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Die Stadt Boston war praktisch dem Meer entrissen worden. Anfangs war nur eine kleine Halbinsel zwischen dem Atlantik und dem Charles River bewohnt. Als Mitte des Jahrhunderts der Deich von Mill Pond gebaut worden war, hatte man zusätzliche zwanzig Hektar gewonnen, und nach diesem ersten Sieg über das Meer folgten weitere: South Cove, Great Cove und West Cove. Und seit zwei Jahren bemühte sich die Stadt um das ehrgeizigste Projekt von allen. Man versuchte, die zweihundert Hektar Sumpf der Bostoner Back Bay trockenzulegen und die Mündung des Charles River zu verengen.

Ununterbrochen brachten Lastzüge dafür Kies und Erde von Neeham nach Boston. Hunderte von Männern verteilten in harter Arbeit das Füllmaterial. Ihre Arbeitstage dauerten in der Regel länger als zwölf Stunden.

Einer dieser Männer war Noah. Als seine Schicht zu Ende war, dämmerte es bereits. Es schneite, und der Nordwind schnitt ihm wie mit Messern ins Gesicht. Noah wickelte sich den Schal fest um den Kopf und schritt rasch voran. Es war ein ganzes Stück bis nach Hause.

Obwohl er im letzten Jahr alles versucht hatte, hatte Noah nichts Besseres gefunden als diese Knochenarbeit, bei der die Arbeiter bis zur Erschöpfung schuften mussten.

Wegen seiner Entscheidung, die Anstellung in der Back Bay anzunehmen, hatte es mehr als einmal Streit zwischen ihm und Charlotte gegeben. Sie hatten einen Teil des Schmucks verkauft, und mit dem Erlös hatten sie ein Haus kaufen können, und es blieb ihnen noch genügend Geld, um in bescheidenem Wohlstand zu leben. Deshalb war Charlotte der Ansicht, dass Noah den Rücken nicht für eine Handvoll Münzen krumm machen sollte. Aber Noah bestand darauf zu arbeiten.

Wenn seine Schwester wüsste, dass man ihm nur die Hälfte von dem zahlte, was seine weißen Kollegen bekamen, würde sie ihn zu Hause einsperren.

Während Noah über all die Ereignisse des letzten Jahres nachdachte, rollte plötzlich ein kleiner Ball an ihm vorbei auf die Straße.

Sein Besitzer, ein Junge von etwa sechs Jahren, riss sich von der Hand einer Frau in einer Dienstbotenuniform los und rannte seinem Spielzeug hinterher. Mitten auf der Straße blieb er stehen und bückte sich nach dem Ball.

Gleichzeitig kam mit hoher Geschwindigkeit eine Kutsche angefahren. Der Kutscher hatte das Kind zwar gesehen und sofort an den Zügeln gerissen, aber Noah war klar, dass das Gefährt wegen der dünnen Schneeschicht auf der Straße nicht rechtzeitig zum Stehen kommen und das Kind überrollen würde. Entsetzt schrie die Frau auf. Die Pferde wieherten schrill.

Ohne lang zu überlegen, warf Noah sich auf den Jungen, packte ihn und riss ihn mit sich zur Seite. Dicht neben sich hörte er die Hufschläge auf das Pflaster knallen. Als die Kutsche endlich zum Stillstand gekommen war, befand sich das Vorderrad weniger als eine Handbreit neben seinem Kopf.

Rasch sprang der Kutscher vom Bock hinunter. «Geht es ihm gut?»

Noah warf einen kurzen Blick auf das kleine Gesicht, das zwischen Schal und Mütze hervorguckte. Zwei weitaufgerissene blaue Augen sahen ihn erschrocken an.

«Ich denke nicht, dass er verletzt ist», beruhigte Noah den Mann, während er sich aufrichtete und den Jungen auf seine eigenen Füße stellte.

«Gott sei Dank!»

Mit einem erleichterten Seufzer stieg der Kutscher wieder auf sein Gefährt und fuhr weiter.

Noah lächelte dem Jungen zu.

«Du darfst nicht einfach so auf die Straße laufen. Das ist sehr gefährlich.»

