Kapitel acht
WASHINGTON D.C., USA
13. November, 09:00 Uhr GMT-5
Präsident Sam Adams Castilla legte die Füße auf den schweren Beistelltisch aus Kiefernholz, den er aus dem Haus des Gouverneurs in Santa Fe mitgebracht hatte. Das Aussehen des Oval Office hatte sich ständig weiterentwickelt, seit er hier eingezogen war; Einrichtungsgegenstände von zu Hause wurden nach und nach durch Geschenke ersetzt, die er bei seinen offiziellen Reisen bekam. Sie erinnerten ihn an die Größe und Bedeutung seiner Verantwortung.
»Haben Sie noch Fragen, Sir?«
Lawrence Drake, der Direktor der CIA, saß ihm gegenüber in einem Ohrensessel, einem Geschenk der Franzosen – die Amerika sofort den Krieg erklären würden, wenn sie gewusst hätten, dass er den Stuhl mit einer indianischen Decke hatte beziehen lassen.
»Zu Nordkorea?«
»Ja, Sir.«
Castilla runzelte nachdenklich die Stirn. Die Berichte, die ihm der Auslandsgeheimdienst lieferte, schienen immer komplizierter und deprimierender zu werden. China, Russland, Israel, der Nahe Osten – sie alle waren für sich schon unglaublich harte Brocken, die jedoch so ineinander verflochten waren, dass sie ein völlig undurchschaubares Gewirr bildeten.
»Nein, gehen wir weiter, Larry. Was haben wir sonst noch?«
»Den Iran.«
Castillas Stirnrunzeln vertiefte sich noch. Es gab in Wirklichkeit nur eine Sache, über die er heute sprechen wollte, und er hatte langsam das Gefühl, dass sie es nie schaffen würden, zu dem Thema zu kommen. Er bedeutete dem DCI mit einer ungeduldigen Geste, weiterzusprechen.
»Danke, Sir. Bei den Protestdemonstrationen letzte Woche in Teheran waren mindestens zehntausend …«
»Gab es Opfer?«
»Unsere Informationen sind ein bisschen unsicher, aber nach unseren Schätzungen gab es über hundert Verletzte. Zwei Demonstranten sind mit Sicherheit ums Leben gekommen – einer wurde zu Tode getrampelt, nachdem die Polizei Tränengas einsetzte, einer starb im Krankenhaus an den Verletzungen, die er bei einem Angriff von Polizeikräften erlitten hatte.«
»Ich hab die Bilder auf CNN gesehen«, sagte Castilla. »Ein ganz schönes Chaos für ein Land, das auf starre Ordnung hält.«
Drake nickte ernst. »Die Lage im Iran wird immer instabiler, Sir. Ayatollah Khamenei wird für die Opposition immer mehr zum Hardliner. Wir haben Berichte, wonach die Geheimpolizei auch die Familien von Dissidenten verfolgt, bis hin zu entfernten Verwandten. Angeblich sind Säuberungsaktionen gegen Mitarbeiter der Regierung geplant, die als zu liberal gelten. So etwas ist in der Geschichte immer wieder vorgekommen. Wenn die Paranoia so groß wird, dann dauert es meistens nicht mehr lang bis zum Zusammenbruch.«
»Wie lange?«
»Schwer zu sagen. Es gibt zu viele unbekannte Faktoren, und uns fehlen konkrete Informationen aus dem Land. Trotzdem würde es mich nicht überraschen, wenn wir den Zusammenbruch schon in den nächsten achtzehn Monaten erleben würden.«
Castilla atmete tief ein und langsam wieder aus. »Ich kann nicht behaupten, dass es mir leidtäte um die Kerle.«
Drake kniff die Lippen zusammen und schwieg.
