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Eine kurze Nachricht im Wirtschaftsteil der Zeitung verkündete, dass man die Klage gegen Raymond O’Flanagan & Co. zurückgezogen hatte. Vielleicht wäre die Meldung etwas ausführlicher ausgefallen, wäre der Hauptaktionär der Fabrik, in der sich der Unfall ereignet hatte, nicht gleichzeitig auch der Besitzer der Zeitung gewesen.

Nach dem Dinner bei den O’Flanagans hatte Charlotte Erkundigungen über den Fall eingezogen. So hatte sie von dem Brand erfahren und auch, dass seither niemand die Familie gesehen hatte. Einige Stimmen behaupteten, jemand habe die Familie verschwinden lassen, aber Charlotte glaubte eher an die zweite Hypothese, die besagte, dass sie nach Erhalt einer beträchtlichen Entschädigung in den Westen gezogen war.

Dann schlug sie den Gesellschaftsteil der Zeitung auf. Das am häufigsten kommentierte Ereignis war der Neujahrsempfang im Haus des Gouverneurs. Der Bericht darüber füllte eine ganze Seite. Nur die einflussreichsten Persönlichkeiten des Staates waren eingeladen worden, und Brian, Beatriz und Raymond O’Flanagan tauchten ganz oben auf der Gästeliste auf. Scott dagegen wurde nicht erwähnt. Charlotte stellte sich den Empfang vor, den Luxus, die schönen Kleider und schließlich auch, wie sie selbst in ihrem hübschen neuen Kleid durch die Räume der Gouverneursresidenz spazierte. Sie war vollkommen in ihrer Vision versunken, als es an der Tür klopfte.

«Hortensia! Es ist jemand an der Tür!», rief Charlotte.

Aber Hortensia rührte sich nicht.

«Hortensia!», rief sie wieder, als es schon zum zweiten Mal klopfte. «Verdammt», sagte sie, ließ die Zeitung fallen und nahm die Füße vom Tisch. «Sind denn alle taub?»

Bevor sie die Tür öffnete, setzte Charlotte ein höfliches Lächeln auf.

«Guten Tag», sagte Scott und trat einfach ein, ohne dass sie ihn darum gebeten hätte.

«Was tun Sie denn hier?»

«Anscheinend arbeitet das Schicksal schnell», gab er mit ironischem Unterton zurück. «Wollen Sie mir denn nicht guten Tag sagen?»

«Keineswegs», sagte Charlotte, die immer noch die Türklinke in der Hand hielt.

In diesem Moment erschien Hortensia. Sie hatte in der Küche gearbeitet und trug noch eine Schürze.

«Guten Tag, Miss Hortensia.»

«Guten Tag, Mr. O’Flanagan», grüßte Hortensia, die überhaupt nicht überrascht wirkte. «Entschuldigen Sie meinen Aufzug, aber wir haben Sie so früh nicht erwartet.»

«Das tut mir leid», sagte er. «Ich bin früher fertig geworden und dachte, es wäre nicht schlecht, so früh wie möglich anzufangen.»

Misstrauisch verfolgte Charlotte das Gespräch. Offensichtlich hatte Hortensia gewusst, dass Scott O’Flanagan an diesem Nachmittag kommen würde. Warum hatte sie ihr nichts davon gesagt?

«Ich hoffe, ich störe nicht?»

«Aber nein», beruhigte ihn Hortensia. «Noah ist in seinem Zimmer. Ich sage ihm gleich Bescheid. Treten Sie doch erst einmal ein.» Hortensia geleitete ihren Gast in den kleinen Salon. Dann hob sie die Zeitung vom Boden auf und legte sie auf das Tischchen.

Neugierig sah Scott sich im Raum um, und sobald er ihnen für einen Moment den Rücken zugekehrt hatte, warf Charlotte ihrer Schwester wütende Blicke zu.

«Sie haben ein sehr gemütliches Heim», sagte er plötzlich und drehte sich wieder zu den Schwestern um. Charlotte setzte sofort ein etwas verkrampftes Lächeln auf.

«Ich hole Noah», sagte Hortensia. «Meine Schwester wird Ihnen so lange Gesellschaft leisten.» Sie deutete auf das Sofa.

«Schöne Feier», sagte Scott, als er die Überschrift des Gesellschaftsteils sah, während Charlotte so weit von ihm wegrückte, wie es irgend ging.

«Sie waren ja offensichtlich nicht eingeladen.»

«Nein. Aber ich mag solche Veranstaltungen auch nicht besonders.»

«Ach ja?»

«Sie glauben mir nicht?», fragte er und sah sie fest an.

«Ich muss Ihnen wohl nicht antworten», gab Charlotte zurück und mied den beunruhigenden Blick seiner dunklen Augen. «Und wenn es Ihnen nichts ausmacht, wüsste ich jetzt gern, was Sie in meinem Haus zu suchen haben.»

