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Genau wie das erste Mal, als er auf New Fortune zum Unterricht gegangen war, stand Noah vor dem Morgengrauen auf. Er frühstückte, nahm seine Mappe und verließ das Haus. Er hätte er eine Kutsche bis zur North Grove Street nehmen können, aber er zog es vor zu laufen. Er ging gern zu Fuß, und der lange Spaziergang und die frische Luft würden seine Nerven etwas beruhigen.

Nachdem er das State House hinter sich gelassen hatte, das mit seiner kupfernen Kuppel über die Stadt herrschte, begab er sich zum Massachusetts General Hospital. Die meisten Fakultäten hatten ihren Sitz im benachbarten Cambridge, aber der Unterricht in Medizin fand in einem Gebäude in Boston statt, neben dem von Bulfinch gebauten Krankenhaus.

Trotz des langen Weges war Noah zu früh dran. Er suchte seinen Hörsaal und setzte sich noch ganz allein im Raum diskret an das hinterste Pult.

Nach ein paar Minuten kamen die ersten Studenten, und nach und nach füllten sich dann die anderen Plätze. Jeder, der hineinkam, sah Noah an. Einige beachteten ihn einfach nicht weiter, aber andere zeigten ihren Unmut mit einem Kopfschütteln oder einer abwertenden Bemerkung. Noah regte sich nicht auf. Obwohl er insgeheim davon geträumt hatte, dass die Dinge sich nun verändern würden, wusste er doch, dass dem nicht so war. Als schließlich nur noch die Plätze neben Noah frei waren, kam ein junger Mann mit wichtigem Gehabe auf ihn zu und befahl ihm mit einer Handbewegung, den Platz frei zu machen.

«Verdammter Faulpelz!», schimpfte er. «Zurück an deine Arbeit!»

Noah rührte sich nicht.

«Hast du mich nicht gehört?»

Die Studenten, die in der Nähe saßen, drehten sich um. Jetzt holte Noah die Bücher aus seiner Tasche und legte sie auf den Tisch.

«Hier ist meine Arbeit», antwortete er, sah den Jungen fest an und erhob sich langsam.

Als Noah sich zu seiner vollen Größe aufgerichtet hatte, schien sein Gegenüber geradezu zu schrumpfen. Noah überragte ihn um einen ganzen Kopf, und sein kräftiger und muskulöser Körper luden nicht dazu ein, ihn herauszufordern.

«Im Süden würde so etwas nicht passieren», murmelte der junge Mann und schob eines der freien Pulte auf die andere Seite des Ganges.

Seine Strategie, möglichst nicht aufzufallen, war nicht aufgegangen. Denn wenn seine Anwesenheit vorher vielleicht noch einem Studenten egal gewesen war, so war das jetzt nicht mehr so. Fast fühlte Noah sich in die Unterrichtsstunden mit Mademoiselle Gassaud zurückversetzt. Nur hatte wenigstens Hortensia ihn damals immer bedingungslos unterstützt. Jetzt konnte er im ganzen Hörsaal kein einziges freundliches Gesicht entdecken.

Noah blickte stur geradeaus. Er war gekommen, um etwas zu lernen, sagte er sich und versuchte, die Verachtung der anderen jungen Männer einfach an sich abprallen zu lassen.

***

«Wie war dein erster Tag?», fragte Scott und wich einer Frau mit einem Korb voller Blumen aus, die einen großen Teil der Straße für sich in Anspruch nahm.

Noah seufzte.

«So schlimm?»

«Es ist sonderbar, aber als ich da an diesem Pult saß, fühlte ich mich in meine Kindheit zurückversetzt. Ich fühlte mich wie vor dieser schrecklichen Gouvernante», erinnerte er sich fast wehmütig. «Ich glaube, ich habe am ganzen Körper gezittert.»

«Das tut mir leid. Es muss hart sein, der einzige Schwarze in einem Hörsaal voller Weißer zu sein», meinte Scott. «Zum Glück lädt Ralph uns zu einem wunderbaren Abendessen ein, im besten Hotel der Stadt. Das wird die Schmerzen etwas lindern.»