Gerade wollte der Junge etwas sagen, als die Kinderfrau herbeistürmte, ihn packte und weinend umarmte.

«Mein Gott, Peter!», schrie sie und dankte dem Himmel, als sie sah, dass er unversehrt war. «Tu so etwas nie wieder, hörst du?»

Das Kind, das den Ball noch immer umklammert hielt, nickte wieder stumm.

«Versprich mir das!»

«Ich verspreche es, Miss Florence.»

Daraufhin nahm die Frau den Jungen bei der Hand und zog ihn mit sich fort, ohne Noah eines Blickes gewürdigt zu haben.

Als das Kind verschwunden war, wollte Noah sich nach seinem Schal bücken, der noch auf der Straße lag. Plötzlich durchzuckte ein starker Schmerz seinen Arm. Außerdem entdeckte er einen Blutfleck auf seinem Mantel.

***

«Was für eine Kälte», klagte Charlotte, als sie ins Haus trat. Schnell schloss Hortensia die Tür hinter ihr, damit es nicht hereinschneite. Dann übergab Charlotte ihr den Korb mit dem Gemüse, das sie gerade gekauft hatte, und rieb sich die Hände.

«Es ist schrecklich. Ich werde mich nie daran gewöhnen», beschwerte Charlotte sich wieder und klopfte sich den Schnee von den Stiefeln.

«Charlotte, was tust du da? Du machst alles dreckig! Du hättest den Schnee draußen abklopfen können.»

«Es ist doch nur Wasser. Außerdem wäre ich erfroren, wenn ich nur eine Sekunde länger in dieser Kälte geblieben wäre», sagte sie und hängte Mantel, Schal und Hut an die Garderobe. «Und Noah?», fragte sie.

«Er ist noch nicht hier. Anscheinend ist er heute etwas später dran», sagte Hortensia und ging in die Küche.

Charlotte folgte ihrer Schwester und setzte sich auf die Bank, während Hortensia das Gemüse auspackte.

«Ich verstehe nicht, warum Noah unbedingt arbeiten will.»

«Du weißt, dass er sich unwohl dabei fühlt, von unserem Geld zu leben», sagte Hortensia.

«Was für ein Unsinn. Tausend Mal habe ich ihm gesagt, dass das Geld uns allen dreien gehört.»

«Ich weiß, aber er sieht es nicht so.»

Hortensia hatte Kartoffeln und Tomaten ausgepackt und sah nur noch Möhren am Boden des Korbs liegen.

«Wo ist der Sellerie, Charlotte?»

«Der Sellerie? Der muss im Korb liegen.»

«Da ist er aber nicht», antwortete Hortensia.

«Ich habe ihn wohl vergessen.»

Ärgerlich verzog Hortensia das Gesicht. «Was für ein Zufall! Ich weiß ja, dass du keinen Sellerie magst, aber du könntest trotzdem mal welchen mitbringen.»

«Ich habe ihn wirklich vergessen. Das nächste Mal denke ich dran.»

Obwohl Charlotte zerknirscht guckte, konnte sie ihre Schwester nicht täuschen. Charlotte hatte keineswegs die Absicht, jemals Sellerie zu kaufen. Den würde Hortensia schon selbst holen müssen.

Kurze Zeit später brodelte die Suppe im Topf. Hortensia warf einen Blick in den Ofen, auch der Braten würde bald fertig sein. Dann ging sie ins Esszimmer, und Charlotte folgte ihr.

Liebevoll deckte Hortensia den Tisch, während ihre Schwester sie mit vor der Brust verschränkten Armen beobachtete. Zum Schluss holte Hortensia noch einen Krug mit Wasser aus der Küche.

«Trotz allem verstehe ich nicht, warum Noah arbeiten will», sinnierte Charlotte.

«Er möchte einfach sicher sein, dass er auch allein zurechtkommen würde.»

«Aber mit dem, was er verdient, kann er sich nicht einmal ein paar Möhren kaufen!»

Charlotte reichte ihrer Schwester den Brotkorb von der Anrichte. Hortensia stellte ihn in die Mitte des Tisches und nickte zufrieden. Alles war fertig.