Scott lehnte sich bequem im Sofa zurück.

«Ich würde Ihnen gern sagen, dass ich gekommen bin, um Sie zu sehen, aber das wäre wohl eine Lüge.»

Charlotte runzelte die Stirn.

«Ich möchte Noah besuchen.»

«Noah?»

Scott nickte.

«Was haben Sie mit meinem Bruder zu schaffen?»

«Er hat sich angeboten, mir bei den Vorbereitungen für die Aufnahmeprüfung zu helfen. Und ich habe das Angebot angenommen», beantwortete Noah ihre Frage, als er in den Salon trat.

Sofort sprang Scott auf und ging auf ihn zu. Herzlich schüttelten die beiden Männer sich die Hände.

«Ich kann Hilfe gebrauchen. Vor allem in Mathematik», erklärte Noah zu Charlotte gewandt.

«Aber Sie sind doch Anwalt.»

«Sicher», sagte Scott. «Aber Sie sollten wissen, dass ich beinahe an der Marineakademie meinen Abschluss gemacht hätte. Die dortige mathematische Ausbildung hat einen ausgezeichneten Ruf.»

«Nun, ich habe gehört, dass man Sie dort hinausgeworfen hat.»

«Charlotte!», rief Hortensia sie zur Ordnung, die im selben Moment ohne Schürze und mit zurechtgemachtem Haar wieder hereingekommen war.

«Bitte verzeihen Sie», sagte Noah entschuldigend.

«Kein Problem», lächelte Scott.

Die beiden Männer zogen sich zurück, und Scott nickte den Schwestern noch einmal zu, bevor er Noah die Treppen hinauf folgte.

«Warum hast du mir nicht gesagt, dass er kommt?», schimpfte Charlotte, als die beiden im ersten Stock verschwunden waren.

«Ich wollte ja.»

«Wann? Nachdem er wieder gegangen ist?»

«Es ist doch nicht so wichtig», verteidigte sich Hortensia. «Es ist sehr großzügig von ihm, dass er Noah hilft. Und du warst wirklich sehr grob!»

«Ich? Grob?», schnaubte Charlotte. «Er ist grob! Und ich kann mir nicht vorstellen, dass er Noah helfen kann. So schlau kann er ja nicht sein, wenn sie ihn sogar rausgeworfen haben.»

«Ich denke, du irrst dich, Charlotte. Ursula hat mir erzählt, dass er schon in Harvard war, bevor er auf die Marineakademie ging. Und seine ersten Prüfungen waren wirklich brillant.»

«Was soll sie schon sagen. Sie ist seine Cousine. Und wie sie ihn ansieht. Die Arme ist ja vollkommen in ihn verschossen.»

«Und warum auch nicht. Er ist ein gutaussehender junger Mann.»

«Hortensia! Bist du verrückt geworden?»

«Denk, was du willst, Charlotte. Aber solange er Noah hilft, wirst du dich ihm gegenüber korrekt benehmen. Schließlich steht viel auf dem Spiel.»

«Meinetwegen», gab Charlotte nach. «Aber ich werde nicht mit ihm reden.»

***

Fast zwei Stunden verbrachten die beiden Männer in Noahs Zimmer. Noah lernte schnell, aber obwohl seine Kenntnisse in anderen Fächern erstaunlich waren, hatte er in Mathematik nur Basiswissen. Aufmerksam lauschte er Scotts Erklärungen. Er absorbierte jedes Wort und konnte fast so schnell rechnen wie Scott selbst. Sobald Scott ihm eine Aufgabe erklärt hatte, konnte Noah sie ohne langes Überlegen fehlerlos lösen. Scott war beeindruckt. Um Punkt sechs Uhr beschlossen sie, aufzuhören und erst am nächsten Tag weiterzumachen.

«Vielen Dank», sagte Noah, als er ihn zur Tür brachte.

«Es war mir ein Vergnügen.»

Auch Hortensia war aufgestanden, um Scott zu verabschieden. Nur Charlotte war auf ihrem Sessel im Salon sitzen geblieben, von wo sie, hinter der aufgeschlagenen Zeitung versteckt, alles beobachten konnte.

«Ich hoffe, ich bin nicht zu lange geblieben. Es macht wirklich Freude, Noah zu unterrichten.»

«Er war immer schon sehr klug», sagte Hortensia stolz, und zögernd fügte sie hinzu: «Mr. O’Flanagan, vielleicht hätten Sie Lust, mit uns zu Abend zu essen.»

Er überlegte einen Moment. Die Vorstellung war verlockend, vor allem, weil zu Hause nur ein Stück hartes Brot und eine Gemüsesuppe auf ihn warteten.

