Kapitel eins
ÜBER NORDUGANDA
12. November, 02:03 Uhr GMT+3
Die Umgebung schien sich in der dröhnenden Dunkelheit aufzulösen. Craig Rivera fragte sich, ob Astronauten auch eine so umfassende Leere erlebten, ob sie so wie er jetzt das Gefühl hatten, nicht weit davon entfernt zu sein, Gott zu sehen.
Er blickte auf das schwache grüne Leuchten des Zifferblatts an seinem Handgelenk. Die Buchstaben waren kyrillisch, aber die Ziffern, die seine Höhe und die Koordinaten anzeigten, waren so, wie er es von seiner Trainingsausrüstung gewohnt war.
Rivera neigte sich leicht in Richtung Norden, während er in freiem Fall die Fünfzehntausend-Fuß-Marke passierte. Ein Hauch feuchter Wärme begann die Haut rund um seine Sauerstoffmaske auftauen zu lassen, und unter ihm wurde die Dunkelheit von vereinzelten schwachen Lichtpunkten durchbrochen.
Lagerfeuer.
Als die GPS-Anzeige bestätigte, dass er sich genau über der Landezone befand, drehte er sich einen Moment lang auf den Rücken und blickte zum Sternenhimmel hinauf, doch die Umrisse des Flugzeugs, aus dem er abgesprungen war, waren nicht mehr auszumachen.
Sie waren allein. Das wenigstens hatte man ihm ganz klar gesagt.
Er wusste nur wenig über das Land, in das er mit 200 km/h hinabstürzte, und noch weniger über den Mann, den sie finden sollten. Caleb Bahame war ein Terrorist und ein grausamer Mörder, über den sich die Leute so furchtbare Geschichten erzählten, dass man nur schwer sagen konnte, ob die Informationen über ihn der Wahrheit entsprachen oder reine Schauermärchen waren. Einige der Geschichten waren jedoch zweifellos wahr. Dass er seinen Männern befahl, kleinen Kindern die Glieder mit heißen Macheten abzuhacken, war durch Fotos belegt. Genauso wie das qualvolle Sterben der Kinder an ihren verbrannten Wunden.
Bilder wie diese ließen Rivera an der Vollkommenheit Gottes zweifeln. Hielt er wohl seine schützende Hand über diese Mission gegen Bahame?
Nicht dass solche philosophischen Fragen irgendeinen Einfluss gehabt hätten auf das, was sich Rivera vorgenommen hatte. Er würde herausfinden, ob dieser Bahame bei all seiner zerstörerischen Energie auch imstande war, Kugeln aufzuhalten, die auf ihn abgefeuert wurden. Für diesen Test würde er mehrere Magazine verfeuern.
Er sah erneut auf den Höhenmesser und drehte sich auf den Bauch. Durch seine Sprungbrille blickte er auf das Blätterdach des Dschungels hinunter. Einige Sekunden später wurde das Leuchten der Ziffern rot; er öffnete den Fallschirm und stürzte auf eine Lichtung zu, die er noch nicht sehen konnte, von der die Geheimdienstleute jedoch geschworen hatten, dass sie da war.
Er war nur noch etwas mehr als hundert Fuß über der Erde, als er seine Landezone erblickte und darauf zusteuerte. In dem Sekundenbruchteil, als er festen Boden unter den Füßen spürte, rollte er sich mit einer fließenden Bewegung ab, die er immer wieder trainiert hatte. Er schnappte seinen Fallschirm und lief zwischen die schützenden Bäume, dann warf er seine Ausrüstung auf den Boden und holte Nachtsichtbrille und Gewehr heraus.
Das etwas abgenutzte AK-47 fühlte sich ein wenig fremd in seinen Händen an, als er es von links nach rechts schwenkte und lauschte, wie seine Leute in Abständen von dreißig Sekunden landeten. Als der Vierte unten war, aktivierte er sein Kehlkopfmikrofon.
»Alles okay bei euch?«
Bei solchen Sprüngen blieb immer ein gewisses Restrisiko, deshalb spürte er, wie sich seine Anspannung ein wenig löste, als sich alle unverletzt meldeten.
Rivera schlich lautlos durch den Dschungel, das Dröhnen des Windes war dem Summen der Insekten und dem Kreischen der tropischen Vögel gewichen. Sie hatten diese Gegend ausgewählt, weil das unwegsame Gelände eine Besiedelung unmöglich machte. Vielleicht würden sie ihre Wahl verfluchen, dachte er, wenn sie erst einmal dreißig Kilometer marschiert waren, aber im Moment zählte vor allem die Tatsache, dass niemand sie mit glühenden Macheten verfolgte.
Seine Leute reihten sich in exakt bemessenen Abständen hintereinander ein, dann ging es los in Richtung Norden. Rivera marschierte hinter einem kleinen drahtigen Mann, der einen schwarzen Pullover mit abgeschnittenen Ärmeln trug, aus dem die grün bemalten Arme herausragten. Er schwenkte sein israelisches Maschinengewehr ständig hin und her, während er über das Gelände glitt, auf dem ein gewöhnlicher Mann hilflos von einem Baum zum nächsten gestolpert wäre. Doch er war kein gewöhnlicher Mann. Das war keiner von ihnen.
