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Pünktlich fuhr der Zug aus dem Bostoner Bahnhof ab. Noah würde lange unterwegs sein. Er starrte aus dem Fenster. Seine Gedanken trugen ihn immer wieder in seine Kindheit zurück, in die Zeit, als er über die Felder von New Fortune gelaufen war. Als er endlich einschlief, träumte er, dass alles ganz anders war. Er lebte im Herrenhaus, sein Vater war da und hielt ihn auf dem Arm, während seine Mutter in einem hübschen Kleid auf der Veranda saß und ihnen zulächelte. Noah war glücklich. Dann riss ihn das Pfeifen des Zuges in die Realität zurück. Der Zug war mitten auf der Strecke stehen geblieben, weil vor ihm ein Lastwaggon auf dem Weg zur Front nicht weiterkam.

Erst um acht Uhr abends, mit mehr als fünf Stunden Verspätung, kam Noah an seinem Ziel an. Das Einzugsbüro der Stadt war schon geschlossen. Er würde einen Platz zum Übernachten brauchen, aber zum Glück hatte er einen guten Freund in der Stadt. Er nahm seinen Koffer und hielt eine Kutsche an.


Scott empfing Noah mit offenen Armen. Seit Brians und Hortensias Hochzeit hatten sie sich nicht mehr gesehen, sich aber regelmäßig geschrieben. Scott fragte in seinen Briefen nicht nach Charlotte, und Noah vermied es, seine Schwester zu erwähnen, um seinem Freund Kummer zu ersparen.

«Was für eine wunderbare Überraschung!», rief Scott aus und bat ihn in seine kleine Wohnung.

«Verzeih, dass ich mich nicht vorher angemeldet habe, aber ich weiß nicht, wo ich sonst übernachten soll.»

«Red keinen Unsinn. Fühl dich einfach wie zu Hause!»

Noah sah sich schnell um. Von der Decke blätterte der Putz ab, und ein großer Wasserfleck breitete sich an einer der Außenwände aus. Die Möbel sahen aus, als hätte Scott sie bei einer Versteigerung erstanden.

«Gemütlich hast du es hier», sagte Noah mit einem ironischen Unterton und dachte an die Sklavenhütten auf New Fortune.

«Erzähl doch, was führt dich hierher?»

«Ich werde mich freiwillig melden», antwortete Noah, und obwohl er es vermied, Scott bei diesen Worten anzusehen, spürte er, wie das Lächeln aus dem Gesicht seines Freundes verschwand. «Ich weiß, dass du gegen den Krieg bist, Scott, aber ich bitte dich darum, es einfach zu akzeptieren.»

Noah wollte nicht noch einen weiteren Streit ausfechten müssen.

«Das tue ich», sagte Scott. Dann schwiegen sie. Erst nach einer Weile klopfte Scott seinem Freund auf die Schulter.

«Was hältst du davon, deinen letzten freien Abend mit einem Essen zu begehen?»

«Gut, aber ich bezahle.»

Grinsend drehte Scott seine leeren Hosentaschen um. «Ich werde dich nicht davon abhalten!»


Das beste Restaurant der Stadt war ein überfülltes Gasthaus.

«Sehr elegant», bemerkte Noah, als sie endlich einen Tisch ergattert hatten.

Scott winkte die Kellnerin zu sich. Die Frau brauchte ein paar Minuten, bis sie sich einen Weg zu ihrem Tisch gebahnt hatte. Ihre Schürze war fleckig, und ihre Wangen leuchteten rot.

«Was darf ich bringen?», fragte sie Scott und stellte zwei Krüge Bier vor ihm auf den Tisch. Noah würdigte sie keines Blickes.

«Was möchtest du, Noah?»

«Ich habe Hunger. Mir ist alles recht.»

Scott sprach etwas lauter, um sich in dem Durcheinander Gehör zu verschaffen.

«Sie haben meinen Freund hier gehört. Bringen Sie uns von allem. Wir haben Hunger.»

