen. Charlotte und Hortensia warten auf uns», sagte er, während er aus den Körben ein paar Kleider und ein Stück Brot für den Weg zusammensuchte. Aber als er das Bündel geschnürt hatte, sah er, dass seine Mutter noch nicht angezogen war.
«Worauf wartest du, Mama? Wir müssen uns beeilen!»
Velvet rührte sich nicht. Sie stand nur da und betrachtete ihren Sohn.
«Ich komme nicht mit.»
Noah richtete sich auf.
«Was soll das? Ich bin gekommen, um dich zu holen.»
«Es tut mir leid, aber ich bin nur ein Hindernis.»
«Das ist Unsinn.»
«Guck dir mein Bein an.»
In der Eile hatte Noah gar nicht bemerkt, dass der Knöchel seiner Mutter verbunden war.
«Es ist nichts Schlimmes», sagte sie schnell, um ihn zu beruhigen. «Ich bin nur umgeknickt, aber ich kann kaum laufen. Ich würde euch nur aufhalten.»
«Nein. Bestimmt nicht. Ich kann dich tragen.»
«Du weißt, dass das nicht geht, Noah. Nur wenn ich hierbleibe, habt ihr eine Chance. Wie schnell haben sie eine hinkende Sklavin gefunden, was glaubst du?»
Verzweifelt ließ Noah sich auf einen Stuhl fallen.
«Aber ich brauche dich. Ich kann nicht zulassen, dass du hierbleibst.»
«Mach dir um mich keine Sorgen. Mir geht es hier gut. Ich bin hier geboren, und ich werde hier sterben. Aber du verdienst etwas Besseres.»
«Wir verdienen alle etwas Besseres als das hier, Mama.»
«Vielleicht. Aber jetzt hast du andere Menschen, an die du denken musst. Deine Schwestern brauchen dich. Geh mit ihnen.»
«Aber …»
«Sei beruhigt, Noah. Wenn du dich retten kannst, geht es auch mir gut. Und jetzt geh!», drängte sie ein letztes Mal. «Ihr müsst euch beeilen.»
«Ich verspreche dir, Mama, dass ich eines Tages kommen werde, um dich zu holen.»
Zum zweiten Mal sah Velvet ihren Sohn weggehen. Aber diesmal war es anders. Diesmal würde ihr Sohn die Freiheit finden.
***
Charlotte zog Melodys altes Kleid aus und suchte sich eines von ihren eigenen aus dem Schrank. Nachdem sie ihr schmutziges Haar unter einem Hut versteckt hatte, leerte sie die Reisetasche aus, die Latoya für Hortensia gepackt hatte, und rannte zur Kommode.
«Was tust du, Charlotte?»
«Wir brauchen Geld.»
«Fahren wir denn nicht zu Großvater?»
«Nein», sagte Charlotte und kippte den Inhalt des Schmuckkästchens in die Tasche. «Wir müssen an Noah und seine Mutter denken.»
«Noah und seine Mutter?»
«Sie warten draußen auf uns. Und außerdem bin auch ich nach wie vor eine entlaufene Sklavin. Ich kann nicht im Süden bleiben.»
«Aber Großvater würde uns helfen.»
Charlotte hörte für einen Moment auf, wie rasend in den Schubladen zu stöbern, und sah ihre Schwester an.
«Es geht nicht.»
«Warum?»
«Vielleicht ist Großvater wie unser Vater!»
«Das kann nicht sein. Großvater liebt uns. Er würde verstehen … Niemand kann so sein wie unser Vater.»
«Wir können es nicht riskieren. Mama hat Großvater nie die Wahrheit erzählt.»
Hortensia wollte protestieren, aber sie wusste, dass ihre Schwester recht hatte.
«Wohin wollen wir dann?»
«In den Norden. Dort sind wir sicher.»
Charlotte beugte sich über die Frisierkommode. «Wo ist der Schmuck?», fragte sie, als sie nur ein paar Stücke fand.
«Das meiste ist in Mamas Zimmer. Aber hier liegt noch die Diamanthalskette mit den Ohrringen und dem Armband. Ich habe sie neulich getragen und hatte noch keine Gelegenheit, sie zurückzubringen. Und hier ist die Perlenkette, die ich morgen hätte umlegen sollen.» Hortensia zog eine Schublade auf und gab Charlotte den Schmuck.
«Und die Goldmünzen, die Großvater uns geschenkt hat?»
«Im Schrank.»
«Hol sie.»
Zusätzlich zu den Münzen legte Hortensia noch ein dickes Bündel Scheine in die Tasche. «Das hat Onkel Quentin mir gestern gegeben, es ist mein Hochzeitsgeschenk.»
«Das genügt», sagte Charlotte und sah sich noch einmal um. Sie wollte nichts von Wert zurücklassen. «Wir müssen los.»
