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An einem Morgen Anfang April 1861 betrat Charlotte wie immer möglichst unauffällig die Redaktion. In dem halben Jahr, in dem sie schon bei der Zeitung arbeitete, hatte sie es nur am ersten Tag geschafft, pünktlich zu erscheinen.

«Guten Morgen, Frank», grüßte Charlotte, zog schnell den Mantel aus und ließ sich auf ihren Sitz gleiten, wobei sie die Tür zu Spelmans Büro keinen Moment lang aus den Augen ließ.

«Hallo, Charlotte», antwortete der Mann mit dem rundlichen Gesicht und dem großzügigen Bauchumfang am benachbarten Schreibtisch, der sich um den Wirtschaftsteil kümmerte. «Du kannst beruhigt sein. Er ist noch nicht da.»

«Ein Glück. Ich habe heute wirklich keine Lust, mir Spelmans Theater anzuhören.»

«Du könntest ja auch einfach mal pünktlich kommen …»

«Ich weiß ja», entschuldigte sie sich. «Aber gestern ist es wirklich spät geworden. Ich war auf einem Empfang beim Gouverneur und bin erst im Morgengrauen nach Hause gegangen. Ich habe kaum geschlafen.»

Anerkennend hob Frank die schmale dunkle Linie seiner Augenbrauen.

«Du bist wirklich unglaublich, Charlotte.»

«Gibt es denn Neuigkeiten? Warum ist der Chef nicht im Büro?»

«Er ist bei Raymond O’Flanagan. Anscheinend ist irgendetwas Ernstes im Gange», flüsterte er ihr vertraulich zu.

«Kann schon sein, jetzt, wo du es sagst. Auf dem Empfang gestern war einiges los. Die Männer haben sich ziemlich lange zurückgezogen, und als sie wieder herauskamen, sahen sie besorgt aus.»

«Dann gibt es wohl keinen Zweifel.»

«Was meinst du, Frank?»

«Ich habe Gerüchte gehört, dass Fort Sumter angegriffen wurde.»

«O mein Gott!», rief Charlotte aus. Sie konnte es kaum glauben. Obwohl die politische Situation immer schwieriger geworden war, seit sich sieben der Südstaaten von der Union der Vereinigten Staaten getrennt hatten, hätte Charlotte es niemals für möglich gehalten, dass sie zu den Waffen greifen würden. Aber dann war Fort Sumter in South Carolina, wo sich eine Garnison des Unionsheers aufhielt, belagert worden, und die Lage hatte sich zugespitzt. Die konföderierten Südstaaten hatten gefordert, dass sich das Fort ergeben sollte, aber Lincoln, der vor kurzem erst ins Weiße Haus eingezogen war, war nicht bereit gewesen, klein beizugeben. Die Belagerung von Fort Sumter hatte sich zu einer Kraftprobe entwickelt, bei der jeder falsche Schritt fatale Folgen haben konnte.

Das Wort «Krieg» wollte ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen. Auf dem Nachhauseweg begegnete Charlotte einigen Demonstranten, die zum Kampf aufriefen. Die Leute jubelten und lachten, und sobald jemand einen neuen Slogan in die Menge rief, wurde er begeistert aufgenommen. Es wirkte beinahe wie ein Fest. Hatte die ganze Welt den Verstand verloren?

Charlotte kam furchtbar niedergeschlagen zu Hause an. Mechanisch suchte sie ihren Schlüssel und steckte ihn ins Schloss. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie zuerst gar nicht bemerkt hatte, dass jemand neben der Haustür wartete.

«Brian!», rief sie aus und fuhr zusammen. «Geht es Hortensia gut?»

Seit ein paar Monaten war ihre Schwester schwanger, und in den letzten Wochen hatte sie sich hin und wieder unwohl gefühlt.

«Keine Sorge, sie ist wohlauf. Aber ich muss mit dir reden.»

Charlotte öffnete die Tür, und sie traten ein. Die Garderobe war voll, also legte Charlotte ihren Mantel über das Treppengeländer.

«Setz dich doch bitte», sagte Charlotte und schob einen Stapel Zeitungen vom Sofa auf den Boden. «Möchtest du einen Tee?»

«Nein danke, Charlotte.»

Brian wirkte so ernst, dass Charlotte anfing, sich Sorgen zu machen.

«Sag, was ist los?»