Etwas vor sich hin murmelnd, machte die Frau kehrt und verschwand in der Menge.

«Die Dinge haben sich nicht verändert», sagte Noah, der bemerkt hatte, dass ein paar Männer in der Nähe auf ihn aufmerksam geworden waren.

«Dann sollten wir schnell essen. Wenn wir uns schlagen müssen, dann wenigstens mit vollem Magen.»

Noah lächelte. Er würde sich das Abendessen nicht verderben lassen.

Schon bald wurden Schüsseln und Pfannen an den Tisch gebracht. Schmorbraten, Eintopf, Kartoffeln … Noah hätte nicht gedacht, dass man an diesem Ort so gut essen würde. Als sie alles verspeist hatten, wurden ihnen noch große Stücke Apfelkuchen serviert.

«Also, ich weiß nicht, ob ich mehrere solcher Besuche überleben würde», stöhnte Scott mit vollem Mund und schaute fragend auf den letzten Rest Kuchen auf Noahs Teller.

Noah lehnte sich zurück. «Ich kann nicht mehr, Scott.»

«Schon gut, wenn du darauf bestehst …» Während Scott sich auch noch über den Kuchenrest hermachte, winkte Noah der Kellnerin und bat sie um die Rechnung. Er zahlte und gab ein großzügiges Trinkgeld. Die Frau riss ihm das Geld förmlich aus der Hand und ließ es in ihrer Schürzentasche verschwinden. Dann murmelte sie etwas, das wie ein Dankeschön klang, und verschwand.

«Du weißt wahrscheinlich, dass sie dir mehr berechnet hat, als üblich ist», sagte Scott.

«Ich weiß. Aber heute habe ich meinen großzügigen Tag.»

«Ich fürchte, du bist ein perfekter Gentleman geworden, Noah.»

Als Scott sich mit einem prüfenden Blick davon überzeugt hatte, dass sich nichts Essbares mehr auf dem Tisch befand, standen sie auf. Das Lokal war noch immer voller Menschen. Obwohl noch Sommer war, war es draußen kalt geworden, und die Reisenden suchten die Wärme des Gasthauses. Noch bevor sie an der Tür angekommen waren, hatten sie wieder zwei Krüge Bier in der Hand.

***

Am nächsten Morgen wachte Noah in Scotts Bett auf. Er hatte fürchterliche Kopfschmerzen, und als er vorsichtig aufstand, drehte sich alles. Irgendwann letzte Nacht hatte er aufgehört, das Bier noch mitzuzählen.

«Nie wieder werde ich auch nur einen Tropfen Alkohol anrühren», schwor er sich und starrte fünf Minuten lang vor sich hin, bis die Dinge an ihrem Platz blieben.

Scott schlief noch auf dem Sofa. Noah entschied, ihn nicht zu wecken. Nachdem er sich leise angezogen hatte, schlich er aus der Wohnung.

Morgentau lag noch in der Luft. Noah knöpfte seine Jacke zu, atmete tief ein und machte sich auf den Weg. Das Rekrutierungsbüro war im Erdgeschoss eines Krankenhauses eingerichtet worden, nur wenige Straßen von Scotts Wohnung entfernt. Es war ein modernes graues Gebäude mit grünen Fensterrahmen und roten Dachziegeln. Davor lag ein kleiner Garten ohne Blumen, dem dafür die Ehre zuteilwurde, einen Fahnenmast zu beherbergen, an dem die Fahne der Union im Wind flatterte.

Noah folgte einem Pfeil, der den Weg zum Rekrutierungsbüro wies. Er ging am Haupteingang vorbei und trat in eine schmalere Tür, über der ein Schild befestigt war.

Hinter einem Schreibtisch saß der diensthabende Offizier und sprach mit einem sommersprossigen Jüngling, der gerade eben das nötige Alter erreicht zu haben schien, um sich freiwillig zu melden. Sonst war niemand im Raum. Noah setzte sich auf einen der Stühle an der Wand und wartete, bis er an die Reihe kam.