«… ich bin mir nicht sicher, ob das so eine gute Idee war. Eigentlich begreife ich immer noch nicht ganz, wie du mich davon überzeugen konntest, dich zu begleiten.»

«Wir werden uns amüsieren, das verspreche ich dir. Und mir wird es guttun, meinen geplagten Magen einmal ordentlich zu füllen.»

«Vielleicht sollte ich lieber nicht mitkommen. Ich kenne ihn ja nicht einmal.»

«Ich habe dir schon tausend Mal gesagt, dass er mit mir in Harvard studiert hat. Er ist etwas wunderlich, aber du wirst ihn mögen», sagte Scott und fuhr fort: «Du brauchst eine Pause, lieber Freund. Entspann dich und mach dir nicht so viele Gedanken. Du musst die Bücher mal für eine Weile vergessen und stattdessen die kleinen Freuden des Lebens genießen.»


Als sie im Restaurant ankamen, führte ein livrierter Kellner sie zu einem Tisch, an dem ein junger Mann in einem eleganten olivgrünen Anzug bereits auf sie wartete. Er hatte ein langgezogenes Gesicht, tiefe Geheimratsecken, und sein Schurrbart war so schmal und akkurat, dass er fast so aussah, als hätte ein Bildhauer ihn in sorgfältiger Arbeit aus Stein gemeißelt.

«Guten Abend.» Lächelnd erhob sich der junge Mann.

«Wie geht es dir, Ralph? Lange nicht mehr gesehen.»

«Ja, lange Zeit. Und ich sehe, dass du noch immer so unpünktlich bist», sagte er, hörte aber nicht auf zu lächeln.

«Das stimmt, und ich muss dich um Entschuldigung bitten. Manche Angewohnheiten wird man so schnell nicht wieder los.»

«Mach dir keine Gedanken. Ich würde ja auch keine Uhr darum bitten, rückwärts zu gehen. Aber willst du mich nicht deinem Begleiter vorstellen?»

«Noah, Ralph», stellte Scott die beiden Männer vor.

Lächelnd streckte Ralph seine Hand aus.

«Raphael August Cramer der Dritte», präzisierte er. «Mit Abschluss in Jura und Philosophie.»

«Noah Lacroix», antwortete Noah. «Entlaufener Sklave und Medizinstudent.»

Ralph lachte über Noahs sarkastische Selbstbeschreibung.

«Freut mich sehr. Aber setzt euch doch bitte.»

Als Scott und Noah Platz genommen hatten, fuhr er fort: «Ich habe mir erlaubt, bereits die Getränke zu bestellen. Ich denke, dieser Weißwein passt ausgezeichnet zu den hervorragenden Meeresfrüchten, die man hier bekommt.»

«Mir läuft schon das Wasser im Munde zusammen», freute sich Scott und nahm einen Schluck aus dem Glas, das Ralph ihm eingeschenkt hatte. «Wunderbar.»

Noah betrachtete etwas zweifelnd das teuer aussehende Etikett.

«Mach dir wegen des Geldes keine Sorgen», unterbrach ihn Scott. Er hatte Noahs Gedanken erraten. «Du kannst ruhig trinken. Ralph würde es sicher als Kränkung empfinden, wenn wir ihn nicht bezahlen lassen.»

«Nun …», fügte Ralph mit einem ironischen Unterton hinzu, «eigentlich ist es mein Vater, der die Rechnung übernimmt.»

«Ich … eigentlich bin ich nicht daran gewöhnt, Alkohol zu trinken», sagte Noah.

«Das ist gar kein Problem», ermunterte Ralph ihn. «Trink einfach, und du wirst sehen, wie leicht es ist. Ich kann dir garantieren, dass man nicht auf die Universität gehen muss, um das Weintrinken zu erlernen.»

Der Kellner trat an den Tisch und reichte ihnen die Speisekarte. Ralph musste nur einen kurzen Blick darauf werfen. Er hatte schon oft hier gegessen und kannte jedes einzelne der Gerichte, die dem Restaurant zu seinem guten Namen verholfen hatten. «Ich glaube, der Hummer ist sehr gut.»