«Ich nehme an, dass du die Gerüchte gehört hast?»

«Du meinst über den … Krieg?»

Brian nickte.

«Das sind nur Gerüchte, Brian. In ein paar Wochen ist alles wieder beim Alten.»

«Diesmal nicht, Charlotte. Fort Sumter wird nicht lange durchhalten. Wenn keine Verstärkung kommt, haben sie in ein paar Stunden keine Munition mehr. Sie werden sich ergeben müssen.»

«Dann ist in ein paar Stunden alles vorbei», rief sie und stürzte sich auf die Hoffnung, die das Wort «ergeben» in ihr wachrief.

«Mach dir nichts vor. Der Norden kann nicht einfach so tun, als hätte es diesen Angriff nicht gegeben. Lincoln wird das nicht vergessen. Das kann er nicht. Mit dem Angriff auf das Fort hat der Süden Lincoln die Rechtfertigung geliefert, die er gebraucht hat. Er wird zurückschlagen.»

Charlotte spürte, wie ihr Magen sich zusammenzog.

«Ich wurde in das Krisenkabinett berufen. In zwei Tagen breche ich nach Washington auf. Es gibt keinen Weg mehr zurück. Es wird Krieg geben.»

«Aber das darf nicht sein! Irgendjemand muss diesem Wahnsinn Einhalt gebieten!»

«Man kann es nicht mehr ungeschehen machen.»

Charlotte setzte sich. Sie musste nachdenken.

«Weiß Hortensia es schon?»

Brian wirkte erschöpft, als er antwortete. «Noch nicht. Ich hatte nicht den Mut, es ihr zu sagen. Deshalb bin ich hier. Ich brauche die Gewissheit, dass es Hortensia gutgeht. Es sind noch ein paar Monate, bis das Kind kommt, aber ich möchte nicht, dass sie allein ist. Auch wenn meine Eltern in der gleichen Straße wohnen, wäre ich doch beruhigter, wenn ich wüsste, dass du bei ihr bist. Ich möchte dich darum bitten, während meiner Abwesenheit in die Beacon Street zu ziehen.»

Charlotte nickte. Zwar würde sie lieber in ihrem eigenen Haus wohnen bleiben, aber sie würde ihre Schwester nicht im Stich lassen.

«Sei beruhigt, Brian. Gleich morgen komme ich zu euch.»

«Danke, Charlotte. Das beruhigt mich.»

Brian stand auf und nahm seinen Hut. Charlotte brachte ihn zur Tür.

«Wann sagst du ihr, dass du wegfährst?»

«Heute Abend», erwiderte er und drückte sich den Hut auf den Kopf.

***

Nachdem Fort Sumter gefallen war, hatte der junge Südstaatler, mit dem Noah am ersten Unterrichtstag aneinandergeraten war, die Universität verlassen und war zu seiner Familie zurückgekehrt, wie auch alle anderen Studenten aus den konföderierten Staaten. Bis Mitte Mai war es jedoch zu keinen Kampfhandlungen gekommen.

«Gentlemen», sagte Professor Watson, als er den Anatomieunterricht beendet hatte. «Sie wissen, dass die erste Phase Ihrer Ausbildung heute zu Ende geht. Nach diesen Monaten, die der Theorie gewidmet waren, werden Sie während der nächsten Jahre auf die medizinische Praxis vorbereitet. Zu diesem Zweck ist jeder von Ihnen einem renommierten Arzt zugeteilt worden, der Ihnen helfen wird, Ihre Ausbildung zu vervollständigen und praktische Erfahrungen zu sammeln. Am Schwarzen Brett finden Sie die Liste mit Ihren Namen und den Namen der Ärzte. Das wäre alles.»

Die besten Ärzte der Stadt waren auf der Liste aufgeführt. Aber als Noah seinen Namen endlich gefunden hatte, erkannte er, dass alle seine Bemühungen umsonst gewesen waren.


Professor Watson war gerade dabei, die Schrift eines Schülers zu entziffern, als es an seiner Tür klopfte. Watson schielte über seine Lesebrille hinweg.

«Ah! Sie sind es», sagte er, als er seinen Studenten höflich an der Tür warten sah. «Kommen Sie doch herein.»

Noah gehorchte. «Verzeihen Sie die Störung, Professor Watson.»

