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Die kleine Molly sah ihrer Mutter jeden Tag ähnlicher. Ihre Augen waren dunkel wie die ihres Vaters, ihre blonden Haare hatte sie von beiden Elternteilen geerbt. Sie war ein aufgewecktes und fröhliches Kind und wuchs glücklich auf. Ihre Familie liebte sie, und ihr Bruder Peter wurde seines neuen Spielzeugs nicht müde.
In dieser friedlichen Welt schien der Krieg nur ein Trugbild zu sein. Aber leider war er eine Realität. Der absurde Kampf, der tausende Menschen das Leben gekostet und Hass in den Herzen gesät hatte, dauerte nun schon über drei Jahre.
Charlotte musste an Frank denken, ihren Kollegen aus der Redaktion, der schon wenige Monate nach Beginn des Krieges gefallen war. Manchmal fürchtete sie, dieser Albtraum würde nie aufhören.
Nachdenklich saß Charlotte am kleinen Teich im Garten und sah ihrer Nichte dabei zu, wie sie einem kleinen Vogel hinterherlief. Obwohl sie schon drei Jahre alt war, hatte ihr Vater sie nur ein einziges Mal sehen können. Hoffentlich war dieser verfluchte Krieg bald vorüber.
Im Stillen betete sie für Brian, der irgendwo in North Carolina stationiert war. Und auch für Noah, der sich, nachdem er sein Studium im Sommer beendet hatte, dem Ärztekorps angeschlossen hatte. Man hatte ihn in ein Militärkrankenhaus in Maryland geschickt, nur wenige Meilen von der Grenze zu Virginia entfernt. Zum Glück musste sie sich wenigstens um Scott keine Sorgen machen. Denn obwohl niemand je von ihm sprach und sie auch nie fragte, wohin er verschwunden war, wusste Charlotte mit Gewissheit, dass er sich nicht zum Kampf gemeldet hatte.
Sie betete auch für ihre Familie und für Freunde in Virginia. Und für Richard, den Mann, den sie geliebt hatte und von dem sie seit Jahren nichts mehr gehört hatte.
Charlotte wickelte sich fester in ihren Schal. Plötzlich war es kühl geworden.
Als sie zusammen mit Molly wieder ins Haus kam, saß Hortensia im Salon bei einer Stickarbeit.
«Es wird bald schneien», sagte Charlotte und schloss die Tür.
Molly lief zu ihrer Mutter, die ihr einen Kuss auf das kalte Gesicht gab. Hortensia knöpfte ihrer Tochter den Mantel auf und nahm ihr die Mütze ab.
«Mami, für dich!»
Hortensia nahm die Kieselsteine aus der Hand ihrer Tochter und bewunderte sie, als wären es wertvolle Edelsteine.
«Wie schön», sagte sie und gab Molly noch einen Kuss. «Hast du sie schon Tante Charlotte gezeigt?»
Das kleine Mädchen riss die Augen auf. «Nein!»
«Und worauf wartest du dann?»
Als Molly an Charlottes Rock zog, war ihre Tante tief in der Betrachtung des dunklen Flusses versunken. «Sie sind sehr hübsch. Du musst sie Peter zeigen, wenn er aus der Schule kommt.»
Das Mädchen legte ihren Schatz in ein Glasgefäß, holte dann ihre Lumpenpuppe, die auf einem Sessel gelegen hatte, und spielte mit ihr in einer Ecke des Zimmers.
In diesem Moment wurde an die Tür geklopft, und der Butler erschien kurz darauf im Salon.
«Miss Charlotte», entschuldigte er sich und hielt ihr ein Silbertablett mit einem Umschlag entgegen. «Das ist gerade für Sie abgegeben worden.»
«Danke, Victor.»
Sie nahm den Umschlag und riss ihn auf.
«Es ist eine Nachricht von Noah!»
Hortensia hielt den Atem an. «O Gott», rief sie mit erstickter Stimme. «Geht es ihm gut?»
Charlotte las die Nachricht laut vor. «Du musst dringend kommen. Deine Gegenwart ist zwingend erforderlich. Noah.»
Sie ließ das Blatt sinken. «Ich verstehe das nicht», sagte sie und konnte ihre Besorgnis nicht verbergen.
«Was wirst du tun?»
«Ich fahre nach Washington.»
«Und wie kommst du zu Noah?»
«Das Krankenhaus ist nur zwei Tagesreisen von der Hauptstadt entfernt. Ich werde mir irgendein Transportmittel suchen. Vielleicht kann ich eine Kutsche mieten.»
«Ich komme mit dir.» Hortensia stand auf.
