Kapitel fünf
NORDUGANDA
12. November, 17:39 Uhr GMT+3
Lieutenant Craig Rivera ließ sich auf ein Knie nieder und studierte noch einmal die handgezeichnete Karte, bevor er den Blick wieder nach vorne auf den Dschungel richtete. Das Laub war hier nicht mehr ganz so dicht, die Bäume standen etwa drei Meter auseinander in einem Meer aus kniehohem Gebüsch. Man kam zwar schneller voran, doch die schützende Deckung fehlte.
Er blickte zurück und fand schließlich den Mann, der ihm am nächsten war – starr wie ein Stein lag er im Gestrüpp. Der Rest seines Teams war selbst für sein geschultes Auge völlig unsichtbar.
»Es kann nicht mehr weit sein«, sagte Rivera in sein Kehlkopfmikro. »Gibt’s irgendwelche Probleme?«
»Negativ«, bekam er von allen zu hören.
Sie waren fast fünfzehn Stunden ohne Unterbrechung marschiert, und er dankte Gott für das beinharte Training, das sie in Florida absolviert hatten. Der Grundsatz seines befehlshabenden Offiziers lautete: Trainiere doppelt so lang, doppelt so hart und bei zehn Grad größerer Hitze, als du es je im Ernstfall erleben wirst. Operationen wie diese gaben einem das Gefühl, dass sich die Mühe lohnte.
»Bleibt wachsam. Wir gehen weiter.«
Der Plan ließ vermuten, dass das Lager, das sie suchten, ziemlich zersplittert war. Die Ausrüstung war unter Tarnnetzen verborgen, und die meisten von Bahames Soldaten schliefen auf dem nackten Boden. Der äußere Ring wurde von Kindern gebildet, die mit leichten Sturmgewehren bewaffnet waren – Kanonenfutter, um Bahame zu warnen, wenn Gefahr drohte. Der nächste Ring bestand aus erfahreneren erwachsenen Kämpfern, und zuletzt folgte die Leibgarde des Guerillaführers.
Wenn sie das Lager tatsächlich fanden, so hatten sie vor, den äußeren Verteidigungsring still und leise im Schutze der Nacht zu durchdringen und dann gut verborgen zu warten, bis ihr Zielobjekt in Reichweite ihrer Scharfschützengewehre auftauchte. Leider war in diesem Plan vieles dem Zufall überlassen. Würden sie sichere Verstecke finden, die ihnen trotzdem eine gute Sicht auf die Umgebung ermöglichten? Und was noch wichtiger war – würden sie sich schnell genug zurückziehen können, nachdem sie einem Kerl eine Kugel in den Kopf gejagt hatten, von dem seine Leute glaubten, dass er ein Gott in Menschengestalt sei?
Rivera konnte sich nur auf sein Gefühl verlassen. Es gab einfach nicht genug handfeste Informationen, um etwas anderes zu tun, als hineinzugehen und auf seinen Instinkt zu vertrauen.
Der Wald lichtete sich immer mehr, und Rivera erblickte einen Baumstumpf, der die Spuren von menschlichen Werkzeugen zeigte. Er gab seinen Männern das Signal zum Anhalten, warf sich auf den Boden und kroch langsam weiter.
Die gewundene grasbewachsene Straße, die er erreichte, war gut vier Meter breit, doch sie schien so angelegt worden zu sein, dass sie von der Luft aus nur schwer zu erkennen war. Er kroch unter einen Busch und blickte die Straße entlang nach Süden. Da war nichts zu sehen außer einer einsamen Kuh, die zwischen ein paar Blumen graste.
»Ich habe die Straße gefunden«, flüsterte er in sein Mikrofon. »Wir gehen in Richtung … Moment. Da rührt sich etwas.«
Ein junges Mädchen kam um die Straßenbiegung gelaufen, nackt bis auf eine lange Kette, die von ihrem Hals herunterhing. Ihr atemloses Heulen war erschreckend laut, und Rivera versuchte vergeblich zu verstehen, was sie zwischen den Schluchzern stammelte.
Die Kuh erwachte aus ihrem Dämmerzustand, doch anstatt das Mädchen anzusehen, wandte sich das Tier in die Richtung, aus der sie gekommen war. Ihr nervöses Stampfen ließ Staub von ihrem Körper aufsteigen.
Rivera rührte sich nicht von der Stelle und wartete darauf, dass das Mädchen vorbeilief. Doch keine drei Meter vor ihm tauchte sie plötzlich in den Wald ein und begann im Gebüsch zu wühlen, als würde sie etwas suchen.
Wenige Augenblicke später sah Rivera, wovor sie geflüchtet war. Etwa hundert Meter weiter südlich tauchte an der Straßenbiegung eine große Schar Leute auf. Es sah so aus, als wäre ein ganzes Dorf in Rage geraten. Ihre Gesichter waren ebenso blutverschmiert wie die Körper und die Kleider. Die erwachsenen Männer und Frauen liefen vorne, die Kinder und Älteren konnten nicht ganz mithalten, schienen es aber genauso eilig zu haben.
»Feindliche Aktivität von Süden«, flüsterte Rivera in sein Funkgerät.
Die Blätter über ihm wurden weggezogen, und er packte das Mädchen, zog sie auf den Boden und drückte ihr eine Hand auf den Mund. Sie wand sich unter ihm, doch so erschöpft wie sie war fiel es ihm nicht schwer, sie unter Kontrolle zu halten.
