18
Ich schloss die Augen und riss sie wieder auf. Die wabernde weiße Wolke war noch immer da – solider als ein Nebel und doch als nichts anderes identifizierbar.
Das Handy hatte wieder aufgehört zu läuten. Ich hielt mein eigenes noch immer stumpfsinnig an mein Ohr, bevor ich es mit steifen Bewegungen zuklappte und einsteckte, ohne die Augen ein einziges Mal von dem wogenden weißen Schemen zu nehmen. Vielleicht spukte es hier ja doch.
Es hätte mich nicht überrascht. Viertausend Cherokee waren auf dem Pfad der Tränen umgekommen. Warum sollten nicht ein paar ihrer Geister zurückgekehrt sein?
Ich fürchtete mich nicht vor Geistern. Zumindest nahm ich das an. Weil ich nämlich noch nie einem begegnet war.
Trotzdem hielt ich, vor Anspannung zitternd, den Atem an, während ich die Alternativen Flucht oder Kampf gegeneinander abwog. Wie kämpfte man gegen ein Gespenst?
Dieses Problem erledigte sich von selbst, als sich das wabernde Weiß zu einer Frau verdichtete und Grace mit nichts als einem weißen Baumwollmorgenmantel bekleidet aus dem Wald kam.
Sie blieb stehen, als sie mich im Garten entdeckte. Wir blinzelten einander an.
„Was tust du …“, fragten wir unisono und verstummten.
„Gibt es ein Problem?“ Grace zog eine Braue hoch.
Ich war mir nicht sicher, ob sie sich auf die Stadt bezog oder darauf, dass sie mit kaum mehr als einem Handtuch bekleidet im Wald herumlief. Man brauchte keinen Röntgenblick, um zu erkennen, dass sie darunter nackt war.
„Claire?“ Grace ging an mir vorbei zum Haus. „Gibt es ein Problem in der Stadt?“
„Nein. Ich meine, ja. Nun, nicht in der Stadt.“
Sie warf mir einen ungeduldigen Schulterblick zu, und ihr dunkles Haar, das vor dem Hintergrund des weißen Morgenmantels noch dunkler wirkte, schwang zur Seite.
„Konzentrier dich!“ Sie drehte den Türknauf.
Ich runzelte die Stirn. Die Tür war verschlossen gewesen. Oder vielleicht wusste ich einfach nicht, mit welchem Trick man den Knauf drehen musste. Alte Häuser waren in dieser Hinsicht unberechenbar.
„Ich habe versucht, dich anzurufen“, erklärte ich. „Ich habe dein Handy klingeln hören …“
Grace fasste in ihre Tasche, hielt es hoch und wackelte damit.
„Warum bist du nicht rangegangen?“
„Muss rausgefallen sein. Zum Glück hast du angerufen, sonst hätte ich es nie gefunden.“
„Was hast du da draußen gemacht?“
Grace verschwand im Haus, ließ die Tür aber offen, was ich als Einladung verstand, ihr zu folgen.
Das Innere war noch fast genau so, wie ich es in Erinnerung hatte – ein altes Gemäuer, das im Laufe der Jahre peu à peu modernisiert worden war. Die Wandfarbe war eine andere. Ein neuer Teppichboden hellte die Diele auf, und im Wohnzimmer standen neue Möbel. Die Hartholzböden glänzten ein bisschen stärker als zu Zeiten von Grace’ Vater.
Was die Küche betraf, war sie bereits in den Achtzigern renoviert worden und bestach noch immer durch blaugrüne Geräte und einen pfirsichfarben-weißen Vinylboden. Echt geschmackvoll.
In der kleinen Gästetoilette neben der Diele lief Wasser, dann ging die Tür auf, und Grace kam vollständig bekleidet – abgeschnittene Jeans und ein blaues Batik-T-Shirt – heraus. „Möchtest du einen Drink?“
Sie ging in die Küche. Mir blieb nur die Wahl, ihr zu folgen oder allein in der Diele stehen zu bleiben.
Grace wandte sich vom Kühlschrank ab und zielte mit einer Bierdose auf meinen Kopf. Ich fing sie, wenn auch ungelenk. Als ich den Verschluss öffnete, sprudelte das Bier so schnell heraus, dass ich etwas davon abtrinken musste, um eine Schweinerei zu verhindern.
Sie nahm einen kräftigen Zug aus ihrer Büchse, bevor sie aus dem dunklen Rechteck des Fensters starrte, das den Garten überblickte. „Ich hatte etwas gehört“, murmelte sie.