«Nein. Du musst bei den Kindern bleiben.»
«Aber wenn ihm etwas passiert ist …»
«Es geht ihm sicher gut», beruhigte Charlotte ihre Schwester, aber sie wirkte nicht sehr überzeugt. «Sobald ich ihn sehe, gebe ich dir Bescheid.»
Schnell packte sie einen kleinen Koffer. Als sie das Haus verließ, drückte Hortensia ihr einen Zettel in die Hand.
«Was ist das?», fragte sie, als sie sah, dass es eine Adresse in Washington war.
«Scott wohnt dort.»
«Er ist in Washington?»
Hortensia nickte.
Charlotte wollte den Zettel nicht annehmen, aber Hortensia drängte sie. «Bitte. Ich bin beruhigter, wenn ich weiß, dass du jemanden hast, falls du in Schwierigkeiten bist. Bitte.» Hortensia beobachtete, wie Charlotte die Adresse in ihre Tasche steckte. «Pass auf dich auf, Charlotte», sagte sie mit feuchten Augen und umarmte ihre Schwester lange und innig.
***
Kaum war Charlotte in Washington angekommen, fand sie einen Mann, der sie auf der Landstraße zu dem Krankenhaus brachte, wo Noah arbeitete.
Je weiter sie nach Süden kam, desto deutlicher machte sich der Krieg bemerkbar. Es gab mehr Kontrollen, und auf den Straßen, auf denen man früh am Morgen schon Raureif sehen konnte, waren ganze Regimenter unterwegs. Vier Tage nachdem sie Boston verlassen hatte, kam Charlotte endlich vor dem Krankenhaus an. Sie war vollkommen erschöpft. Mit einem tiefen Seufzer nahm sie ihren Koffer. Sie musste auf alles gefasst sein.
«Ich suche Doktor Lacroix», sagte sie zu einer Krankenschwester, die solche Ringe unter den Augen hatte, als hätte sie nächtelang nicht geschlafen.
Die Krankenschwester zeigte auf die Treppe. «Im ersten Stock.»
Beruhigt atmete Charlotte auf. Zumindest lebte er noch.
Nachdem sie die Stufen hinaufgestiegen und an unzähligen Verletzten vorbeigekommen war, streckte Charlotte ihren Kopf in einen Saal und wandte sich erneut an eine der vielen Krankenschwestern, die sich um die Verwundeten kümmerten.
«Doktor Lacroix, bitte?»
Die Krankenschwester lächelte ihr zu und deutete auf einen Vorhang, der den Saal teilte.
«Dort hinten, Miss.»
«Danke.»
Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als Charlotte zögernd auf den Vorhang zuging. Sie versuchte, sich innerlich auf das Schlimmste vorzubereiten. Erst nachdem sie all ihren Mut zusammengenommen hatte, schob sie den Vorhang beiseite.
Noah schrieb in aller Ruhe etwas auf die Tafel am Fußende eines Krankenbettes. Er wirkte verändert. Es waren nur wenige Monate vergangen, seit er seine Approbation bekommen hatte, und er war immer noch der elegante und aufrechte junge Mann, der im nächsten Monat achtundzwanzig werden würde. Aber trotzdem war da etwas Unbekanntes an ihm. Er sah müde aus, und in seinem ernsten Gesicht spiegelten sich die Schrecken des Krieges, die er in den letzten Monaten erlebt hatte.
«Noah!», rief Charlotte, ließ den Koffer auf den Boden fallen und fiel ihrem Bruder um den Hals. «Ich hatte schon gedacht, dass dir etwas passiert wäre. Du hast uns einen furchtbaren Schrecken eingejagt.»
«Mir geht es gut, Charlotte.»
«Gott sei Dank!», rief sie aus und sah ihn prüfend an, um sicherzugehen, dass er sie auch nicht belog.
«Wirklich», lächelte Noah. «Mit mir ist alles in Ordnung.»
«Und deine Nachricht?»
Als Charlotte den Brief erwähnte, führte Noah seinen Finger an die Lippen, damit sie schwieg. Sie gehorchte. Dann sah er sich vorsichtig nach seinem Patienten um, der aber im Moment nicht bei Bewusstsein war, und trat noch näher an seine Schwester.
«Ich konnte nicht deutlicher werden», flüsterte er. «Man weiß nie, wer einem alles nachspioniert.»
«Was ist denn los, Noah?»
Noah beendete noch schnell die Notizen auf der Tafel des Patienten und gab dann Charlotte ein Zeichen, ihm zu folgen. In einem kleinen Raum überreichte er ihr den Kittel einer Krankenschwester. «Zieh das an.»
«Was ist los, Noah? Du machst mir Angst!»