Für Charlotte kam die unerwartete Einladung genauso überraschend. Mit offenem Mund ließ sie die Zeitung sinken. Doch es war zu spät.

Zwar stand Scott mit dem Rücken zu Charlotte, aber irgendwie konnte er ahnen, dass sie protestierte. Er grinste.

«Ich nehme gern an», sagte er. «Und bitte nennen Sie mich Scott.»


Als sie sich zu Tisch setzten, warf Charlotte einen schrägen Blick auf Scotts Hände. Wieder hatte er die Handschuhe anbehalten.

«Ich möchte meine Tradition, den guten Sitten zuwiderzuhandeln, gern beibehalten», sagte er, ohne die geringsten Anstalten zu machen, die Handschuhe auszuziehen.

Charlotte verzog überheblich das Gesicht. Allerdings weckte diese sonderbare Angewohnheit, seine Hände nicht zu entblößen, langsam ihre Neugierde. Fast kamen Zweifel in ihr auf, ob Scott unter dem schwarzen abgetragenen Leder überhaupt Hände hatte.

Das Tischgespräch fand ohne Charlotte statt. Sie schwieg beharrlich, und wenn Hortensia sich an sie wandte und versuchte, sie in die Konversation mit einzubeziehen, gab sie scharfe und einsilbige Antworten.

Obwohl Scott wusste, dass Charlotte sich nur wegen ihm so verhielt, schien es ihm nicht viel auszumachen. Er war sogar ungewöhnlich höflich und schaffte es sogar, Noah das eine oder andere Lächeln zu entlocken.

«Es war der schönste Abend, den ich seit langem verbracht habe», lobte Scott, als er schließlich gehen musste. «Alles war wunderbar. Sie sind eine großartige Köchin.»

«Danke, Scott», sagte Hortensia lächelnd. Sie hatte sich schnell an den vertrauten Umgangston gewöhnt.

Schweigend stand Charlotte auf und brachte ihren Teller in die Küche, um sich nicht verabschieden zu müssen.

«Es tut mir leid», entschuldigte Hortensia sich für das Verhalten ihrer Schwester. «Sie kann wirklich stur sein.»

«Machen Sie sich keine Gedanken darüber, Hortensia.»

«Ich begleite Sie hinaus, Mr. O’Flanagan», sagte Noah, dem es deutlich schwerer fiel, die förmliche Anrede wegzulassen.

Erst als Charlotte die Tür ins Schloss fallen hörte, kam sie wieder aus der Küche. «Ich dachte schon, er würde nie gehen!», brach es wütend aus ihr heraus.

Sie ließ sich auf ihren Stuhl fallen, stützte die Ellenbogen auf und legte ihr Kinn in die Hände. «So ein Grobian!», sagte sie und schüttelte den Kopf, während Noah mit einem Stapel Teller in der Küche verschwand.

Als er in den Salon zurückkam, stand nur noch der Wasserkrug auf dem Tisch. «Ich kümmere mich um den Rest», sagte Hortensia. «Du kannst ruhig schon schlafen gehen.»

«Aber wir müssen noch abwaschen, Hortensia …»

«Mach dir keine Sorgen. Charlotte wäscht heute ab.»

Sobald Noah in sein Zimmer gegangen war, stand Charlotte auf. «Ich will nicht, dass du diesen Menschen noch einmal einlädst.»

Hortensia sah ihre Schwester direkt an. «Nun, Charlotte, ich fürchte, dass wir uns ausnahmsweise einmal nicht nach deinen Wünschen richten können», sagte sie ruhig. «Ich werde Scott auch morgen zum Abendessen einladen.»

«Das wirst du nicht!», protestierte Charlotte.

«Es reicht, Charlotte!», brach es aus Hortensia heraus, und sie schlug mit der Hand auf den Tisch. «Es kann nicht immer nur darum gehen, was du willst oder nicht willst. Du warst wirklich sehr unhöflich heute.»

«Ich?», protestierte sie und legte sich empört die Hände aufs Herz. «Er zieht sich ja nicht einmal die Handschuhe zum Essen aus.»

«Vergiss nicht, dass er Noah hilft. Schon aus Respekt vor deinem Bruder solltest du dich etwas zusammennehmen. Außerdem hat seine Cousine Ursula mir erzählt, dass er kaum Geld verdient. Wenn seine Mutter sich nicht persönlich darum kümmern würde, ihm etwas zu schicken, hätte er nicht einmal etwas Richtiges zu essen.»

«Immer diese Ursula! Wenn er kein Geld verdient, dann weil er nicht will.»

«Wie du meinst, Charlotte. Aber du wirst morgen trotzdem nett zu ihm sein.»