Mit seiner freien Hand griff er an sein Mikro. »Fünfunddreißig bis vierzig Leute. Keine Waffen zu sehen. Zieht euch zurück. Wir versuchen uns rauszuhalten.«
Er kroch unter dem Busch hervor, doch dann erstarrte er. Die Kuh stürmte in Richtung des Waldes, mindestens fünf Leute überrannten das aufgeschreckte Tier und rissen es von den Beinen. Das Mädchen wand sich unter ihm und begann an seinem Ärmel zu ziehen, um ihn zum Weglaufen zu bewegen.
Die Kuh versuchte verzweifelt, wieder auf die Beine zu kommen, doch das Gewicht der Leute, die auf ihr lagen, hinderte sie daran. Sie schrien wütend und frustriert, während sie das hilflose Tier mit Fäusten, Füßen und Zähnen traktierten. Ein Mann, der nur mit Shorts bekleidet war, bekam einen mächtigen Tritt ins Gesicht, und Rivera nahm an, dass er tot war, als er zu Boden sank – doch im nächsten Augenblick kroch er benommen zu dem bereits geschwächten Tier zurück.
Rivera sprang auf, packte das Mädchen und lief dorthin zurück, woher er gekommen war. Sie waren keine zehn Meter weit gekommen, als er hinter sich die Geräusche der Dorfbewohner hörte, die in den Wald gestürmt kamen.
Im nächsten Augenblick sah er vor sich Mündungsfeuer aufblitzen. Das beruhigende Krachen von Gewehrschüssen übertönte das schaurige Geheul seiner Verfolger, und er spürte, wie sich die leise Panik, die ihn beschlichen hatte, wieder legte.
Seine Jungs schossen nicht daneben. Nie.
Er fand eine brauchbare Verteidigungsposition zwischen zwei mächtigen Bäumen, blieb stehen und drehte sich um, um das Geschehen durch das Visier seines AK-47 zu beobachten.
Kein Verfolger mehr zu sehen – sie waren von den leichter zu erkennenden Positionen seiner Männer abgelenkt worden und liefen rechts und links von ihm den tödlichen Kugeln entgegen. Keiner kümmerte sich darum, wenn neben ihm einer getroffen wurde, sie rannten blindlings weiter, an den Gefallenen vorbei oder über sie hinweg, ausschließlich auf die Männer fixiert, die auf sie schossen. Manch ein tödlich Getroffener schien gar nicht zu begreifen, was mit ihm geschehen war. Er versuchte wieder aufzustehen, bevor er endgültig tot zusammenbrach.
Sein Stellvertreter sah sich vier Leuten gegenüber, die auf ihn zugestürmt kamen und nur noch fünfzehn Meter von ihm entfernt waren. Zwei Männer, ein höchstens sechsjähriges Kind und eine Frau mit einem – wie es aussah – gebrochenen Arm. Rivera konzentrierte sich auf die beiden unverletzten erwachsenen Männer und atmete tief ein, bevor er den Abzug drückte. Der Getroffene ging zu Boden, doch die drei anderen stürmten weiter und prallten so heftig gegen seinen alten Freund, dass es zwischen den Bäumen widerhallte.
Rivera versuchte noch einen Schuss anzubringen, doch er sah nur noch ein Menschenknäuel, das Aufblitzen eines Messers und Blut. Er konnte nichts tun. Sein Freund – ein Mann, an dessen Seite er seit mehr als fünf Jahren kämpfte und trainierte – würde diesen Ort nicht mehr verlassen.
»Rückzug!«, rief er in sein Mikrofon.
Seine Männer brachen aus der Deckung hervor, und er versuchte so gut er konnte, den Ansturm der wütenden Meute aufzuhalten.
Donny Praman lief auf einen Graben zu, während aus nördlicher Richtung eine Frau in den blutigen und zerfetzten Überresten eines traditionellen Gewands auf ihn zugestürmt kam. Rivera beachtete sie zuerst nicht weiter, bis er verblüfft erkannte, dass die Frau schneller war als er und ihn fast schon eingeholt hatte.
Er gab einen Schuss ab, doch in seiner Verwirrung traf er den Baum neben ihrer Schulter.
Die Schüsse seiner Männer wurden immer unkontrollierter, und in ihren Zurufen schwang nun schon Panik mit, als Rivera noch einmal zielte. Er hatte sie fast im Fadenkreuz, als sie auf Pramans Rücken sprang und mit ihm eine steile Böschung hinunterrollte.
Das Mädchen hinter ihm weinte und stammelte etwas, doch er hörte kaum hin; er konnte immer noch nicht glauben, was er gerade gesehen hatte: Eine dicke Frau hatte einen Soldaten angefallen und niedergerissen – einen der besten Männer, mit denen er je zusammengearbeitet hatte. Vielleicht einen der besten überhaupt.
Das Mädchen sprang plötzlich vor und zeigte aufgeregt mit dem Finger. Als er sich umblickte, sah er, dass er mit seinen Schüssen die Aufmerksamkeit von fünf Afrikanern auf sich gezogen hatte, die nun direkt auf sie zukamen.
Rivera feuerte in die Gruppe und traf den ersten Mann, und die beiden nächsten stürzten über ihn. Sie blickten nicht nach unten, als sie zu Boden gingen – ihr starrer Blick blieb auf ihn und das Mädchen gerichtet.
Er zielte erneut, doch es war hoffnungslos. Die beiden Gestürzten waren schon wieder auf den Beinen, und von Osten kamen drei andere dazu.
Er packte das Mädchen am Arm und rannte, während er versuchte, nicht auf die Schüsse seiner Freunde zu achten, die immer seltener kamen und schließlich ganz verstummten.