Sie löschten das Licht, und Charlotte steckte vorsichtig einen Kopf zur Tür hinaus. Als sie sich vergewissert hatte, dass niemand da war, gab sie ihrer Schwester ein Zeichen.
Langsam schlichen die beiden durch das dunkle Haus. Vorsichtig setzten sie einen Schritt vor den nächsten, um kein Geräusch auf den Eichendielen zu machen. Sie hatten den Flur und den ersten Treppenzug schon geschafft, es fehlte nur noch ein kleines Stück bis ins Erdgeschoss, wo der Teppich des Empfangszimmers die letzten Schritte bis zur Tür dämpfen würde.
Als ihr Ziel zum Greifen nah war, ging auf einmal ein Licht an.
***
Als Noah zum Treffpunkt kam und Charlotte und Hortensia noch nicht da waren, wusste er, dass etwas schiefgegangen war.
Er musste herausfinden, was passiert war. Vorsichtig näherte er sich dem Haus, um durch ein Fenster in das Empfangszimmer zu spähen, aber alle Gardinen waren vorgezogen. Er versuchte, durch die Haupttür ins Haus zu gelangen, doch sie war versperrt. Dann probierte er eine der Glastüren, die von der Veranda ins Esszimmer führten, und hatte endlich Glück.
Gerade als er sich vorsichtig hineingeschlichen hatte, drückte ihm jemand die Mündung eines Gewehrs in die Seite.
«Da haben wir ja den Dritten!», rief David aus.
Noah wagte kaum zu atmen. Auf keinen Fall wollte er seinem Vater einen Grund geben abzudrücken.
«Vorwärts!», befahl David und stieß ihm das Gewehr in den Rücken. Noah gehorchte.
Charlotte und Hortensia standen wie angewurzelt im Empfangszimmer. Als Noah sich neben sie stellte, trat David ein paar Schritte zurück und setzte sich auf einen Sessel. Dabei behielt er sie die ganze Zeit über im Visier.
«Ihr seid entweder sehr mutig oder sehr dumm», sagte er, während die drei auf das Gewehr starrten.
«Ich hatte noch gar keine Gelegenheit, dich zu begrüßen, Tochter. Ich freue mich, dich zu sehen, Charlotte.»
Charlotte wollte sich wütend auf ihn stürzen, aber Hortensia hielt sie zurück.
«Leider kann ich von mir nicht das Gleiche behaupten, Vater.»
David lächelte kalt. Seine Tochter konnte noch nicht einmal den Mund halten, wenn sie mit einer Waffe bedroht wurde.
«Du bist wie deine Mutter. Es war klar, dass du wegen dieser Negerin herkommen würdest.»
Entsetzt nahm Charlotte die Verachtung wahr, mit der ihr Vater über Hortensia sprach.
«Ich habe versucht, dich gut zu erziehen, aber wie ich sehe, haben meine Bemühungen nicht gefruchtet.»
«Zum Glück bin ich rechtzeitig aufgewacht, Vater. Du hast mich lange Zeit getäuscht. Und ich hatte sogar diesen Unsinn geglaubt, dass die Sklaven so anders wären als wir. Aber die Ereignisse der letzten Monate haben mir die Augen geöffnet. Eigentlich verdanke ich es dir, dass ich die Dinge nun etwas anders sehe.»
«Ich verstehe dich nicht, Charlotte. Warum hast du sie vorgezogen?», sagte er und deutete auf Hortensia. «Wir sind uns so ähnlich. Wir haben uns so gut verstanden. Wir hätten zusammenbleiben können. Aber du hast dich für sie entschieden. Wegen einer verfluchten Sklavin hast du dich mit mir überworfen!» David war wütend.
«Und ich würde es wieder tun», antwortete Charlotte und sah ihrem Vater fest in die Augen. «Da du uns so sehr verachtest, brauchst du dir keine Sorgen zu machen», sagte Charlotte und achtete nicht auf die stillen Gesten ihrer Geschwister, die sie zur Zurückhaltung mahnten. «Du wirst uns nie wieder sehen. Diese Nacht verschwinden wir für immer aus deinem Leben. Stell dir einfach vor, wir hätten niemals existiert.»
«Ich fürchte, du irrst dich, Charlotte. Die da wird morgen Oberst Dugan heiraten, und ihr zwei werdet dorthin zurückgebracht, von wo ihr geflohen seid.»
«Nein, Vater. Hortensia wird diesen Mann nicht heiraten, und du wirst uns gehen lassen.»
«Du hast doch den Verstand verloren.»
«Du wirst nichts dagegen tun können, Vater. Denn sonst werde ich dafür sorgen, dass Ross Dugan erfährt, dass du ihn mit der Tochter einer Sklavin verheiraten wolltest. Glaubst du, dass er dir das verzeihen würde? Und was werden die Nachbarn sagen?»