Der Offizier, der sich kaum die Mühe gemacht hatte, den jungen Mann richtig anzusehen, brauchte ein paar Minuten, um das Formular auszufüllen. Am Schluss ließ er ihn unterschreiben und erklärte ihm, wo er sich am nächsten Morgen melden sollte. Dann legte er das Formular in eine Schublade und forderte Noah auf, näher zu kommen.

«Vorname?», fragte er, ohne aufzusehen, als Noah vor ihm stand.

«Noah.»

«Familienname?»

«Lacroix.»

«La…», sagte der Offizier, während er mit der Feder die Buchstaben auf das Papier kratzte. «Können Sie das bitte wiederholen?»

«L – A – C – R – O -I – X», buchstabierte Noah.

Als er den Namen notiert hatte, hob der Offizier den Blick und sah Noah kurz an. Dann senkte er die Augen wieder auf das Papier.

«Adresse?»

Sobald die Daten aufgeschrieben waren, zeigte der Mann ihm, wo er unterschreiben musste. «Sie können auch ein X machen», sagte er und hielt ihm die Feder hin.

Noah nahm das Blatt auf und überprüfte den Eintrag des Offiziers noch einmal. Gerade wollte er unterschreiben, als man plötzlich von der Straße einen lauten Hilfeschrei vernahm. Er klang so verzweifelt, dass sogar der Offizier seinen Platz verließ und nach draußen lief, um zu sehen, was geschehen war. Noah folgte ihm.

Der friedliche Vorplatz hatte sich ein Chaos verwandelt. Zwei mit Verwundeten beladene Lastkarren waren wie aus dem Nichts aufgetaucht. Die Verletzten wurden von Trägern in das Gebäude gebracht, während aufgeregte Krankenschwestern hin und her liefen. Schnell ging Noah zu einem der Karren und half, einen Verletzten, dessen eine Gesichtshälfte vollkommen verbrannt war, auf eine Trage zu legen und in das Gebäude zu bringen. Auch in der Eingangshalle herrschte vollkommenes Durcheinander. Die Krankenträger legten die Verletzten einfach auf dem Boden ab, bevor sie wieder hinausrannten und den Nächsten holten.

«Mein Gott», rief Noah aus, als er sah, wie viele Soldaten mit blutigen Verbänden darauf warteten, behandelt zu werden. «Was ist geschehen?», fragte er eine Krankenschwester, die an ihm vorbeilief.

«Die Leute sind in einen Hinterhalt geraten. Wir tun alles, um sie unterzubringen, aber es gibt keine freien Betten. Wir sind völlig überfüllt.»

Noah stellte fest, dass der improvisierte Verband eines Verwundeten in der kurzen Zeit, die er mit einer Schwester gesprochen hatte, vollkommen durchgeblutet war.

«Dieser Mann verblutet! Wo ist der Arzt?»

«Heute ist Sonntag. Nur ein Arzt hat Dienst, und der ist im Operationssaal. Ich fürchte, ich muss die Verantwortung hier allein tragen.»

«Wie viel Personal haben Sie zu Ihrer Verfügung?»

«Fünf Schwestern und vier Träger.»

«Was ist mit diesen Männern?», fragte Noah und deutete auf eine Gruppe Soldaten, die im Gang herumstand. «Sind die auch verletzt?»

«Nein, sie haben die Verwundeten hergebracht. Der befehlshabende Offizier kann nicht weit sein.»

«Sehr gut. Es genügt, wenn zwei Schwestern dem Arzt helfen. Schicken Sie mir den Rest.»

Die Schwester zögerte.

«Ich bin Medizinstudent», erklärte er.

Eine Sekunde lang betrachtete die Schwester Noah. Man konnte ihr ansehen, dass sie an seinen Worten zweifelte, aber die Sicherheit, mit der er sprach, schien sie schließlich zu überzeugen.

«Gut. Was genau soll ich tun?»