Das magere Gesicht des Professors war von einem gepflegten weißen Bart bedeckt. Obwohl er schon etwas gebückt ging, waren seine Hände doch kräftig und geschickt. Er war der beste Chirurg in der Stadt. Jetzt setzte er die Brille ab und sah Noah eindringlich an. «Ich habe mir schon gedacht, dass Sie kommen würden, ich hatte nur nicht angenommen, dass Sie eine Woche dafür brauchen.»

Noah sagte nichts. Ihm war die Entscheidung, zum Professor zu gehen, sehr schwergefallen.

«Also, Mr. Lacroix?»

Noah wusste nicht, wie er anfangen sollte. Bisher hatte er die Dinge, die ihm widerfahren waren, immer akzeptiert. Bis jetzt.

«Ich …», begann er zögerlich, «ich wollte nur fragen, ob ich meine praktische Ausbildung auch woanders machen kann.»

Im Unterschied zu seinen Kommilitonen war Noah keinem Arzt zugeteilt worden, sondern nur einer Abteilung des Krankenhauses auf der anderen Seite der Straße.

Das General Hospital war eine Wohlfahrtseinrichtung, in der mittellose Menschen behandelt wurden. Die Ärzte mit Prestige praktizierten in Privatpraxen. Dort behandelten sie die reichen Männer, die das Krankenhaus zwar finanziell unterstützten, jedoch im Krankheitsfall nie einen Schritt über seine Schwelle setzen würden.

«Ich verstehe», nickte Watson. «Sie denken, Sie haben etwas Besseres verdient.»

«Das wollte ich nicht damit sagen.»

«Doch, ich denke, genau das wollten Sie sagen.»

Noah fühlte sich müde. Er wollte nicht in dieses Kakerlakennest, wo die Ärzte bei der ersten sich bietenden Gelegenheit wieder kündigten und wo ständig Patienten an Infektionen starben, weil die Hygiene vollkommen unzureichend war. Kein Student, der versuchte, ein guter Arzt zu werden, wollte an einem solchen Ort landen.

«Gut. Sie haben recht, Sir», gab er jetzt zu. «Wenn ich eine andere Hautfarbe hätte, wäre ich bestimmt nicht dem Krankenhaus zugeteilt worden, sondern einem der wichtigen Ärzte der Stadt.»

Der Professor schwieg einen Moment lang.

«Das stimmt», sagte er dann ehrlich. «Aber Sie sind nun einmal nicht wie die anderen, Mr. Lacroix, und das wissen Sie. Sehen Sie mich nicht so an. Ich hege gewiss keine Vorurteile in dieser Hinsicht. Ein Chirurg weiß, dass die Menschen alle gleich sind. Sie sind ein hochintelligenter Mann, vielleicht sogar der beste Schüler, den ich je hatte. Aber das macht die Sache für Sie leider nicht einfacher. Sie haben recht. Unter anderen Umständen würden Sie Ihre praktische Ausbildung woanders machen. Aber leider wollte keiner der Ärzte Sie als seinen Assistenten annehmen.»

Diese Möglichkeit hatte Noah gar nicht in Betracht gezogen. «Das … das wusste ich nicht.»

«Nun, jetzt wissen Sie es. Wenn Sie wollen, können Sie Ihren Posten natürlich ablehnen, aber Sie würden dort viel lernen. Außerdem denke ich, dass Sie besser als jeder andere in der Lage sind, die besondere Situation der Menschen zu verstehen, die im General Hospital behandelt werden. Mittellose Menschen. Männer, Frauen und Kinder, die sich damit abfinden müssen, von Personen behandelt zu werden, die oftmals noch nicht einmal Ärzte sind. Hätte ich ihnen vielleicht meinen schlechtesten Studenten schicken sollen? Sind Sie vielleicht zu gut für diese Leute? Die erste Pflicht eines Arztes ist es, den Kranken zu helfen. Arm oder reich, Mr. Lacroix. Ich dachte, dass Sie das besser als jeder andere verstehen.»

Beschämt senkte Noah den Kopf.

«Also?»

«Es tut mir leid, Professor Watson. Es wird mir eine Ehre sein, meine praktische Ausbildung dort zu machen, wo Sie mich hingeschickt haben. Guten Abend, Professor.»

Watson sah Noah nach, als der sein Büro verließ. Dann setzte er sich die Brille wieder auf und versuchte, den nächsten Absatz zu entziffern.