«Ach, Charlotte, schließlich wird er zum ersten Mal in seinem Leben für seine Arbeit bezahlt. Er ist gewissermaßen sein eigener Herr.»

«Unsinn.» Charlotte schüttelte den Kopf und zupfte sich ein paar Krumen vom Brot ab. «Niemand will sich für ein paar lächerliche Münzen kaputtmachen. Ich würde das im Leben nicht tun. Ich sage ja auch gar nicht, dass er nicht arbeiten soll. Aber doch nicht als Lasttier. Er könnte sich eine Arbeit suchen, die seinen Fähigkeiten eher entspricht.»

«Und was sollte das sein?»

«Er könnte studieren.»

«Hast du vergessen, dass er es versucht hat? Weißt du nicht mehr, wie verzweifelt er war, als sein Antrag abgelehnt wurde?»

«Ich weiß, man hat ihn an der medizinischen Fakultät abgelehnt, aber Noah ist der geborene Arzt, Hortensia. Er sollte nicht so schnell aufgeben.»

«Auch wenn du dich noch so sehr bemühst, es einfach zu ignorieren, an Noahs Hautfarbe wird sich nichts ändern. Die Weißen lassen auch hier im Norden nicht zu, dass die Schwarzen ihre Mauern durchbrechen. Vielleicht gehen sie hier subtiler vor als in Virginia, aber das ist fast schlimmer. Sie lassen die Schwarzen in dem Glauben, dass ihnen alle Türen offen stehen und sie frei sind. Aber das ist nur Heuchelei. Die Schwarzen sind gut genug für schwere Arbeit oder als Dienstboten, aber nicht, um Ärzte oder Anwälte zu werden. Noah und ich haben das schon vor einiger Zeit begriffen, aber du scheinst es nicht sehen zu wollen.»

«Ich sehe es, Hortensia. Ich sehe es jeden Tag in Noahs Augen, wenn er mit gesenktem Kopf von der Arbeit nach Hause kommt. Ich sehe es jedes Mal, wenn unsere Nachbarin Mrs. Towers zu Besuch kommt und unseren Bruder schräg ansieht. Ich sehe es, wenn er an unserer Seite durch die Straßen geht. Er liest nicht einmal mehr. Seitdem seine Bewerbung für ein Medizinstudium abgelehnt wurde, hat er keins der medizinischen Bücher mehr angesehen. Es ist, als würde er langsam ersticken, Hortensia. Jeden Tag ein bisschen mehr. Und darum werde ich ihn weiter drängen. Ich werde nicht zulassen, dass Noah aufgibt, ohne überhaupt angefangen zu haben zu kämpfen.»

«Aber er weiß nicht, wie man kämpft.»

«Dann wird es Zeit, dass er es lernt!»

«Für dich ist das leicht, Charlotte. Unser Leben hat dir erlaubt, dich aufzulehnen. Aber für Noah war es anders. Er war immer ein Sklave, nie hat er einen eigenen Willen haben dürfen. Ihm wurde so oft gesagt, dass er nichts vom Leben erwarten soll, dass er es schließlich geglaubt hat. Du kannst die Seele der Menschen nicht verändern, Charlotte. Akzeptiere das endlich. Du kannst die Welt nicht verändern.»

«Vielleicht werde ich die Welt nicht verändern, Hortensia. Aber ich schwöre dir, dass ich Noahs Leben verändere.»

In diesem Moment kam Noah zur Tür herein. Man sah ihm an, dass er gefallen war. Seine Kleider waren schmutzig, und er hatte eine Wunde an der Stirn.

«Um Himmels willen», schrie Hortensia auf und lief ihm entgegen.

«Was ist passiert?», fragte Charlotte, während Hortensia ihm half, den Mantel auszuziehen.

«Vorsichtig», warnte Noah und verzog das Gesicht vor Schmerzen. «Ich glaube, ich habe mir die Schulter ausgerenkt.»

«Du siehst nicht gut aus. Ich gehe einen Arzt holen», sagte Charlotte und griff schon nach ihrem Mantel.

«Nein. Es ist nicht notwendig. Mir geht es wirklich gut. Ich muss nur die Wunde säubern und den Arm ruhig stellen.»

Charlotte zögerte.