«Bringen Sie mir Tücher, Bänder oder etwas Ähnliches in verschiedenen Farben, die man um einen Arm oder ein Bein binden kann. Danach schicken Sie mir die Krankenschwestern, die nicht im Behandlungszimmer helfen, und auch alle unverletzten Soldaten, die den Trägern helfen können.»

Die Frau seufzte erleichtert, offensichtlich war sie froh, dass ihr jemand Verantwortung abnahm. Dann lief sie los.

Als sie wiederkam, hatte sie zwei weitere Krankenschwestern im Schlepptau und ein paar Wollknäuel in der Hand. «Ich habe nur das hier gefunden.»

«Sehr gut», sagte Noah zufrieden. Er hob die Stimme, damit ihn die Schwestern alle gut hörten, und gab jeder ein Wollknäuel in die Hand. «Mit der Wolle markieren wir die Verletzten. Jede Farbe entspricht einem bestimmten Zustand oder einer Behandlung.» Noah machte eine Pause und sah die Schwestern an, um sich davon zu überzeugen, dass sie ihn verstanden hatten. «Rot heißt, die Leute brauchen dringend Hilfe. Grün bedeutet, dass die Patienten eine ärztliche Behandlung brauchen, die warten kann. Und Gelb heißt, dass die Patienten Prellungen oder Wunden haben, die auch von Ihnen gesäubert und genäht werden können. Verstanden?»

Die Frauen nickten. Sofort zog Noah sein Jackett aus und fing an, die Verletzten der Reihe nach zu untersuchen.

«Grün!», sagte er sofort beim ersten Patienten, und die Krankenschwester schnitt ein Stück Wolle ab und wickelte es ihm um den Arm.

«Gelb!»

In weniger als zehn Minuten war jeder der Verletzten markiert und wurde je nach der Farbe um seinen Arm in verschiedene Räume gebracht. In der Eingangshalle blieben nur zwei Leichen und vier Schwerverletzte mit roten Armbinden zurück. Noah befahl den Soldaten, die Verletzten vor den Eingang zum Operationssaal zu bringen. Dort schrieb er ihnen mit Kreide Zahlen auf die Stirn, die die Reihenfolge festlegten, nach der sie behandelt werden mussten. Von den vier Soldaten schwebte nur einer in wirklich akuter Lebensgefahr. Es war ein junger Schwarzer, der eine Kugel in den Magen bekommen hatte. Wenn man ihn nicht bald operierte, würde er verbluten.

Noah versuchte verzweifelt, die Blutung mit Hilfe eines Handtuchs zu stoppen. Er drückte mit aller Kraft die Arterie ab, die das Gebiet versorgte. Als der Arzt endlich aus dem Operationssaal kam, war Noahs Hemd blutgetränkt, und der junge Soldat delirierte bereits.

«Doktor!», rief Noah. «Dieser Mann verliert viel Blut. Er braucht sofort Hilfe.» Der Arzt warf nur einen kurzen Blick auf den Patienten. «Schnell», befahl er. «Bringen Sie ihn hinein.» Dann verschwand er wieder hinter der Tür zum Operationssaal.

Als die Soldaten den Verwundeten auf eine Trage legten, erschien ihr befehlshabender Offizier. «Was tun Sie da?»

«Wir bringen den Verwundeten zum Arzt, Sir», antwortete einer der Soldaten.

«Und wer hat das angeordnet?»

Beide drehten sich gleichzeitig zu Noah um, den der Sergeant sofort wütend anblickte.

«Sind Sie vielleicht Arzt?»

«Nein, aber ich bin Medizinstudent. Dieser Mann wird sterben, wenn die Blutung nicht gestillt wird.»

Der Sergeant näherte sich dem Verletzten und warf ihm einen Blick zu. Danach drehte er sich zu dem Mann mit der Nummer zwei auf der Stirn um und zeigte auf ihn.

«Nehmen Sie diesen hier mit.»

«Das dürfen Sie nicht», rief Noah empört aus, als er zusehen musste, wie die Männer den Mann aufhoben, der sich nicht in unmittelbarer Lebensgefahr bestand, da ihm nur eine Kugel in der Schulter steckte.