Charles Bulfinch, der Architekt, der auch beim Bau des Kapitols in Washington mitgewirkt hatte, war damit beauftragt worden, das Massachusetts General Hospital zu erbauen. Von außen sah man nur seine elegante, neoklassizistische Fassade, aber sobald ein Besucher das Gebäude betrat, bot sich ihm ein ganz anderer Anblick.

Ein neuerlicher Choleraausbruch in den Armenvierteln der Stadt hatte dazu geführt, dass die Kapazitäten des Krankenhauses vollkommen erschöpft waren. Da die Betten besetzt waren, wurden die Kranken in die Gänge gelegt, zuerst noch auf Feldbetten, schließlich aber einfach auf den Fußboden.

Als Noah die Station betrat, auf der die Cholerapatienten gesammelt wurden, musste er sich ein Taschentuch vor das Gesicht drücken, um sich vor dem Gestank zu schützen. Aus Angst, sich anzustecken, hatten die wenigen Angestellten die Infizierten ihrem Schicksal überlassen.

Seufzend zog er seinen Mantel aus und schlüpfte in einen Kittel, und ohne Rat oder Hilfe zu suchen, machte er sich daran, die Kranken zu behandeln. An seinem ersten Vormittag starben fünf Menschen an Flüssigkeitsmangel, ein sechster verblutete nach einer missglückten Operation.

Am Nachmittag wurde er in das Büro des Krankenhausdirektors Frederick Hougan bestellt.

Noah hatte Gerüchte über dessen Morphinsucht gehört, hatte ihnen aber keinen Glauben geschenkt, bis er ihm nun gegenüberstand. Trotz des Dämmerlichts blieben Hougans Pupillen zwei winzige Pünktchen, seine Hände zitterten, und er trank ständig Wasser. Ohne den Einfluss seines reichen Onkels würde er diesen Posten nicht mehr lange bekleiden.

Als Hougan merkte, dass Noah ihn aufmerksam beobachtete, nahm er die Hände vom Tisch, um das Zittern zu verbergen.

Die Unterredung dauerte nicht lange. Nach einer kurzen Begrüßung teilte Hougan ihm mit, dass Noah sich beim Chefarzt der Chirurgie im ersten Stock melden solle.

Als er dort Professor Watson antraf, der mit seinem makellosen weißen Kittel in dieser dunklen Welt beinahe wirkte wie ein Sonnenstrahl, blieb Noah überrascht stehen.

«Professor?»

«Mr. Lacroix. Ich habe Sie schon erwartet.»

«Aber … Ich soll mich doch beim Chefarzt der Chirurgie melden.»

«Der vor Ihnen steht. Ich arbeite jeden Nachmittag hier.»

«Das wusste ich nicht.»

«Das ist auch kaum jemandem bekannt. Da es dabei bleiben soll, hoffe ich, dass Sie mein Geheimnis nicht verraten.»

«Natürlich nicht, Professor.»

«Begleiten Sie mich bei meinem Rundgang», sagte er. «Ich suche schon lange einen Assistenten.»

Noah konnte sein Glück kaum fassen. Noch vor zwei Tagen hatte er geglaubt, dass er nie ein guter Arzt werden würde, und jetzt bot der beste Chirurg der Stadt ihm an, ihn als seinen persönlichen Assistenten zu nehmen. Für diese Chance wären einige seiner Mitstudenten zu einem Mord bereit gewesen.

«Es wird mir eine große Ehre sein», antwortete Noah und folgte seinem Lehrer zu seinem ersten Patienten.

***

Am 21. Juli 1861 musste die Union bei Bull Run, Manassas, ihre erste Niederlage hinnehmen.

Noah erfuhr davon, als er sich gerade auf dem Weg ins Krankenhaus befand. Er hatte immer angenommen, dass der Norden gewinnen würde, schließlich war das Recht auf seiner Seite.

Nachdem Noah die Wunde des Patienten zugenäht hatte, den Professor Watson heute operiert hatte, vergewisserte er sich noch, dass er wieder aufwachte, als die Wirkung des Äthers nachließ, und begab sich dann ins Büro seines Mentors.

«Entschuldigen Sie, Professor. Ich muss mit Ihnen sprechen.»

Der Arzt saß hinter seinem Schreibtisch und forderte ihn mit einer Handbewegung auf einzutreten. Noah gehorchte und schloss die Tür hinter sich.

«Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Geschick, Mr. Lacroix. Sie haben exzellente Arbeit geleistet.»

«Danke.»

«Wenn Sie so weitermachen, können Sie in ein paar Wochen selbst einen Eingriff durchführen. Selbstverständlich unter meiner Aufsicht.»

Noah errötete. In den anderthalb Monaten, die er jetzt am Operationstisch assistierte, hatte der Professor ihn noch nie gelobt.

«Ist etwas nicht in Ordnung, junger Mann?»

«Ich möchte mich nur bei Ihnen bedanken. Für alles, was Sie für mich getan haben. Ohne Ihre Hilfe hätte ich das nie geschafft.»

«Unterschätzen Sie Ihre Leistung nicht. Das Verdienst gebührt Ihnen allein.»

«Doktor, ich bin gekommen, um mich zu verabschieden. Ich werde mich freiwillig als Soldat melden.»

Plötzlich veränderte sich Professor Watsons Gesichtsausdruck.

«Darf ich fragen, warum?»

«Es ist meine Pflicht.»

«Ihre Pflicht?», wiederholte er sarkastisch und sah ihn fest an. «Sie sind Arzt. Ihre Pflicht ist es, Leben zu retten, nicht Leben zu zerstören!»

«Es tut mir leid, Professor. Aber meine Leute brauchen mich. Ich kann mich nicht einfach raushalten, während die Weißen meinen Krieg für mich ausfechten.»

«Unsinn!», rief Watson aus und schlug wütend auf den Tisch.

Überrascht über diesen plötzlichen Ausbruch, blickte Noah den Professor an.

«Glauben Sie denn, dass der Krieg etwas verändert? Denken Sie, die Dinge werden wirklich anders für die Farbigen, wenn der Norden gewinnt? Machen Sie sich nichts vor. Ihrem Volk gegenüber haben Sie einzig und allein die Pflicht, Arzt zu werden. Sie führen bereits einen Krieg, Mr. Lacroix. Und dieser Krieg findet hier statt. Wenn Sie Ihrem Volk helfen wollen, werden Sie ein guter Arzt. Zeigen Sie den Weißen, was Sie können.»

«Es tut mir leid, Professor, aber ich kann nicht.»

Fast fürchtete Noah, dass Watson aufstehen und ihn schütteln würde, um ihn zur Vernunft zu bringen, aber der Professor blieb reglos sitzen. Schweigend sah er seinen Schüler an, bevor er weitersprach.

«Wenn Sie wirklich glauben, dass Sie das tun müssen, dann gehen Sie. Ich werde Sie nicht aufhalten.»

«Auf Wiedersehen, Doktor Watson», sagte Noah.

«Viel Glück, Mr. Lacroix», antwortete der Professor, aber er sah ihn schon nicht mehr an. Er wollte es nicht wahrhaben, dass der Krieg ihm seinen besten Schüler wegnahm. Seitdem er gesehen hatte, wie Noah seine ersten Stiche machte, hatte er gewusst, dass dieser Mann dafür geboren war, Chirurg zu werden. Seine ruhige Hand, von einem wachen und intelligenten Geist geführt, zögerte niemals. Obwohl er kühl wirkte, war er doch ein mitfühlender Mann, der die Leiden seiner Patienten verstehen konnte. Fast bewunderte Watson seinen jungen Schüler. Er war davon überzeugt, dass ein außergewöhnlicher Arzt aus ihm werden würde. Jetzt schloss er die Augen und betete dafür, dass dieser absurde Krieg ihm das Leben ließ.

Mit gesenktem Kopf kam Noah in die Beacon Street. Es war schon hart gewesen, dem Professor seinen Entschluss mitzuteilen, aber es würde noch schlimmer sein, es Charlotte beizubringen.

«Nein, nein und nochmals nein!», rief Charlotte, als sie von Noahs Plänen erfuhr. «Du darfst dich nicht freiwillig melden.»

«Du kannst nichts dagegen tun. Ich habe mich entschieden.»

Hortensia, die in ein paar Wochen ihr Kind zur Welt bringen würde, saß in einem Schaukelstuhl. Noah stand vor ihr, und Charlotte hatte ihm trotzig den Rücken zugekehrt.

«Versteh doch, Charlotte. Ich kann hier nicht einfach abwarten, während andere ihr Leben riskieren.»