«Scheint mir eine ausgezeichnete Wahl zu sein», sagte Scott.

Ralph wandte sich Noah zu.

«Ich bin mit allem einverstanden.»

«Dann haben wir uns entschieden. Wir nehmen alle den Hummer», bestätigte er. Als Vorspeise wählten sie Austern und Gänseleberpastete.

«Und, Ralph, was hast du im letzten Jahr so getrieben?»

Ralph setzte ein gelangweiltes Gesicht auf.

«Ich fürchte, für einen reichen und faulen jungen Mann wie mich gibt es nur eine Möglichkeit, sich zu beschäftigen.» Er legte eine kurze Pause ein, um seinen Worten mehr Wirkung zu verleihen. «Ich verschwende das immense Vermögen meiner Familie», sagte er jetzt lächelnd und hob sein Glas.

Schon während sie die Horsd’œuvres verspeisten, entspann sich ein lebhaftes Gespräch. Ralph hatte gerade vier Monate in Europa verbracht und erzählte von seinen Erlebnissen.

Der Hummer war köstlich. Noah hatte noch nie etwas Ähnliches gegessen und musste erst beobachten, wie Scott geschickt den kleinen Holzhammer benutzte, um den Panzer des Tieres aufzubrechen, bevor er selbst in den Genuss des saftigen weißen Fleisches kommen konnte.

Plötzlich ließ Ralph seine Gabel sinken und sah in Richtung Eingang.

«Ist etwas?», fragte Scott.

«Anscheinend ist dieser Ort heute besonders beliebt», antwortete Ralph und bedeutete Scott, einen Blick hinter sich zu werfen. Als Scott den Mann erblickte, der wesentlich zu seiner Verbannung in die Marineakademie beigetragen hatte, ließ er einen erstaunten Ausruf hören.

«Wusstest du, dass er sich im Senat zur Wahl stellen will?»

Überrascht drehte Scott sich wieder um.

«Hatte er sich nicht eigentlich aus der Politik zurückgezogen?»

«Es wäre wohl richtiger zu sagen, dass die Politik sich von ihm zurückgezogen hat», ergänzte Ralph. «Als er damals die Wahlen gewonnen hatte, erfasste ihn ein plötzlicher Gedächtnisverlust. Anscheinend hatte er vollkommen vergessen, dass nur der Einfluss deines Vaters ihn zum Bürgermeister gemacht hatte. Sein Ego, das wohl nie besonders zaghaft gewesen war, wuchs dermaßen, dass er zu glauben anfing, er hätte das Bürgermeisteramt aus eigenem Verdienst bekommen. Fast sofort nachdem er das Amt innehatte, brach er mit deinem Vater. Man hört, er hätte ihn in der Öffentlichkeit einen dreckigen Iren genannt.»

«Davon wusste ich gar nichts.»

«Damals warst du ja auch in dieser Matrosenschule im Niemandsland», meinte Ralph. «Er wurde jedenfalls nicht wiedergewählt. Seit dem Tag, an dem Zorton sich gegen deinen Vater gestellt hat, ist er politisch tot, aber der Idiot hat es anscheinend immer noch nicht begriffen.»

Obwohl Zorton etwas dicker geworden war, hatte er sich doch nicht sehr verändert. Er trug einen blauen Anzug und hatte sich ein grünes Seidentuch um den Hals gebunden. Seine Miene war die eines Mannes, der davon überzeugt ist, Großes vollbringen zu können.

Dicht gefolgt von einer attraktiven Frau, die sicher nicht Mrs. Zorton war, durchquerte er lächelnd und grüßend den Raum, als befände er sich mitten in einer Wahlkampagne. Plötzlich stand er vor dem Tisch der drei Freunde.

«Mr. Zorton!», rief Ralph mit übertriebener Herzlichkeit. «Was für eine Ehre, Sie wiederzusehen.»

«Mr. Cramer», nickte Zorton höflich, als er den Sohn eines potenziellen Geldgebers erkannte.

«Scott O’Flanagan kennen Sie ja noch, nicht wahr?»