„Und deshalb bist du im Morgenmantel nach draußen gerannt?“ Das sah ihr nicht ähnlich. Das Gleiche galt im Übrigen für den Morgenmantel.
Sie zuckte die Schultern, ging jedoch nicht weiter darauf ein.
„Was, wenn das, was du gehört hast, der Wolf war?“
„Ich denke, dass dieser Wolf längst fort ist.“
„Falsch gedacht.“
Grace hatte gerade wieder ihre Büchse zum Mund geführt, aber jetzt hielt sie inne, schluckte laut, dann setzte sie sie mit einem metallischen Klacken auf dem Tresen ab. „Du hast ihn gesehen?“
„Ja.“
Nachdem ich ihr geschildert hatte, was passiert war, rechnete ich halb damit, dass sie sich eine Waffe schnappen und davonstürzen würde, aber das tat sie nicht.
„Ich konnte heute keinen einzigen Hinweis auf ihn entdecken“, bekannte sie, „und auch Ryan Freestone wurde von niemandem gesehen. Ich muss einen Jägertrupp zusammenstellen.“
„Wann?“
„Gleich morgen.“
Ich verzog das Gesicht. Grace stand genauso lange wie ich im Licht der Öffentlichkeit; sie wusste, was ich dachte.
„Ich werde die Sache unter Verschluss halten. Wir brechen bei Morgengrauen auf und sind aus der Stadt, bevor die Einwohner, ganz zu schweigen von den Touristen, aus den Federn sind.“
„Danke.“
„Ich kann es nicht hinausschieben.“
„Ich weiß.“
„Ich dachte wirklich, dass sich das Tier inzwischen in die Berge geflüchtet hätte. Warum bleibt es so nahe bei den Menschen? Das passt nicht zu einem Wolf.“
„Er könnte tollwütig sein.“
„Du steckst wirklich voller froher Botschaften.“
Ich nippte wieder an meinem Bier. „So bin ich nun mal. Eine echte Susi Sonnenschein.“
Grace schnaubte verächtlich. „Ich werde ihn morgen unschädlich machen.“
„Ich weiß“, wiederholte ich.
Schweigen breitete sich aus, aber es war nicht kameradschaftlich, sondern angespannt, und ich verstand nicht, warum. Ich musste es brechen.
„Es sieht hier fast noch so aus wie früher.“
„Ich habe weder die Zeit noch das Geld, viel umzumodeln.“
„Spielst du auf eine Gehaltserhöhung an?“
„Darauf spiele ich laufend an. Gewöhn dich dran.“
„Meine Bemerkung war übrigens nicht böse gemeint“, erklärte ich. „Ich habe auch nicht die Energie oder die Zeit, mich um mein Haus zu kümmern.“
„Ich …“ Sie brach ab, trank einen Schluck Bier, blickte zur Decke und seufzte. „Oben habe ich ein bisschen was verändert.“
„Ach ja?“
„Ich habe Dads Schlafzimmer in mein Büro verwandelt und mein eigenes auf Vordermann gebracht.“
„Hast du etwa das *NSYNC-Poster abgenommen?“
„Das musste ich. Es war zu peinlich.“
„Und die Barney-Geröllheimer-Bettwäsche?“
„Die ist auch weg.“
In Wahrheit hatte es in Grace’ Zimmer, anders als in meinem, nie etwas Peinliches gegeben. Meine Pompoms, die Einhörner, die rosarote und weiße Spitze – ich wollte lieber nicht daran denken. Ich schlief jetzt im Gästezimmer, damit mir nicht jeden Abend übel wurde.
Als Kind hatte Grace Panther gesammelt – ihre Wände waren mit Zeitschriftenpostern beklebt, ihre Kommode und ihr Nachtkästchen mit Stofftier-Panthern und Figuren vollgestellt gewesen, ihr Bücherregal mit fiktiven Geschichten und Sachbüchern.
Das mochte seltsam anmuten, es sei denn, man kannte sich mit der Tradition der Cherokee aus. In dieser matrilinearen Gesellschaft wurden die Kinder als Angehörige des Stammes ihrer Mütter geboren. Es gab sieben verschiedene, und Grace gehörte zum Blauen Klan, auch bekannt als Wildkatzen-Klan oder Panther.
Sie nahm dieses Erbe sehr ernst, nicht zuletzt deshalb, weil heutzutage ein Großteil des Cherokee-Wissens über solche Klan-Zugehörigkeiten verloren war. Nur sehr wenige wussten mit Gewissheit, woher sie kamen.
„Darf ich sehen, was du oben gemacht hast?“, fragte ich.
Grace zuckte mit den Schultern, dann führte sie mich die Treppe hinauf.