«Wirklich, es ist alles in Ordnung. Ich bin ausgerutscht. Ich brauche keinen Arzt.»

«Meinetwegen», sagte Charlotte. «Wie du willst. Aber ich werde nicht glauben, dass du einfach nur ausgerutscht bist. Was brauchst du?»

Noah trat vor den Spiegel, der in der Diele an der Wand hing. Aufmerksam betrachtete er die Wunde. Es war kein tiefer Schnitt. Sein Gesicht und sein Mantel waren zwar voller Blut, aber die Wunde hatte schon aufgehört zu bluten und würde auch verheilen, ohne genäht zu werden.

«Bring mir etwas Wasser und Alkohol, Tücher, um die Wunde sauber zu machen, und ein Schultertuch.»

Charlotte brachte die Dinge, nach denen Noah verlangt hatte, ins Esszimmer, wo ihr Bruder inzwischen auf einem Stuhl Platz genommen hatte.

Während Hortensia seine Wunde säuberte und seine Blutflecken im Gesicht abwischte, band Charlotte mit dem Schultertuch den Arm unter Noahs Anweisung fest.

«Fertig», sagte sie, als sie den letzten Knoten gemacht hatte. Vorsichtig versuchte Noah, die Schulter zu bewegen, aber es gelang ihm nicht.

«Perfekt», sagte er zufrieden und stand auf.

«Und wirst du uns jetzt erzählen, was passiert ist?»

«Es ist nichts passiert.»

Charlotte runzelte die Stirn. Sie glaubte ihm kein Wort.

«Wollen wir zu Abend essen?», schlug Hortensia vor.

«Ja, bitte», sagte Charlotte und ließ ihren Bruder erst einmal in Ruhe. «Ich habe einen Mordshunger.»

«Du hast immer einen Mordshunger», antworteten Noah und Hortensia im Chor.

***

Nach einer Woche fühlte Noah sich kräftig genug, um zur Arbeit zurückzukehren. Wieder führte die Entscheidung zu einem heftigen Streit zwischen ihm und Charlotte. Nachdem er mit einem lauten Türenknallen das Haus verlassen hatte, schimpfte Charlotte noch eine halbe Stunde vor sich hin.

«Verdammter Dickkopf.» Sie setzte sich in einen Sessel und dachte eine Weile nach.

Plötzlich sprang sie auf und rief: «Gerade ist mir das perfekte Weihnachtsgeschenk für Noah eingefallen. Komm, Schwesterherz, wir haben viel zu tun.» Bei diesen Worten rannte sie in die Diele, um Hut und Mantel zu holen.

Bevor Hortensia etwas dazu sagen konnte, hatten sie schon eine Kutsche genommen und fuhren auf die andere Seite des Flusses nach Cambridge, wo sich die angesehene Harvard-Universität befand.

Es waren noch zwei Tage bis Weihnachten, und die meisten Studenten waren schon nach Hause gefahren. Nur diejenigen, deren Familien zu weit entfernt wohnten, als dass sich die Reise für die kurzen Weihnachtsferien gelohnt hätte, waren geblieben. Als Hortensia und Charlotte auf dem Campus standen und sich suchend umguckten, bot sich einer von ihnen zuvorkommend an, die beiden zum Büro des Dekans zu begleiten.

«Hier ist es.» Der Student blieb vor dem Eingang zu einem Gebäude stehen. «Gehen Sie nur das Treppchen hinauf, dann kommen Sie direkt zum Sekretariat.»

«Sie waren sehr freundlich, danke», sagte Charlotte.

«Es war mir eine Ehre, die Damen. Wenn Sie noch etwas brauchen, fragen Sie nach William Van der Hooke, Abschlussjahrgang Rechtswissenschaft», stellte er sich vor. Dabei sah er Hortensia so tief in die Augen, dass sie errötete.

«Vielen Dank, Mr. Van der Hooke», sagte Charlotte, amüsiert über die Kühnheit des jungen Mannes.

«Auf Wiedersehen», sagte auch Hortensia und wurde noch etwas röter.

Gleich darauf standen sie im Vorzimmer des Dekans.