Als er diesen Namen vernahm, fiel Zortons breites Lächeln schlagartig in sich zusammen. Offensichtlich hatte er die Kränkung, die ihm der Sohn seines Unterstützers vor Jahren zugefügt hatte, noch immer nicht vergessen. Bevor er sich Scott zuwandte, plusterte er sich noch ein bisschen mehr auf.

«Ich bin überrascht, Sie hier anzutreffen, O’Flanagan», sagte er und taxierte mit offensichtlicher Missbilligung Scotts einfachen Anzug. Dabei warf er auch einen schrägen Blick auf den elegant gekleideten Noah. «Man sieht, dass Sie es nicht weit gebracht haben. Selbst Sklaven sind jetzt besser angezogen.»

«Das will ich doch hoffen, Zorton. Mein Freund hier allerdings ist Medizinstudent in Harvard.»

«In Harvard?», wiederholte Zorton ungläubig und so laut, dass ihn auch die Gäste an den Nachbartischen mühelos hören konnten.

«So ist es», bestätigte Scott.

«Wo soll das noch hinführen?», rief Zorton aus, in der Absicht, die Aufmerksamkeit des ganzen Restaurants auf sich zu ziehen. «Genügt ihnen denn die Freiheit noch nicht?», fragte er um Zustimmung heischend.

Noah sah, wie die Leute in seiner Nähe nickten und miteinander flüsterten, während sie ihn feindselig anstarrten.

Animiert durch die positiven Reaktionen in seiner Umgebung, setzte Zorton gerade zu einer längeren Rede vor seinem improvisierten Publikum an, als Noah ihn unterbrach.

«Gewiss», sagte er, «ich bin als Sklave geboren, wie viele andere vor mir in der langen Geschichte dieser Welt. Aber genau deshalb studiere ich an der Universität.» Die Worte sprudelten einfach so aus ihm hervor, vielleicht angestoßen von der Wirkung des Weins und dem angeregten Gespräch. Zum ersten Mal in seinem Leben ließ Noah seinen Gefühlen freien Lauf. «Denn allein die Gebildeten sind frei.»

«Bitte, was meinen Sie?»

«Ich habe mir nur erlaubt, die Worte eines anderen Sklaven zu zitieren», antwortete Noah.

«Sein Name ist übrigens Epiktet», ergänzte Scott. Er hatte das Zitat jenes griechischen Philosophen erkannt, der als Sklave geboren worden war und die Freiheit erlangt hatte.

«Komischer Name für einen Sklaven», bemerkte Zorton ungeduldig.

«Im Übrigen ein sehr passender Name», fügte jetzt auch Ralph hinzu, «denn wie Sie sicher wissen, bedeutet Epiktet ‹der Gekaufte› und weist damit auf seine Herkunft als Sklave hin.»

«Und dieser so gebildete Sklave isst nicht zufällig auch hier mit Ihnen zu Abend?», versuchte Zorton jetzt das Thema zu wechseln. Schließlich sollte niemand bemerken, dass er kein Wort verstand.

«Nein», antwortete Noah. «Sein Leben hat mich zwar inspiriert, aber leider habe ich ihn nie persönlich kennenlernen können. Er ist sehr weit weg von hier geboren, in Hierapolis in Phrygien.»

«Phrygien …», murmelte Zorton. «Das liegt im Süden, nicht wahr?»

«Wohl eher im Osten», präzisierte Scott, der sich das Lachen kaum verkneifen konnte.

Zorton hatte absolut keine Ahnung, wo Phrygien lag, und sah Scott jetzt voller Verachtung an. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie Scott ihn damals öffentlich bloßgestellt hatte, und würde nicht zulassen, dass sich so etwas wiederholte.

«Verzweifeln Sie nicht, mein Freund. Sie werden sicher noch einmal Gelegenheit haben, ihn kennenzulernen», sagte er und wollte sich verabschieden.