«Seine Verletzung kann warten. Aber dieser Mann hier wird sterben, wenn er nicht sofort behandelt wird.»

Die Träger zögerten. Man musste kein Arzt sein, um zu sehen, dass es schlimm um den Patienten stand.

«Haben Sie nicht gehört, Soldaten?», befahl der Sergeant erneut.

In diesem Augenblick verlor der junge Mann das Bewusstsein. Verzweifelt blickte Noah sich um, aber es war sonst niemand da, der ihm helfen konnte.

«Gehorchen Sie!»

Noah richtete sich auf und versuchte dabei, weiter Druck auf die Arterie auszuüben. «Sehen Sie denn nicht, dass dieser Mann stirbt?», flehte er die Soldaten an.

«… Helfen Sie mir», stöhnte der Sterbende jetzt in einem letzten klaren Moment. Die Soldaten warfen nur einen kurzen Blick auf den Mann am Boden. «Es tut mir leid», sagte einer der beiden, während sie den Befehl ihres Sergeants ausführten.

Tränen der Ohnmacht rollten über Noahs Wangen. Er würde die Blutung nicht länger stoppen können. Er stand auf und hob den sterbenden Soldaten vorsichtig hoch, um ihn eigenhändig in den Operationssaal zu tragen. Aber der Sergeant trat ihm in den Weg. «Bleiben Sie sofort stehen!», schrie er drohend und legte seine Hand an den Gürtel.

Als Noah ihn nur wütend anblickte, zog der Sergeant seine Pistole und zielte auf Noahs Kopf. Verzweifelt blieb Noah stehen. Er kannte diesen hasserfüllten Blick. Der Mann würde ihn töten, ohne mit der Wimper zu zucken.

In diesem Moment hörte der Soldat in seinen Armen auf zu atmen.

«Verdammt, Sie haben ihn getötet», schrie Noah machtlos, während er den Körper des schwarzen Soldaten langsam auf den Boden legte. «Warum? Verdammt nochmal, warum? Er hat auf Ihrer Seite gekämpft!», schimpfte er und starrte die blaue Unionsuniform an.

Ohne das geringste Anzeichen von Reue betrachtete der Sergeant den leblosen Körper des Soldaten und sah Noah verächtlich an.

«Was bedeutet schon das Leben eines Schwarzen, wenn auch weiße Männer sterben könnten?» Dann steckte er seine Pistole in den Gürtel und ging.

Erregt verließ Noah das Krankenhaus und lief ziellos durch die Straßen. Sein Kopf war kurz davor zu explodieren. Er musste sich beruhigen und nachdenken. Der Tod des jungen Mannes hatte ihn tief getroffen. Er hatte so viele Hoffnungen gehegt, wollte mithelfen, eine neue Welt zu erschaffen, und jetzt hatte dieser niederträchtige Sergeant alles zunichtegemacht. Nur wegen seiner Hautfarbe hatte der Sergeant das Leben eines Mannes weggeworfen. Und niemand hatte einen Finger gekrümmt, um ihm zu helfen. Der junge Mann hatte sein Leben für die Union gegeben, aber das schien außer ihm niemanden zu interessieren. Vor Wut und Verzweiflung hätte Noah schreien mögen. Am Fluss blieb er stehen und betrachtete das kristallklare Wasser. Dann holte er seufzend das Rekrutierungsformular aus seiner Jackentasche, knüllte es zusammen und warf es in den Potomac.

Sie hatten recht, Professor Watson, dachte er bei sich, während der Fluss das Papier in Richtung Meer davontrug. Das hier ist nicht mein Krieg.

Am gleichen Abend nahm er einen Zug nach Boston. Sobald er angekommen war, bat er den Professor darum, ihn wieder im Massachusetts General Hospital aufzunehmen. Wenn Noah auf seiner Reise nach Washington etwas begriffen hatte, dann, dass er nicht eher ruhen würde, bis er endlich Arzt war.