«Guten Tag», grüßte Charlotte und trat auf den Sekretär zu, der sich über einen Haufen Papiere gebeugt hatte. Der Mann blickte Charlotte über den Rand der kleinen Metallbrille hinweg leicht verärgert an.

«Womit kann ich Ihnen dienen?», fragte er kurz angebunden.

«Wir möchten bitte mit dem Dekan sprechen.»

Sogleich nahm der Mann ein Büchlein zur Hand und schlug es auf.

«Ihr Name?»

«Hortensia und Charlotte Lacroix.»

«Lacroix …», wiederholte er, während er die Liste der Namen durchging, die er für diesen Tag notiert hatte. «Es tut mir leid, leider hat der Dekan heute keinen Termin mit Ihnen.»

«Ich verstehe», nickte Charlotte. «Aber könnten Sie ihn wenigstens darüber in Kenntnis setzen, dass wir ihn sehen möchten? Vielleicht kann er uns trotzdem empfangen.»

Ungehalten runzelte der Mann die Stirn.

«Ich bitte Sie», sagte sie mit ihrem Engelsgesicht. «Wir haben eine so lange Reise aus dem Süden gemacht und können nur ein paar Tage bleiben», sagte sie mit bedrückter Stimme, wobei sie ihren Südstaatenakzent besonders betonte.

«Nun, der Herr Dekan befindet sich gar nicht in seinem Büro.»

Hortensia, die bisher nicht gewagt hatte, den Mund aufzumachen, seufzte nun sichtlich erleichtert auf. Aber Charlotte gab sich wie immer nicht so leicht geschlagen.

«Wird er denn heute noch zurückkommen?», fragte sie.

Anstatt zu antworten, zuckte der Sekretär nur mit den Schultern. Offensichtlich wusste er es selbst nicht.

«Wir sollten besser gehen, Charlotte», schlug Hortensia vor und zog ihre Schwester am Arm.

Einen Moment lang war Charlotte unschlüssig. Sie hatte nicht in Betracht gezogen, dass der Dekan gar nicht anwesend sein könnte.

«Können wir auf ihn warten?»

«Wenn Sie wünschen», antwortete der Sekretär kühl. «Aber ich kann Ihnen nicht sagen, ob er wiederkommt.»

«Wir werden warten», verkündete Charlotte und setzte sich auf die Bank neben der Tür des Büros.

Zwei Stunden später, gegen Mittag, trat ein etwa sechzigjähriger Mann in einem eleganten dunklen Mantel ins Vorzimmer. Der Sekretär flüsterte ihm etwas zu und deutete auf die beiden jungen Frauen.

Der Herr drehte sich zu ihnen um. «Ich wünsche den Damen einen guten Tag. Ich höre, Sie möchten mich sprechen?»

Lächelnd stand Charlotte auf und stellte sich und ihre Schwester vor. Dann ergänzte sie: «Es wäre sehr freundlich, wenn wir Ihnen eine Minute Ihrer Zeit stehlen dürften. Es ist sehr wichtig.»

«Treten Sie doch bitte ein», sagte er mit ruhiger Stimme und hielt ihnen die Tür zu seinem Büro auf.

Er betrat nach ihnen den Raum und hängte Mantel und Hut an eine Garderobe. Nachdem er ihnen die beiden Stühle vor dem Schreibtisch angeboten hatte, nahm er selbst seinen Platz ein.

Es war unmöglich zu erraten, was im Kopf des Dekans vorging. Breite Koteletten gingen in einen dichten, ergrauten Oberlippenbart über. Nur sein Kinn war sorgfältig rasiert. Er nickte ihnen auffordernd zu. «Womit kann ich Ihnen dienen?»

«Zuerst einmal möchten wir Ihnen von Herzen danken, dass Sie uns empfangen», begann Charlotte. Jedes ihrer Worte war mit Bedacht gewählt. «Ich bin mir vollauf bewusst, dass Sie ein vielbeschäftigter Mann sind, und ich verspreche Ihnen, dass wir uns kurz fassen. Vor ein paar Monaten haben Sie die Bewerbung eines fähigen jungen Mannes abgelehnt», sprach sie weiter.