«Du wirst so tun, als wärst du eine Krankenschwester. Und sag kein Wort, Charlotte.» Sie nickte.
«Man hat ihn vor ein paar Tagen mit zwei Kugeln im Rücken hergebracht», erklärte Noah. «Er hatte viel Blut verloren, und ich dachte schon, er würde sterben. Er ist zwar noch immer sehr schwach, und sein Fieber ist bisher nicht gesunken, aber wahrscheinlich wird er sich wieder erholen.»
Gerade wollte Charlotte fragen, von wem eigentlich die Rede war, als sie zu einem Zimmer kamen. Die Tür wurde von einem kaum achtzehnjährigen Gefreiten der Union bewacht.
«Doktor», sagte er und salutierte.
«Guten Tag, Gefreiter. Ich möchte meinen Patienten sehen.»
Der Soldat warf einen misstrauischen Blick auf Charlotte. «Das ist die neue Schwester», teilte Noah ihm mit. «Sie ist gerade erst angekommen und wird mir helfen.»
Offensichtlich gab der Gefreite sich mit der Erklärung zufrieden, denn er holte einen Schlüssel aus seiner Uniformjacke und öffnete die Tür. Charlotte folgte Noah, der rasch die Tür hinter ihnen schloss.
«Ich verstehe das alles nicht», sagte Charlotte und blickte ihren Bruder verwirrt an.
«Sieh dir erst einmal den Patienten an.»
Charlotte gehorchte. Leise ging sie einen Schritt vor und warf einen Blick auf den Mann, der schlafend im Bett lag.
Ihr Herz machte einen kleinen Sprung, als sie ihn erkannte. Fast musste sie einen Schrei unterdrücken. Das Haar war inzwischen gewachsen, und ein dichter blonder Bart bedeckte einen Teil seines Gesichts, aber es gab keinen Zweifel. Es war Richard.
«Richard! O mein Gott!»
Noah warf Charlotte einen warnenden Blick zu. Sie musste vorsichtig sein. Der Soldat, der auf der anderen Seite der Tür wartete, konnte jeden Moment eintreten.
«Wie ist er hier nur gelandet?»
«Man hat ihn am Strand gefunden. Sein Schiff hatte versucht, die Blockade zu durchbrechen, ist aber entdeckt worden. Es wurde versenkt. Ich habe keine Ahnung, wie er es angestellt hat, die Küste lebend zu erreichen.»
Charlotte nahm das feuchte Tuch von Richards Stirn und streichelte sanft sein Gesicht.
«Er glüht ja!»
«Sein Fieber ist gestiegen. Aber er ist stark. Er wird es überstehen.»
Das Blut pochte Charlotte heftig in den Schläfen. So oft hatte sie davon geträumt, ihn wiederzusehen. Vor ihm zu stehen und ihm in die Augen sehen zu können. Und nun lag er vor ihr. Verletzt und wehrlos.
«Was wird mit ihm geschehen?»
«Er ist ein hochrangiger Offizier. Es gibt kaum eine begehrtere Beute. Sobald sichergestellt ist, dass er den Transport übersteht, wird man ihn in das Gefängnis etwas weiter flussaufwärts bringen.»
«Aber das dürfen sie nicht. Er ist sehr krank!»
Noah antwortete nicht. Leider kannte er dieses Gefängnis nur zu gut. Zweimal hatte er dort hingehen müssen. Und beide Male war er sehr niedergeschlagen wieder gegangen. Ein böses Schicksal wartete dort auf die Männer, die sich entschieden hatten, für die Aufrechterhaltung der Sklaverei zu kämpfen. Die konföderierten Gefangenen wurden in enge, dreckige Zellen gepfercht und starben wie die Fliegen an Unterernährung und Tuberkulose.
«Wir dürfen nicht zulassen, dass sie ihn mitnehmen. Er wird das nicht überleben. Du musst es verhindern.»
«Das weiß ich. Aber ich werde ihn nicht mehr lange hierbehalten können. Es wird gemunkelt, dass es bald eine große Schlacht geben wird, und sie brauchen Informationen. Ein, höchstens zwei Tage kann ich ihn vielleicht noch schützen, dann nehmen sie ihn mit.»
In diesem Moment schlug Richard die Augen auf. «… Charlotte», flüsterte er verwirrt.
Rasch beugte sie sich zu Richard hinunter und strich ihm zärtlich über den Kopf.
«Liebste», murmelte er mit schwacher Stimme. Charlotte nahm Richards Hand und legte sie sich an die Wange.