«Das ist doch Irrsinn. Niemand hat sie darum gebeten, sich freiwillig zu melden. Wenn sie sich gegenseitig umbringen wollen, bitte. Aber nicht du, Noah. Wir brauchen dich hier.»

«Das stimmt nicht, Charlotte. Außerdem weißt du, dass ich auch an meine Mutter denken muss.»

«Noah, ihr wird es gutgehen. Die Front ist weit genug von New Fortune entfernt.»

«Ich muss gehen.»

«Nein!», schrie Charlotte verzweifelt. «Du musst nirgendwohin gehen. Glaubst du, Velvet würde es gefallen, dass du dich abknallen lässt?»

Hortensia zuckte zusammen. Seit Wochen hatte sie nichts von Brian gehört, der an der Front war, und Charlottes Worte trugen nicht gerade dazu bei, sie zu beruhigen.

«Verzeih, Hortensia. Ich weiß einfach nicht, was ich diesem Dickkopf sonst sagen soll, damit er zur Vernunft kommt.»

«Noah, überleg es dir gut», mischte Hortensia sich jetzt ein. «Ich würde es nicht ertragen, wenn dir etwas passiert.»

«Mir wird nichts passieren, das verspreche ich euch», versuchte er, seine Schwestern zu beruhigen.

«Wie kannst du sagen, dass dir nichts passieren wird? Im Krieg ist niemand sicher.»

Wieder zuckte Hortensia zusammen.

Noah wusste, dass er Charlotte nicht von der Richtigkeit seiner Entscheidung überzeugen könnte. Aber sein Entschluss stand fest. Noah hatte eine Rechnung zu begleichen. Als Soldat würde er sein Gewehr laden und sich endlich den Männern entgegenstellen, die ihn sein ganzes Leben lang gedemütigt hatten.

«Ich brauche dein Einverständnis nicht, Charlotte. Im Krankenhaus habe ich schon Bescheid gegeben, dass ich von meiner Arbeit zurücktrete. Meine Tasche ist gepackt. Heute Nachmittag geht mein Zug nach Washington, wo ich mich melden werde.»

«Sie werden dich nicht nehmen!»

«Doch, das werden sie.»

«Wie du willst», platzte sie wütend heraus und stampfte mit dem Fuß auf, als wollte sie auf ihn losgehen. «Wenn du unbedingt willst, dass sie dir diesen harten Dickschädel durchlöchern, mach doch, was du für richtig hältst!», fluchte sie und rannte auf ihr Zimmer.

Noah und Hortensia blieben allein im Salon zurück.

«Sie wird sich beruhigen.»

«Ich weiß.»

«Gibt es denn nichts, was dich davon abbringen kann?»

Noah blickte zu Boden. Mühevoll stand Hortensia auf und gab ihrem Bruder einen Kuss auf die Wange.

«Versprich mir, dass du auf dich aufpasst und wohlbehalten zurückkommst, Noah.»

«Das verspreche ich dir, Hortensia.»


Obwohl Hortensia ihm angeboten hatte, ihn zum Zug zu begleiten, zog Noah es vor, allein zu gehen. Er mochte keine Abschiede. Sie erinnerten ihn an den Tag, an dem er auf New Fortune von seiner Mutter getrennt worden war. Er verabschiedete sich mit einer Umarmung von Hortensia und verließ das Haus.

Draußen wartete schon die Kalesche.

Noah war traurig. Der Streit mit Charlotte schmerzte ihn, und obwohl Hortensia sich bemüht hatte, gefasst zu bleiben, war sie schließlich doch in Tränen ausgebrochen. Und Charlotte war nicht heruntergekommen, um sich zu verabschieden. Dafür war sie viel zu stur. Nachdem der Kutscher seine Tasche im Wagen verstaut hatte, drehte Noah sich noch einmal um und sah instinktiv zu den Fenstern im ersten Stock. Die Gardinen waren halb vorgezogen, und man konnte nichts erkennen. Gerade wollte Noah sich enttäuscht auf den Weg machen, als er Charlotte entdeckte, die ans Fenster getreten war und ihn ansah. Die flache Hand gegen die Scheibe gedrückt, formte sie mit den Lippen einen Abschiedsgruß. Noah lächelte und legte seine Hand aufs Herz.

Fesseln des Schicksals
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