Im Gegensatz zu meinem Haus verfügte Grace’ über drei Etagen: das Erdgeschoss mit dem Wohnbereich, den ersten Stock, wo sie und ihre Brüder geschlafen hatten, und den zweiten Stock, der von ihrem Vater bewohnt worden war.
Sämtliche Türen in der ersten Etage waren geschlossen. Ich überlegte kurz, ob ihre Brüder ihre Siebensachen wohl mitgenommen oder sie einfach zurückgelassen hatten. Die Frage war im selben Moment vergessen, als wir Grace’ Zimmer erreichten und sie die Tür aufstieß.
Verschwunden war jeder Hinweis auf ihre Panther-Sammlung, stattdessen erwartete mich die heimelige und trotzdem moderne Interpretation eines Dschungels.
Die Wände waren moosgrün gestrichen. Der Teppich war ein flauschiges blaues Meer. Die Tagesdecke ließ an hunderttausend Grashalme denken, die in Reih und Glied über die Matratze marschierten. Seerosengleich sprenkelten violette und dunkelgrüne Kissen das Bett. Die zugezogenen Vorhänge waren farblich auf die Wände abgestimmt.
Wasser gurgelte – nicht das hartnäckige Tropfen eines Wasserhahns, sondern die weichen Töne eines Gebirgsbaches. Im ersten Moment dachte ich, dass eine New-Age-CD lief, bevor ich hinter einem Wandschirm, der einem moos- und blumenbewachsenen Sumpf in den Farben des Sonnenuntergangs nach einem heftigen Sommerregen nachempfunden zu sein schien, einen Zimmerbrunnen entdeckte.
Es roch hier sogar anders als im restlichen Haus – nach getrocknetem Gras und den Nachwehen eines Gewitters. Ich sah mich nach Kerzen, Potpourris, einer dieser kleinen elektrischen Duftlampen um, entdeckte jedoch nichts dergleichen.
„Es ist überwältigend.“
„Hier fühle ich mich zu Hause.“
Das Zimmer war mehr als behaglich. Mit den grünen Vorhängen vor den Fenstern, dem gurgelnden Wasser, den warmen Farben, dem dicken, kuscheligen Teppich und der gemütlichen Tagesdecke konnte ich mir mühelos vorstellen, mich hierher zurückzuziehen – ganz gleich, ob im Frühling, Sommer, Herbst oder Winter – und wie ein erschöpftes Baby zu schlafen.
Vielleicht sollte ich zu Hause auch ein wenig umdekorieren. Doch welche Art Zimmer könnte ich mir erschaffen, um darin Frieden zu finden, wenn der eigentliche Mangel an Frieden in mir selbst lag?
Jetzt hör auf mit diesem Quatsch oder bewirb dich für die nächste Dr.-Phil-Show. Aber ich hatte Psychoanalysen satt. Sogar meine eigenen.
Grace sah ostentativ auf ihre Armbanduhr.
„Oh! Bitte entschuldige.“ Ich ging zur Tür. „Ich weiß, dass du morgen früh aufstehen musst.“
Erst nachdem wir uns verabschiedet hatten und ich wieder im Auto saß, realisierte ich, dass Grace mir nicht gezeigt hatte, was aus dem Büro ihres Vaters geworden war.
Ich schaute zu dem einsamen Fenster im zweiten Stock hoch. Anstatt wie das übrige Haus in einem freundlichen gelben Kunstlicht zu erstrahlen, schimmerte dieses Fenster, als würde es von einem Dutzend flackernder Kerzen erhellt.
So was war gefährlich. Was, wenn Grace vergaß, sie zu löschen, bevor sie zu Bett ging?
In dem Vorsatz, schnell noch mal zu klingeln, um sie daran zu erinnern, legte ich die Hand auf den Türgriff, als Grace im Bürofenster auftauchte. Sie lehnte sich nach vorn, spähte nach draußen, sah mich und winkte mir zum Abschied zu, dann schloss sie die Jalousie.
Ich war unruhig während der Heimfahrt, und das nicht nur, weil ich ständig zwischen den Bäumen nach einem Reh oder einem einsamen Wolf Ausschau hielt. Etwas an meinem Besuch bei Grace beschäftigte mich, aber ich wusste nicht, was es war.
Es war nicht die verstohlene Art, mit der sie die Jalousie geschlossen hatte. Es war Nacht; ich sollte meine eigenen öfter schließen. Aber warum sich überhaupt die Mühe machen, im zweiten Stock einen Rollladen herunterzulassen? Niemand konnte hineinsehen, es sei denn, er hätte eine Feuerleiter oder könnte fliegen.