Auch wenn im Gesichtsausdruck des Dekans nicht die geringste Veränderung zu sehen war, merkte man doch an der Art, wie er seine Manschetten glatt strich, dass er sich zu wappnen schien.

«Es handelt sich um einen intelligenten und fleißigen jungen Mann», erklärte Charlotte, «und ich kann Ihnen versichern, dass er großes Talent für den Arztberuf hat. Wenn Sie vielleicht noch einmal über eine Aufnahme nachdenken könnten.»

«Ich verstehe, junge Dame», nickte der Dekan gnädig. «Leider fürchte ich, dass ich nichts unternehmen kann. Wenn der Antrag abgelehnt wurde, dann muss der junge Mann es im nächsten Jahr noch einmal versuchen.»

«Aber das wird nicht reichen», gab Charlotte etwas schärfer zurück. «Es ist egal, wie oft er es versucht oder wie begabt er ist. Sein Problem wird immer das gleiche sein.»

Die Leidenschaft in diesen Worten überraschte den Dekan. Fragend sah er Charlotte an.

«Es tut mir leid», sagte Charlotte und stand auf. «Ich habe gedacht, wenn wir mit Ihnen sprechen … Ich dachte, Sie sind ein gerechter Mann und dass man an diesem Ort nach der Wahrheit strebt. Aber ich habe mich wohl geirrt. Langsam begreife ich, dass die schönen Worte über die Gleichheit der Menschen nicht viel bedeuten. Ich dachte, hier wären die Dinge anders. Aber es ist wohl nicht besser als im Süden. Hortensia, wir gehen.»

Hortensia, der dieses ganze Gespräch unangenehm war, sprang schnell auf und lief ihrer Schwester nach.

Auch der Dekan erhob sich.

«Warten Sie», sagte er, «wie war der Name des jungen Mannes noch gleich?»

«Noah. Noah Lacroix.»

Er sah sie an.

«Er ist unser Bruder», erklärte Charlotte stolz.

Stumm forderte der Dekan die beiden auf, sich wieder zu setzen. Dann öffnete er die Tür seines Büros und rief dem Sekretär zu, dass er ihm die Akte eines gewissen Noah Lacroix bringen solle. Kurz danach reichte der Angestellte die Papiere herein.

Der Dekan holte das einzige Blatt heraus, das sich in der Akte befand, und murmelte: «Männlich, Virginia, zweiundzwanzig Jahre …» Er benötigte ein paar Minuten und legte den Antrag dann auf den Tisch.

«Es tut mir wirklich leid, aber leider ist der Antrag vollkommen zu Recht abgelehnt worden.»

«Ich verstehe, also ist seine Hautfarbe das Problem.»

Erstaunt blickte der Dekan auf.

«Wie kommen Sie darauf?»

«Ist es denn etwa nicht so?», gab Charlotte zurück.

Der Dekan wirkte immer überraschter.

«Um Himmels willen!», rief er aus. «Die Hautfarbe des Mannes ist mir gar nicht bekannt. Ich dachte, es handelt sich um Ihren Bruder.»

«So ist es auch, er ist unser Halbbruder. Seine Mutter war eine Sklavin.»

Charlottes Geständnis schien den Dekan nicht zu beeindrucken.

«Miss Lacroix, Sie sollten wissen, dass wir stolz darauf sind, an unserem Institut nicht nur Weiße auszubilden», erklärte er, ein wenig in seiner Ehre gekränkt. «Mehrere schwarze Männer haben hier bereits ihren Abschluss erlangt.»

«Aber», sagte Charlotte verwirrt, «warum haben Sie Noahs Bewerbung dann abgelehnt?»

«Weil er keinerlei Ausbildung nachweisen kann. Wenn man seiner Bewerbung Glauben schenken darf, hat er nicht einmal eine Schule besucht. Es gibt keine Empfehlungsschreiben, gar nichts …»

Doch Charlotte gab sich noch nicht geschlagen. «Ich bitte Sie um Entschuldigung dafür, dass ich Sie falsch beurteilt habe. Ich möchte keinesfalls, dass Sie etwas Unrechtmäßiges tun. Sie sollen ihm nur eine Chance geben. Lassen Sie mich Ihnen aus dem Leben unseres Bruders erzählen.» Einen Moment hielt Charlotte inne und beobachtete den Dekan, der zwar noch immer ein wenig verärgert schien, in dessen Augen man aber einen Funken Neugierde entdecken konnte.