«Meinetwegen», gab Charlotte nach und zog die Nase kraus. «Und jetzt gehe ich schlafen.»

Hortensia sah Charlotte nach, die die Treppen hinaufstieg. Dann ging sie in die Küche und betrachtete seufzend den Stapel Teller, den sie jetzt wohl doch allein abwaschen musste.

***

Am nächsten Abend kamen Noah und Scott um Punkt sechs Uhr ins Esszimmer hinunter.

Charlotte wollte nicht mit ihrer Schwester streiten, aber vor allem hätte sie es ohnehin kaum ausgehalten, einen zweiten Abend zu schweigen, und schon gar nicht, da sich die Unterhaltung um gesellschaftlichen Klatsch drehte. Scott unterrichtete sie über den letzten Skandal, der die gute Bostoner Gesellschaft erschüttert hatte. Ein junger Erbe war mit einem Dienstmädchen davongelaufen.

«Unglaublich», rief Hortensia, nachdem sie die ganze Geschichte gehört hatten.

«So ist es. Und umso mehr, da seine Eltern ihn enterbt haben», fügte Scott hinzu.

«Er muss sie sehr lieben», seufzte Hortensia.

«Unsinn», sagte Charlotte. «Ich möchte vielmehr wissen, wie lange die Liebe anhält, wenn sie weiterhin kein Geld haben.»

«Wie kannst du nur so gefühllos sein?»

«Ich bin nicht gefühllos, Hortensia. So ist das eben.»

«Sie würden also nur einen reichen Mann heiraten?», fragte Scott interessiert.

«Davon können Sie ausgehen.»

«Charlotte!»

«Ihr wolltet doch die Wahrheit hören. Nun, das ist die Wahrheit. Wenn eine Frau schon heiraten muss, dann wenigstens einen reichen Mann. Liebe existiert nicht. Meinst du nicht, Noah?»

«Ich weiß nicht. Ich war noch nie verliebt.»

«Da seht ihr.»

«Aber das heißt nicht, dass ich nicht an die Liebe glaube», erklärte Noah. «Ich denke, dass die Unterschiede vielleicht manchmal zu groß sind. Es gibt Verbindungen, die nicht halten können.»

«Ich bin nicht dieser Meinung», widersprach Scott. «Ich glaube, die Liebe kann alles überwinden.»

«Ich fürchte, Sie sind ein Romantiker, Scott», sagte Hortensia. «Ich könnte das nicht. Ich glaube, mir würde der Mut für eine solche Verbindung fehlen.»

Es war erstaunlich, wie leicht es Hortensia fiel, so offen mit Scott zu sprechen. Eigentlich war sie viel zu schüchtern, ihre Meinung zu einem solchen Thema zu äußern, noch dazu vor einem Mann, der nicht zur Familie gehörte.

«Wie schade, liebe Hortensia. Und Sie, Charlotte?»

«Ich?»

«Ja, Sie», drängte Scott und sah ihr tief in die Augen.

«Ich würde so etwas nie tun», behauptete sie, spürte aber gleichzeitig, wie ihr Herz etwas ganz anderes sagte. Selbst wenn Richard der ärmste Mann der Welt gewesen wäre, hätte sie alles für ihn getan.

«Gewiss», sagte Scott, ohne den Blick von ihr zu wenden. «Ich habe vergessen, dass die Liebe nicht für Sie existiert.»

«Genau», antwortete Charlotte im Brustton der Überzeugung.

«Dann waren Sie also nie verliebt?»

«Nein», sagte sie ernst, konnte aber nicht vermeiden, dass ihre Stimme bei der Erinnerung an Richard einen bitteren Unterton erhielt.

«Wie schade», gab Scott zurück und verstummte. Einen Moment lang war die Trauer in Charlottes Augen unübersehbar, und Hortensia sah sie besorgt an.

Dann lächelte Scott. «Nun, ich habe mich schon oft verliebt», gestand er.

«Oft?», fragte Hortensia neugierig.

«Hunderte von Malen!», rief er lächelnd aus. «Und immer in schöne und reiche Frauen!»

Noah und Hortensia lachten.

«Sie sind wirklich ein Romantiker», beschloss Hortensia.

«Die Romantik ist die Hoffnung der Armen», sagte Scott mit einem Augenzwinkern.

Als sie sich diesmal verabschieden mussten, kam auch Charlotte mit an die Tür. Auch wenn sie es nie zugegeben hätte, hatte sie sich sehr wohl gefühlt.

Der gleiche Ablauf wiederholte sich an den nächsten Tagen. Montags bis samstags kam Scott pünktlich um vier Uhr, um Noah zu unterrichten, und danach blieb er immer zum Abendessen. Schon bald war er fast ein weiteres Familienmitglied geworden.

Fesseln des Schicksals
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