Ihre Ausrüstung und Kleidung war ein Mosaik von Bestandteilen aus aller Welt. Keiner von ihnen hatte Tätowierungen oder andere Kennzeichen, an denen sie sich identifizieren ließen – ja sogar ihre Zahnfüllungen waren so verändert worden, dass man ihre Herkunft nicht mehr bestimmen konnte. Sollten sie in Gefangenschaft geraten oder getötet werden, so würde ihnen kein Ruhm zuteilwerden. Niemand würde heroische Geschichten über sie verbreiten, die den Angehörigen ein wenig Trost gespendet hätten. Alles, was an sie erinnern würde, war ein kleiner Grabstein auf einem leeren Grab.
»Wir nähern uns dem Treffpunkt.« Die Stimme des Mannes an der Spitze klang leicht verzerrt in Riveras Ohr. »Etwa zehn Meter.«
Die geordnete Reihe löste sich im Dschungel auf, und die Männer verteilten sich um ein kleines Stück Land, das erst vor Kurzem durch einen Blitzeinschlag verbrannt war. Rivera spähte zwischen den Blättern hindurch auf die verkohlten Bäume und erkannte schließlich den groß gewachsenen Ugander, der allein in der Asche stand. Er rührte sich nicht – nur sein Kopf zuckte bei jedem Geräusch, so als wäre da immer noch ein Rest von Elektrizität, die in kleinen Stromstößen aus der verbrannten Erde kam.
»Jetzt«, sprach Rivera in sein Mikrofon.
Er hatte es hundertmal im Training miterlebt, aber es machte ihn immer wieder stolz zu sehen, wie seine Männer aus dem Dschungel auftauchten. Auf neutralem Boden konnten sie es mit jedem Gegner aufnehmen, selbst mit dem britischen SAS, der israelischen Schajetet 13 oder der Armee des Teufels, wenn es sein musste.
Der Mann auf der Lichtung stieß einen überraschten Laut aus, dann riss er den Arm hoch, um sein Gesicht zu bedecken. »Nehmt eure Nachtsichtbrillen ab!« Er sprach Englisch mit starkem Akzent. »So war es ausgemacht.«
»Warum?«, erwiderte Rivera, nahm aber seine Brille ab und bedeutete seinen Männern, es ebenso zu machen. Es war eine etwas seltsame Bedingung, aber sie hatten es tatsächlich so vereinbart.
»Ihr dürft mein Gesicht nicht sehen«, antwortete der Mann. »Bahame kann durch deine Augen sehen. Er kann Gedanken lesen.«
»Dann kennen Sie ihn also?«, fragte Rivera.
Der Ugander war nur noch als schattenhafte Gestalt zu erkennen, doch man sah deutlich, wie er die Schultern hängen ließ, als er antwortete. »Er hat mich als Kind von zu Hause weggeholt. Ich habe viele Jahre in seiner Armee gekämpft. Ich habe Dinge getan, die man gar nicht aussprechen kann.«
»Aber Sie sind entkommen.«
»Ja. Ich habe eine Familie verfolgt, die in den Dschungel flüchtete, als wir ihr Dorf angriffen. Ich habe ihnen aber nichts getan, sondern bin einfach nur gelaufen. Tagelang.«
»Sie haben unseren Leuten gesagt, Sie wüssten, wo man ihn findet.«
Er antwortete nicht, deshalb holte Rivera einen Beutel voll Euroscheine aus seinem Rucksack und hielt ihn dem Mann hin. Der Ugander nahm das Geld, sagte aber immer noch nichts. Er starrte auf den Nylonbeutel in seinen Händen hinunter.
»Ich habe sechs Kinder. Eines – mein Sohn – ist sehr krank.«
»Mit dem Geld können Sie ihm helfen.«
»Ja.«
Er hielt ihm ein Blatt Papier hin, und Rivera nahm es entgegen. Er hielt die Nachtsichtbrille vor die Augen, um die handgezeichnete Karte zu begutachten. Es war beeindruckend, wie detailliert sie war; die Karte schien mehr oder weniger den Satellitenfotos von dem Gebiet zu entsprechen.
»Ich habe meinen Teil getan«, sagte der Ugander.
Rivera nickte und wandte sich zum Gehen, doch der Mann hielt ihn an der Schulter zurück.
»Lauft weg«, riet er. »Sagt dem Mann, der euch hergeschickt hat, dass ihr ihn nicht finden könnt.«
»Warum sollten wir das tun?«
»Er führt eine Armee von Dämonen an. Nichts kann ihnen Angst machen. Man kann sie auch nicht töten. Manche sagen sogar, dass sie fliegen können.«
Rivera schüttelte die Hand des Mannes ab und verschwand im dichten Dschungel.
Die Armee des Teufels.