«Unser Bruder ist als Sklave geboren. Im Süden bedeutet das, keine Rechte zu haben. Es bedeutet, nicht selbst über sein Schicksal bestimmen zu können. Es bedeutet, auf Hoffnungen, Träume und Wünsche verzichten zu müssen. Weil man nichts ist. Weil man nur so viel wert ist wie irgendein Tier auf der Plantage.» Charlotte sah ihr Gegenüber fest an. «Sie wissen sicher, dass es im Süden gesetzlich verboten ist, dass Sklaven lesen und schreiben lernen. Wenn man einen Sklaven trotzdem dabei erwischt, wartet eine harte Strafe auf ihn. Er wird vor den Augen aller Sklaven der Plantage an einen Baum gebunden und ausgepeitscht, bis die Haut seines Rückens sich in Fetzen ablöst. Manchmal sind die Schnitte so tief, dass sie bis zum Knochen gehen. So ist Noah aufgewachsen, Sir. Er wusste, dass Bildung für Sklaven sehr gefährlich ist. In dieser schrecklichen Situation hat unsere Mutter aus Mitleid mit dem unehelichen Sohn ihres Mannes das Gesetz gebrochen und ihm das Lesen beigebracht. Lange Jahre hat sie das heimlich getan, und als sie ihm alles beigebracht hatte, was sie selbst wusste, hat sie ihm Bücher geschenkt, die er nur so verschlungen hat. Denken Sie daran, dass sein Leben jedes Mal in Gefahr war, wenn er ein paar Zeilen las oder seinen Namen schrieb. Aber das war ihm egal. Denn wenn er Descartes, Platon oder einen anderen Philosophen las, dann eröffneten sich ihm ungeahnte Welten. Wenn er sich in diese Bücher vertiefte, konnte sein Geist die Fesseln der Sklaverei hinter sich lassen, und er fühlte sich als freier Mensch. Und deshalb bitte ich Sie darum, ihm eine Chance zu geben. Eine Chance für einen Menschen, der sein Leben für seine Bildung riskiert hat.»

Als Charlotte fertig gesprochen hatte, glänzten ihre Augen. Selbst Hortensia war bewegt, und wenn sie nicht gewusst hätte, dass Charlotte die Geschichte ein wenig übertrieben erzählt hatte, wäre sie in Tränen ausgebrochen.

Der Dekan sah die beiden eine Weile lang nachdenklich an.

«Nun, es gibt da eine Möglichkeit, die nur in ganz besonderen Fällen Anwendung findet», sagte er schließlich. «Aber ich denke, dass der junge Mann diese Chance verdient. Wegen seiner eigenen Bemühungen und auch wegen des Risikos, das Ihre Mutter eingegangen ist. Im Juni kann Noah Lacroix eine Eingangsprüfung absolvieren. Eine Kommission wird ihn in den verschiedenen Fächern prüfen, die für das Medizinstudium notwendig sind. Wenn er diese Prüfung besteht, wird er im nächsten Jahr anfangen können.»

Charlotte sprang auf und umarmte Hortensia.

«Danke», sagte sie immer wieder und schüttelte die Hand des Dekans. «Ich versichere Ihnen, Sie werden es nicht bereuen.»

***

An Heiligabend standen Charlotte und Hortensia früh auf und fuhren noch einmal nach Cambridge. Bisher hatten sie Noah gegenüber ihren Besuch beim Dekan nicht erwähnt. Sie wollten ihm erst am Abend davon erzählen, es war ihr gemeinsames Weihnachtsgeschenk.