«Ich fürchte, das ist unmöglich, Mr. Zorton», gab Noah zurück. «Epiktet lebte vor fast zweitausend Jahren auf der anderen Seite des Ozeans, im alten Griechenland. Wissen Sie, die Sklaverei ist so alt wie die Welt, der Ehrgeiz und der Krieg, und jeder kann ihr zum Opfer fallen. Egal, zu welcher Zeit oder an welchem Ort. Was Epiktet geschehen ist, kann Armen und Plebejern, Königen und Weisen widerfahren. Und das Leben dieses Philosophen, der als Sklave geboren wurde, aber frei gestorben ist, zeigt, dass Hand- oder Fußfesseln keine Bedeutung haben. Ob jemand ein großer Mann ist, hängt von der Freiheit seines Geistes ab.»

Das Gemurmel in ihrer Umgebung verstummte. Alle sahen Zorton in Erwartung einer Antwort an. Selbst Scott war sprachlos, er hätte von Noah nie eine solche Reaktion erwartet.

Zorton wurde kurz etwas blass, als er die erwartungsvollen Blicke auf sich spürte. Dank seiner langen Erfahrung als Politiker war er jedoch geschult darin, seine Gefühle zu verbergen.

«Wenn Sie mich jetzt entschuldigen … Wirklich sehr erfreut, Sie kennenzulernen. Vielleicht können wir uns ein anderes Mal weiter über dieses interessante Thema unterhalten», brachte er schließlich heraus und entfernte sich eilig von diesem Mann, der ihn wieder einmal aus der Fassung gebracht hatte und dabei wie immer von einem Haufen unerwünschter Gestalten umgeben war.

Beinahe musste Scott laut loslachen.

«Ich habe mich nicht mehr so amüsiert, seit ich beim Schach gegen Klaus Fritz gewonnen habe», platzte er heraus.

«Wirklich herrlich. Ich wusste gar nicht, dass unser Freund hier ein solcher Redner ist. Und bewandert in alter Geschichte, wie ich sehe», gab Ralph anerkennend zu.

«Es wird wohl etwas Zeit vergehen, bis dieser Mann noch einmal das Wort an uns richtet», lachte Scott.

«Hoffentlich», fügte Ralph hinzu. «Dann lässt er mich vielleicht in Frieden, er ist nämlich ziemlich hinter dem Geld meines Vaters her.»

Aber Noah war seine kleine Rede trotzdem peinlich.

«Es tut mir leid», sagte er, nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte. «Ich fürchte, ich habe euch in eine unangenehme Situation gebracht. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.»

«Du musst dich nicht entschuldigen, Noah. Dieser Kretin hat lautstark danach verlangt, dass ihm mal jemand zeigt, wo er hingehört», munterte Ralph ihn auf. Scott nickte bestätigend.

Noah beruhigte sich ein wenig. Den restlichen Abend scherzten und lachten sie, vor allem über die unzähligen Geschichten, die Scott und Ralph zum Besten gaben. Eigentlich war es einer der glücklichsten Abende, die Noah je erlebt hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben – vielleicht ein wenig berauscht vom Wein und vom guten Essen – fühlte er sich wie ein freier Mann. Einfach jemand, der mit zwei anderen Männern, die seine dunkle Hautfarbe nicht zu bemerken schienen, am Tisch saß, trank und sich unterhielt.

«Danke, es war ein wunderbares Essen. Ich habe mich noch nie so wohl gefühlt», verabschiedete Noah sich von seinen beiden Begleitern, als er sich den Mantel zuknöpfte.

«Das Vergnügen war ganz auf meiner Seite», gab Ralph zurück. «Auch ich habe schon lange keinen so anregenden Abend mehr verlebt.»

«Ich hoffe, wir werden das bald wiederholen, Ralph», sagte Scott.

«Du weißt ja, für ein Glas Wein in angenehmer Gesellschaft ist in meinem vollen Terminkalender immer ein Plätzchen frei.»

Ralph hatte den beiden angeboten, sie mit seiner Kutsche nach Hause zu bringen, aber Noah lehnte ab. Er wollte noch ein Stück laufen. Er wollte dieses neue und sonderbar schöne Gefühl noch ein wenig auskosten. Das Gefühl, für einen Moment zu diesen beiden freien Männern gehört zu haben.

«Auch ich kann lernen, frei zu sein», dachte er. «Genau wie Epiktet.»

Fesseln des Schicksals
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