Was tat sie überhaupt dort oben? Wozu ein Büro mit Kerzen beleuchten? Es gab nur eine schnellere Methode, sich die Augen zu ruinieren – indem man sie sich ausstach.
Ich schüttelte den Kopf. Nicht meine Angelegenheit. Grace war schon immer ein bisschen anders gewesen, und genau darum mochte ich sie.
Ich fuhr an der Abzweigung zum See vorbei. Sämtliche Scheinwerfer waren erloschen; alles wirkte wie ausgestorben. War Malachi inzwischen zurück? Wohin war er überhaupt verschwunden?
Vorsichtig steuerte ich durch die Straßen von Lake Bluff. In jeder anderen Woche hätten wir noch vor Sonnenuntergang die Bürgersteige hochgeklappt, doch während des Vollmondfestivals flanierten die Menschen bis Mitternacht oder länger durch die Stadt.
Die Eisdiele hatte geöffnet, genau wie der Süßwarenladen und das Café. Paare schlenderten Arm in Arm umher und futterten Popcorn, das sie sich an dem hell erleuchteten Wagen auf dem Hauptplatz besorgten. Kinder sausten über die Grasflächen und machten Jagd auf Glühwürmchen. Eine Mutter schob einen Kinderwagen vor sich her, während sie sich die Schaufenster ansah und genüsslich an einer Eiswaffel leckte.
Ich entdeckte einen von Grace’ Beamten sowie mehrere Aushilfspolizisten, die an den Straßenecken Wache hielten. Alles schien unter Kontrolle zu sein. Ich hoffte bloß, dass der Lärm, die Lichter und das Essen – das Popcorn, das Eis und nicht zuletzt die Menschen – keinen Wolf anlocken würden.
Da es nichts gab, was ich deswegen hätte unternehmen können – außer den Befehl zu geben, die Straßen zu räumen und die Häuser zu versiegeln –, tröstete ich mich mit dem Gedanken, dass Grace ihren Job verstand, dass sie wusste, womit wir es zu tun hatten, und ihre Wachleute entsprechend instruiert hatte.
Als ich zwei weitere Polizisten sah, die am Ende der Center Street auf der schmalen Freifläche zwischen der Stadt und den Bäumen mit Gewehren patrouillierten, machte ich mich auf den Heimweg. Für den Moment war alles getan, was getan werden konnte.
Sekunden später bog ich in meine Einfahrt. Mein Haus machte keinen einladenden Eindruck. Da ich vergessen hatte, ein Licht anzulassen, wirkte es geradezu abweisend.
Ich parkte den Wagen im Carport, dann sprintete ich in der Hoffnung zur Tür, sie aufzubekommen, bevor meine Scheinwerfer ausgingen.
Ich hatte gerade die Schlüssel aus meiner Tasche gezogen, als die Scheinwerfer mit einem dumpfen Ächzen den Dienst quittierten. Das Licht der Straßenlaternen reichte kaum den Hügel hinauf; Wolken hatten sich vor den Mond geschoben. In der Ferne hörte ich schrilles Gelächter und das Zufallen einer Tür, aber das machte mir nur umso mehr bewusst, wie allein ich war.
Der Motor meines Autos ließ die typischen klickenden, absterbenden Geräusche hören, die beruhigend hätten sein sollen, es jedoch nicht waren. Aus unerfindlichen Gründen klangen sie wie menschliche Schritte.
Ich benahm mich idiotisch. Obwohl ich das wusste, zitterte meine Hand, als ich versuchte, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Der Schlüsselbund fiel mir aus der Hand und landete mit einem hellen Klirren auf dem Boden. Obwohl ich ihn selbst hatte fallen lassen, zuckte ich erschrocken zusammen.
Verärgert seufzend bückte ich mich, hob ihn auf und steckte einen der Schlüssel ins Schloss; meine Haustür schwang auf, und ich sah mich einer noch undurchdringlicheren Dunkelheit gegenüber, aus der mir zwei gelbe Augen entgegenstarrten. Ich schnappte nach Luft, bevor mich ein bösartiges Zischen dazu veranlasste auszurufen: „Oprah! Was ist bloß los mit dir?“
Das leise Kratzen hinter mir – ein Schuh oder eine Pfote – ließ mich blitzschnell herumwirbeln. In diesem Wimpernschlag, bevor meine Augen mit meinem Gehirn kommunizierten, wusste ich, dass hinter mir der Wolf war – bereit anzugreifen und mir die Kehle herauszureißen.
Dumm nur, dass ich mich irrte.