***

«Du musst dich etwas ausruhen», sagte Charlotte, als sie Hortensias Augenringe bemerkte.

«Ich weiß. Aber ich kann nicht. Es ist so heiß, und ich kann kaum schlafen.»

«Natürlich, das Baby wird ja auch bald kommen.»

Hortensia und Charlotte waren überglücklich gewesen, als Noah auf einmal wieder vor ihnen stand. Doch Hortensia wurde zusehends stiller, je näher der Geburtstermin rückte.

«Was ist nur mit dir los?», fragte Charlotte, die schon längst bemerkt hatte, dass ihre Schwester sich mehr und mehr in ihr Schneckenhaus zurückzog. «Was macht dir Sorgen?»

«Gar nichts.»

«Hortensia», drängte Charlotte. Mit einer so offensichtlichen Lüge gab sie sich nicht zufrieden.

«Ich habe Angst», gestand ihr ihre Schwester.

Zum ersten Mal in ihrem Leben überlegte Charlotte einen Moment, bevor sie antwortete. Fest nahm sie ihre Schwester in den Arm.

«Alles wird gut. Der Arzt sagt, dass alles in Ordnung ist, und jetzt, wo Noah zurück ist, musst du dir keine Gedanken mehr machen.»

«Das weiß ich doch. Es ist so dumm von mir», sagte Hortensia und schwieg.

Aber auch Charlotte war besorgt. Schließlich war Molly gestorben, als sie Hortensia zur Welt gebracht hatte. Schnell verbannte Charlotte diesen Gedanken aus ihrem Kopf. Es würde nichts passieren. Jeden Tag wurden Kinder geboren, und ihren Müttern ging es gut.

Hortensia verknotete ihre Hände ineinander, und es schien, als wollte sie etwas sagen, doch sie seufzte bloß.

«Was ist denn nur, Schwesterchen?», sagte Charlotte zärtlich. «Du kannst mir doch alles sagen.»

Hortensia zögerte.

«Und wenn es nun …»

Sie konnte den Satz nicht zu Ende sprechen.

«Ganz gewiss nicht», antwortete Charlotte, die die Ängste ihrer Schwester erriet.

«Aber wenn doch?»

«Hat Brian etwa irgendetwas gesagt?»

Heftig schüttelte Hortensia den Kopf. Aber ihr standen Tränen in den Augen.

«Nein. Er hat nie etwas gesagt. Aber ich weiß, dass er daran denkt. Ich will nicht, dass du denkst, dass ich mein Kind nicht lieben würde», sagte Hortensia schnell und blickte verlegen zu Boden. «Mit ganzer Seele werde ich es lieben. Aber ich möchte nicht, dass es leiden muss.»

«Das weiß ich doch», beruhigte Charlotte sie.

«Du musst mich für ein Monster halten.»

Hortensia fürchtete, dass ihr Kind keine weiße Haut haben könnte, gleichzeitig litt sie deswegen aber unter schrecklichen Gewissensbissen. Der Zwiespalt quälte sie so sehr, dass sogar ihre Gesundheit darunter litt.

«Sag so etwas nicht, Hortensia. Mach dir nicht so viele Gedanken», tröstete sie ihre Schwester und wischte ihr die Tränen aus dem Gesicht. «Es wird ein wunderschönes Baby, egal welche Hautfarbe es hat. Alle werden es lieben, und ich werde die stolzeste Tante der Welt sein.»

In der gleichen Nacht noch wachte Hortensia um drei Uhr früh auf. Das Kind kam so schnell, dass keine Zeit war, den Arzt zu rufen, und Noah seine Nichte selbst auf die Welt holte. Er nahm sie auf den Arm, küsste sie zärtlich und übergab sie Charlotte.

Die betrachtete den Körper des Neugeborenen. Lächelnd streichelte sie die winzigen Händchen und dankte Gott, dass Mutter und Tochter wohlauf waren. Dann wusch sie das Kind, wickelte es in eine Decke und brachte es Hortensia, die gerührt in Tränen ausbrach.

Fesseln des Schicksals
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