David erstarrte.
«Du hast mich einmal hereingelegt, aber diesmal wird dir das nicht gelingen. Inzwischen habe ich begriffen, dass du viel mehr Angst davor hast als ich, dass die Nachbarn die Wahrheit erfahren. Wir gehen jetzt.»
Charlotte packte Noah und Hortensia an den Armen und machte einen Schritt vorwärts.
David stand auf.
«Keinen Schritt weiter!»
Aber Charlotte dachte nicht daran, stehen zu bleiben.
«Halt, habe ich gesagt!»
Als keiner der drei gehorchte, zog David den Abzug.
Nach dem ohrenbetäubenden Schuss wurde es schlagartig still. Hortensia, Charlotte und Noah waren unverletzt, es war nur ein Warnschuss gewesen.
«Ich werde nicht noch einmal danebenschießen», versprach David und nahm Noah ins Visier. «Du weißt, dass ich nicht zögern werde, Charlotte.»
In diesem Moment stürzte Owen in das Empfangszimmer. Er war noch nicht ganz angekleidet und hatte seine Pistole in der Hand. Als er entdeckte, wer die Eindringlinge waren, blieb er abrupt stehen und warf David einen kurzen Blick zu.
«Owen, bewach sie. Sie haben versucht zu fliehen.»
Der Aufseher brauchte nur einen kurzen Moment, um zu realisieren, was vor sich ging. Dann zielte er auf Noah.
David ließ sein Gewehr sinken und ging auf Charlotte zu. Blitzartig nahm Owen jetzt David ins Visier.
«Bist du verrückt geworden, Owen?», schrie David.
«Nein, Mr. Parrish. Ich war verrückt, als ich zuließ, dass Sie eine von Katherines Töchtern als Sklavin verkauften. Aber das wird nicht noch einmal geschehen. Stellen Sie das Gewehr weg!»
«Drohst du mir etwa?»
«Ich werde das nicht noch einmal sagen», sagte Owen.
David sah Charlotte an, während er das Gewehr an die Wand lehnte.
«Noah, bring mir die Waffe», befahl Owen.
«Ihr werdet nicht weit kommen. Wenn auffällt, dass die Braut und ihr Vater nicht zur Hochzeit erscheinen, werden sie mich suchen. Und dich werden sie aufhängen», drohte er Owen.
Aber Owen reagierte nicht auf die Drohung und wandte sich Davids Kindern zu.
«Geht schon!»
Als sie bei der Tür waren, drehte Charlotte sich zum Aufseher um.
«Und du?»
«Machen Sie sich um mich keine Sorgen, Miss Charlotte. Ich werde ihn bis Sonnenaufgang festhalten, dann verschwinde ich auch. Ich glaube nicht, dass Ihr Vater etwas sagen wird, und selbst wenn. Wenn sie ihn suchen kommen, bin ich schon weit weg. Ich werde in die Berge zurückkehren, in denen ich aufgewachsen bin. Dort bin ich sicher. Wirklich», beruhigte er sie.
«Danke, Owen. Ich werde dir das nie vergessen.»
***
Sie ritten die ganze Nacht durch und kamen gerade rechtzeitig in Richmond an, um den Zug nach Norden zu nehmen. Einen Teil des Bargeldes, das Hortensia von ihrem Onkel bekommen hatte, gaben sie für ein Privatabteil aus. Zuerst stiegen Charlotte und Hortensia ein und zogen alle Gardinen vor. Und nachdem Noah sich vergewissert hatte, dass der Schaffner am anderen Ende des Zuges beschäftigt war, kam er hinterher und versteckte sich unter den Sitzen. Dann setzten Charlotte und Hortensia sich nebeneinander und breiteten die weiten Röcke über ihrem Bruder aus. Es war nichts mehr von ihm zu sehen.
Es war eine quälend lange Reise, aber keiner der drei stand auch nur für einen Moment von seinem Platz auf. Sie mussten sehr vorsichtig sein. Wenn jemand Noah entdecken würde, wären sie verloren.
Hortensia entdeckte als Erste den Grenzpfosten, der den Übergang von Maryland nach Pennsylvania markierte. Jetzt fehlte nicht mehr viel. Sie würden es wirklich schaffen, dachte sie zum ersten Mal, seit sie geflohen waren. Aber plötzlich wurde der Zug langsamer und blieb mit kreischenden Rädern stehen. Zweihundert Meter vor der Grenze.
Kurz darauf erschien der Schaffner im Abteil. «Guten Tag, die Damen», grüßte er und hob seine Hand an die Mütze, wobei er Charlotte einen Moment länger ansah, als eigentlich nötig gewesen wäre.