Mit der Liste der Bücher, die dem Dekan zufolge unabdingbar waren, liefen die Schwestern durch alle Buchhandlungen in Universitätsnähe. Sie suchten in verstaubten Regalen, stöberten in Hinterzimmern und wühlten in Körben voller Bücher aus zweiter Hand. Gegen Mittag konnten sie den letzten Titel von der Liste streichen. Danach wollte Charlotte unbedingt eine schöne grüne Schachtel kaufen, die zu finden sie fast noch mehr Mühe kostete. Aber aus einem Grund, den Hortensia nicht ganz verstand, musste es eine ganz bestimmte Schachtel sein, und so rannten sie durch alle Läden der Stadt, bis sie eine gefunden hatten, mit der Charlotte zufrieden war. Endlich kehrten sie nach Hause zurück, legten die fünf Bände in die Schachtel und versteckten sie bis zum Abendessen.

Als Charlotte und Hortensia ihrem Bruder beim Nachtisch die Schachtel übergaben, war Noah sprachlos, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Auch Charlotte war irgendwie bewegt, nur Hortensia verstand rein gar nichts.

«Du bist es also gewesen», sagte Noah zu Charlotte gewandt und strich über die Schachtel.

Charlotte senkte den Kopf.

«Verzeih mir», sagte sie. «Ich weiß, diese ist anders als die, die ich kaputt gemacht habe, aber ich hoffe, sie gefällt dir trotzdem. Außerdem ist sie eigentlich viel hübscher, und es ist auch noch etwas darin.» Jetzt blickte Charlotte Noah an, und er lächelte ihr zu.

Als er den Deckel abnahm, ergriff er das erste Buch und las den Titel. «Latein. Grammatik und Übungen. Hört sich interessant an», sagte er zweifelnd. Dann sah er, dass auch alle anderen Bücher nicht viel unterhaltsamer wirkten.

Charlotte und Hortensia sahen sich an und kicherten. Sie wirkten so glücklich, also gab er sich Mühe, so zu tun, als würde er sich freuen. Leider war er alles andere als ein guter Schauspieler.

«Freust du dich?», fragte Hortensia aufgeregt.

«Es ist ein wundervolles Geschenk.»

«Du ahnst nicht, wie schwierig es war, diese Bücher zu bekommen», fuhr Hortensia fort. «Wir mussten alle Buchhandlungen in Cambridge durchwühlen, Noah. Das Mathematikbuch hat Charlotte einem jungen Mann geradezu aus der Hand gerissen.»

«Ihr hättet euch nicht solche Mühe machen sollen.»

«Aber natürlich mussten wir das!», rief Charlotte aus. «Wie willst du dich sonst auf die Prüfung vorbereiten?», fügte sie mit einem arglistigen Funkeln ihrer grünen Augen hinzu.

«Was für eine Prüfung?»

Nachdem sie Charlotte einen kurzen Blick zugeworfen hatte, platzte Hortensia mit dem Geheimnis heraus: «Die Prüfung, die du ablegen musst, um an der medizinischen Fakultät aufgenommen zu werden!» Sie ließ einen kleinen Freudenschrei hören.

«Wie?»

«Genau so ist es!», bekräftigte Charlotte.

«Aber das kann nicht sein», sagte Noah.

Hortensia nickte.

«Ich verstehe nicht. Ich dachte …»

«Wir haben das auch gedacht! Aber wir haben uns wohl geirrt», erklärte Charlotte. «Anscheinend ist es ihnen vollkommen egal, dass du ein bisschen brauner bist als die meisten ihrer blassen Studenten. Sie nehmen nur keine Dummköpfe an der besten amerikanischen Universität an. Also musst du erst eine Prüfung ablegen.»

Schweigend versuchte Noah, diese Neuigkeit zu verarbeiten.

«Dafür sind die Bücher, Noah», erklärte Hortensia. «Der Dekan hat gemeint, dass du die Prüfung problemlos bestehen kannst, wenn du lernst, was in diesen Büchern steht.»

«Ich …», stotterte Noah, während ihm die Tränen in die Augen schossen. «Danke!», sagte er und drückte sich die Bücher an die Brust.

An diesem Heiligabend gingen sie erst im Morgengrauen schlafen. Die ganze Nacht lang redeten sie, sangen Weihnachtslieder, lachten und weinten. Schon lange waren sie nicht mehr so glücklich gewesen.

Am nächsten Tag kündigte Noah seine Stelle. Charlotte war mehr als zufrieden. Schließlich hatte sie ihren Kopf durchgesetzt.

Fesseln des Schicksals
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