«Ja, ich bin es, Richard», flüsterte sie mit Tränen in den Augen. «Du wirst wieder gesund. Das verspreche ich dir. Ich werde mich um alles kümmern.»
Noah trat diskret einen Schritt zurück.
«Ich habe dir so viel zu sagen.» Richards Körper war vom Fieber so geschwächt, dass er sich anstrengen musste, um verständliche Worte herauszubringen.
«Jetzt nicht», beruhigte ihn Charlotte. «Du musst dich ausruhen.»
«Ich habe geglaubt, ich würde dich nie wiedersehen. Dein Vater hat gesagt, du bist in New Orleans. Ich könnte es nicht ertragen, dass du mich hasst, Charlotte.»
«Wie könnte ich dich hassen, Richard.»
«Ich … du verstehst nicht. Ich habe es gewusst», gestand er gequält. «Mein Onkel hat es mir gesagt. Doktor Steward. Er war dabei, als deine Mutter dich zur Welt brachte. Ich weiß, dass sie eine Sklavin war. Dass sie bei der Geburt gestorben ist und dass dein Vater beide Mädchen anerkennen musste.»
Noah warf Charlotte einen Blick zu, aber sie blieb unbeweglich.
«Das ist nicht mehr wichtig», sagte sie und bemerkte betrübt, wie Richards Körper von Krämpfen geschüttelt wurde. «Quäle dich nicht so. Ich weiß, dass du Camille geheiratet hast, um mich zu schützen.»
«Du weißt es?»
«Scott hat es mir erzählt. Aber jetzt bist nur du wichtig. Du musst wieder gesund werden.»
Richard schüttelte den Kopf.
«Doch. Es ist wichtig. Ich hätte nicht auf die Erpressung meines Onkels eingehen dürfen. Ich hätte dich heiraten müssen», stöhnte er atemlos. «Ich vermisse dich so sehr …»
Die Anstrengung hatte Richard seine letzten Kraftreserven gekostet.
«Quäle dich nicht mehr.» Charlotte gab Richard einen Kuss auf die glühende Wange. «Ruh dich aus. Schlaf. Alles wird gut.»
«Charlotte … ich liebe dich.»
Richard schloss die Augen.
Noah kam näher und fühlte seinen Puls. «Er schläft.»
Ein letztes Mal betrachtete sie Richard. Er wirkte so gequält. Sein Schlaf war unruhig. Auch er war ein Opfer gewesen. Bei dem Gedanken spürte Charlotte eine Welle von Zuneigung in sich aufsteigen. Er liebte sie. Er hatte sie immer geliebt.
«Er wusste es also?», fragte Noah, der langsam anfing zu verstehen, was geschehen war.
Charlotte drehte sich zu ihrem Bruder um und nickte. «Er glaubte es zu wissen.»
«Und du hast ihn die ganze Zeit in dem Glauben gelassen, dass du Mollys Tochter bist?»
«Als ich erfuhr, was geschehen war, war es längst zu spät. Er hatte Camille schon geheiratet. Er hat sich geopfert, um mich zu retten, Noah.»
«Dann sag es ihm jetzt.»
«Wozu sollte das gut sein? Er ist ein verheirateter Mann. Die Wahrheit würde seinen Kummer noch verschlimmern. Schließlich konnte er mich nicht beschützen, weil die Gefahr gar nicht von seinem Onkel ausging, sondern von unserem Vater. Ich kann ihm doch nicht sagen, dass sein Opfer umsonst war. So hat er wenigstens einen Trost.»
Noah war ein pragmatisch denkender Mann. Charlotte hatte recht. Es hatte wenig Sinn, in der Vergangenheit herumzuwühlen, wenn man die Zukunft nicht mehr ändern konnte.
«Was sollen wir tun?»
Instinktiv legte Charlotte die Hand auf ihre Tasche.
«Ich weiß jemanden, der uns helfen wird.»
***
Nachdem Charlotte Hortensia eine Nachricht geschickt hatte, in der sie ihr mitteilte, dass es Noah gutging und sie selbst bald zurückkommen würde, verabschiedete sie sich von ihrem Bruder und brach nach Washington auf. Genau wie auf dem Hinweg kam sie nur langsam voran. Die Landstraßen waren in schlechtem Zustand, und es war nicht einfach, eine Transportmöglichkeit zu bekommen. In der Stadt angekommen, nahm sie sich ein Zimmer bei einer alten Witwe. Sie badete und zog sich langsam an. Schließlich ließ sie eine Kutsche kommen und übergab dem Kutscher die Adresse, die Hortensia aufgeschrieben hatte.
«Wir sind am Ziel», rief der Kutscher und blieb vor einem Gebäude mit abblätternder Farbe stehen.