«Guten Tag», antwortete Charlotte und blickte ihm direkt ins Gesicht, während sie Noah unter dem Sitz einen kleinen Warntritt versetzte. «Warum halten wir?», fragte sie, obwohl sie die Antwort eigentlich kannte. Draußen sah man ein paar Männer mit Hunden, die die Unterseiten des Zuges überprüften.
Hortensia versuchte zu lächeln, aber sie war nervös.
«Kein Grund zur Sorge. Es ist nur Routine. Ständig versuchen Sklaven, auf dem Dach oder zwischen den Waggons versteckt nach Norden zu gelangen. Der Zug hält hier immer. In ein paar Minuten geht die Fahrt weiter. Wenn Sie mich entschuldigen, ich muss auch die anderen Fahrgäste informieren.»
«Ob er dich erkannt hat?», flüsterte Hortensia, als der Schaffner das Abteil verlassen hatte. Sie war am Rande eines Nervenzusammenbruchs. An einem kleinen Bahnhof war eine Suchmeldung mit einer Zeichnung von Noah und Charlotte angeschlagen gewesen.
«Das glaube ich nicht. Sie suchen schließlich eine Sklavin und nicht zwei junge Damen aus Virginia.»
«Und Noah? Vielleicht hat ihn jemand am Bahnhof gesehen.»
«Er ist bestimmt niemandem aufgefallen. Außerdem war die Zeichnung nicht sehr genau, sie würde auf Hunderte von Sklaven passen.»
«Wir hätten lieber nicht durch Maryland fahren sollen.»
«Es gab nun einmal keine andere Möglichkeit.»
In diesem Moment ging ein Mann mit zwei Hunden direkt vor ihrem Fenster vorbei. Die Tiere schnüffelten und blieben laut bellend stehen.
«Hier ist irgendetwas», rief der Mann und versuchte, die Hunde zurückzuhalten, die sich wie wahnsinnig gebärdeten. «Schnell!»
Hortensia spürte Panik in sich aufsteigen. Erstarrt wagte sie nicht einmal zu zwinkern.
Jetzt kamen zwei andere Männer dazu und zielten mit Gewehren auf den Zug.
«Heraus mit dir!»
Noah rührte sich nicht.
«Was sollen wir tun?», fragte Hortensia und sank tiefer in den Sitz, als könnte sie ihren Bruder so besser beschützen.
«Nichts», befahl Charlotte, die vollkommen blass geworden war. «Bleib einfach sitzen!»
Von draußen hörte man wieder die bedrohliche Stimme. «Heraus, ich werde das nicht noch einmal sagen!»
Jetzt versuchte Hortensia aufzustehen, aber Charlotte hinderte sie daran. «Bist du verrückt geworden», schimpfte sie leise und hielt sie fest am Arm gepackt. «Was soll das werden?»
«Ich halte das nicht mehr aus. Wenn es sein muss, stelle ich mich», gestand Hortensia erschöpft.
In diesem Moment bellten die Hunde wieder. «Er flieht!», ertönte eine Stimme. Dann hörte man schnelle Schritte auf dem Kies neben den Gleisen. Die beiden Schwestern blickten aus dem Fenster und sahen einen Farbigen in Richtung Grenze rennen. Auf einmal hallte ein Schuss durch die Luft, und der Sklave brach zusammen.
«Ich habe ihn erwischt», sagte einer der Männer und ging zu dem leblos auf dem Boden ausgestreckten Körper. Mit dem Fuß drehte er ihn um.
«Hast du ihn erledigt?», rief ein anderer ihm zu, woraufhin der Mann nickte. «Er ist mausetot.»
Endlich setzte der Zug sich in Bewegung. Erstarrt beobachteten Hortensia und Charlotte, wie der Mann, der den Sklaven erschossen hatte, nun einen Fuß auf den Leichnam setzte und triumphierend grinste.
Erst lange nachdem sie die Grenze überquert hatten, verließ Noah sein Versteck. Selbst als der Zug in New York hielt, fühlten sie sich noch nicht sicher. Der leblose Körper des jungen Mannes neben den Gleisen rief ihnen ins Gedächtnis, was ihnen bevorstand, wenn man sie fangen und in den Süden zurückbringen würde. Es reichte nicht aus, die Grenze überquert zu haben. Die drei wussten, dass sie weiterhin vorsichtig sein mussten. Das Gesetz über entlaufene Sklaven, das die Nordstaaten dazu verpflichtete, die Flüchtlinge zu ihren Besitzern zurückzubringen, hing wie ein Damoklesschwert über ihnen. Die besten Chancen hatten sie in Massachusetts, dem einzigen Staat, der es gewagt hatte, den Süden herauszufordern und Gesetze zu erlassen, die den Vollzug des Gesetzes über entlaufene Sklaven verhinderten.
In der Hauptstadt Boston könnten sie ohne Angst ein neues Leben beginnen.