Plötzlich sank Charlotte das Herz, und sie blieb kraftlos sitzen.
«Geht es Ihnen gut, Miss?», fragte der Kutscher.
«Bitte?», antwortete Charlotte wie abwesend.
«Ob es Ihnen gutgeht? Sie sind ganz blass geworden.»
«Es ist nichts, danke», gab Charlotte zurück und kramte ein paar Münzen aus ihrer Tasche.
Der Mann bedankte sich und öffnete die Wagentür. Charlotte stieg aus und ging zur Tür des Gebäudes. Am liebsten wäre sie noch länger dort stehen geblieben, um ein wenig nachzudenken, aber der Kutscher wartete noch, anscheinend um ihren Zustand besorgt. Erst als sie die Schwelle übertreten hatte, hörte sie, wie die Pferde sich wieder in Bewegung setzten. Einen Moment lang lehnte sie sich im Hausflur an die Wand und atmete tief durch. Dann machte sie sich daran, die Treppen hinaufzusteigen.
Als sie vor Scotts Wohnungstür stand, hielt Charlotte den Atem an. Vielleicht war er ja gar nicht zu Hause. Sie wäre die Treppe gern direkt wieder hinuntergerannt. Aber sie war nie feige gewesen und erst recht nicht jetzt, wo Richards Leben in ihren Händen lag.
Noch einmal atmete sie tief ein. Dann klopfte sie.
Als sie das Knarren der Dielen auf der anderen Seite der Tür hörte, fing ihr Herz an zu klopfen.
Dann tauchte Scotts lächelndes Gesicht aus dem Dunkel auf.
«Hallo, Scott.»
Im ersten Moment sah er sie nur schweigend an, dann trat er zur Seite und bat sie herein.
Die Wohnung sah nicht viel besser aus als die in Boston. Sie war zwar sauber und aufgeräumt, der Raum war aber trotzdem nicht anheimelnd. Als Scott ihr einen Stuhl anbot, zog Charlotte es vor, stehen zu bleiben.
Niemand sagte ein Wort. Unverwandt sah Scott sie an, aber Charlotte konnte seinen Blick nicht aushalten und wandte jäh ihr Gesicht ab.
«Was tust du hier, Charlotte?», fragte Scott schließlich leise.
Sie sah ihm in die Augen.
«Ich brauche deine Hilfe, Scott. Ich habe sonst niemanden, den ich darum bitten könnte», brach es aus ihr hervor. Verzweifelt ließ sie sich auf den Stuhl fallen, den sie eben noch abgelehnt hatte. «Ich weiß nicht, was ich tun soll. Es geht um Richard», sagte sie und versuchte vergeblich zu erkennen, welche Wirkung ihre Worte auf Scott hatten. «Er ist verletzt.»
Scotts Gesichtsausdruck veränderte sich.
«Was ist geschehen?»
«Vor ein paar Tagen ist auf ihn geschossen worden. Man hat ihn gefunden und in Noahs Krankenhaus gebracht. Noah hat mich benachrichtigt. Scott … er ist so schwach …», sagte Charlotte und brach in Tränen aus.
Scott kniete sich neben Charlotte und ergriff ihre Hände.
«Charlotte», sagte er beruhigend. «Erzähl mir, was geschehen ist.»
«Noah hat gesagt, dass sie ihn in das Gefängnis verlegen, wo sie die konföderierten Soldaten hinbringen. Das wird er nicht überleben», stöhnte sie.
Scott wurde noch ernster. Auch er hatte von diesem Gefängnis gehört.
«Ich weiß nicht, was ich tun soll. Noah kann ihn nicht mehr lange im Krankenhaus behalten. Vielleicht wenn wir Brian finden könnten … er hat viele einflussreiche Freunde.»
«Nein. Er kann uns nicht helfen. Er könnte dadurch Schwierigkeiten bekommen.»
«Was sollen wir sonst tun?»
Scott lächelte.
Fast hatte Charlotte vergessen, wie sehr sie dieses verschmitzte und beruhigende Lächeln vermisst hatte.
«Ich verspreche dir, dass ich mich darum kümmern werde.»
«Aber …»
«Alles wird gut, Charlotte. Vertrau mir.»
«Ich habe nie aufgehört, dir zu vertrauen, Scott.»
Scott nahm Charlotte das Versprechen ab, dass sie am nächsten Tag nach Boston zurückkehren würde. Natürlich weigerte sie sich, aber Scott ließ nicht mit sich reden. Man sollte sie nicht mit dem in Verbindung bringen können, was er vorhatte. Am nächsten Morgen nahm Charlotte den Zug nach Hause.