»Was ist?«
»Sir?«
»Ich kenne diesen Blick, Larry. Also, was gibt’s?«
»Der Feind unseres Feindes ist nicht in jedem Fall unser Freund.«
»Farrokh.«
Drake gab sich keine Mühe, seine Abneigung zu verbergen, als er den Namen des iranischen Widerstandskämpfers hörte. »Die Sanktionen, die wir verhängt haben, zeigen eine gewisse Wirkung, aber viel wichtiger ist, dass die Regierung keinerlei Unterstützung unter den jungen Leuten und den Intellektuellen hat. Und ohne diese beiden Gruppen ist der Bau einer Atombombe kaum möglich.«
»Farrokh hingegen hat die Unterstützung der Jungen und der Intellektuellen.«
»Ja, Sir. Wir wissen noch nicht viel über ihn, aber eins steht fest: Er ist ein Genie, was moderne Technologie betrifft – vor allem Handys und Internet. Wie er historische Videos und Musik von alternativen Künstlern im Nahen und Mittleren Osten einsetzt, um Unterstützung für seine Sache zu mobilisieren – da könnten westliche Wahlkampfberater noch eine Menge lernen. Entscheidend für uns ist aber, dass seine Botschaft nicht prowestlich ist. Er will zwar Veränderung, ist aber im Grunde ein Nationalist.«
»Aber er will immerhin demokratische Verhältnisse – und Sie können doch nicht behaupten, dass eine Demokratie schlimmer sein kann als das, was wir jetzt haben.«
Drake antwortete nicht sofort, und Castilla wartete. Als er ins Weiße Haus eingezogen war, hatte er eines von Anfang an klargestellt: Er erwartete von jedem, der zu ihm ins Oval Office kam, dass er ganz offen seine Meinung sagte. Wer seinen Job behalten wollte, lieferte ihm am besten keine geschönten Informationen, die den Präsidenten in der Öffentlichkeit in eine peinliche Lage bringen konnten.
»Sir, Fundamentalisten sind rückwärtsgewandte Leute, die man gegeneinander ausspielen kann, die man isolieren und bestechen kann. Farrokh ist anders. Mit ihm könnte der Iran schnell über die technischen Möglichkeiten verfügen, um eine Atommacht zu werden. Das ist nicht alles. Bis jetzt hat Khamenei wenig Erfolg damit gehabt, die Instabilität der Region auszunutzen, um den Einfluss des Iran auszudehnen. Die Leute trauen den Iranern nicht, und den Sunniten wäre es sowieso ein Dorn im Auge, wenn die Schiiten ihre Macht vergrößern würden. Farrokh wird von den Leuten, die Veränderung wollen, als viel weniger polarisierend gesehen – und ich meine hier nicht nur Liberale und Progressive. Es besteht durchaus die Gefahr, dass der Nahe und Mittlere Osten sich unter ihm zu einem Block zusammenschließen könnte, der dem ehemaligen Ostblock nicht unähnlich wäre. Mit dem Unterschied, dass sie über eine viel effektivere Waffe verfügen würden …«
»Öl.«
»Ja, Sir.«
Castilla lehnte sich zurück und ließ sich tiefer in das Ledersofa sinken.
Farrokh war ein Phantom. Es gab in Geheimdienstkreisen sogar viele, die nicht einmal glaubten, dass es ihn wirklich gab; sie hielten ihn für eine fiktive Integrationsfigur – erfunden von den Strippenziehern im iranischen Widerstand. Als Politprofi wusste Castilla jedoch, dass ein solches Konstrukt nie ausreichen würde, um nach der Macht zu greifen. Dazu brauchte es immer reale Persönlichkeiten. Wer immer dieser Farrokh war, er tat offenbar alles, um an die Macht zu kommen.
Castilla wusste, dass die Lage in der Region noch um einiges brisanter war, als es der Weltöffentlichkeit bewusst war. Die Iraner finanzierten jede Gruppe, die ihnen sympathisch oder gegen die USA eingestellt war; die Israelis würden im Ernstfall nicht zögern, die Bombe einzusetzen; und die wenigen stabilen islamischen Regierungen versuchten insgeheim, die USA zum militärischen Eingreifen zu bewegen. Bei einem tatsächlichen militärischen Eingriff der USA gegen den Iran würden dieselben Regierungen höchstens leise Danke sagen, in der Öffentlichkeit jedoch den christlichen Invasoren den Dschihad erklären.
»Sie meinen also – besser, man bleibt bei dem Teufel, den man kennt, nicht wahr?«, sagte Castilla schließlich.
»Ich denke, eine Machtübernahme durch Farrokh könnte sich tatsächlich sehr negativ auf unsere Interessen auswirken. Und so gesehen, würde ich sagen …«
Castilla hob abwehrend die Hand. »Das haben wir schon diskutiert, Larry. Ich werde ein Land nicht im finsteren Mittelalter lassen, nur weil es da ein paar Unsicherheitsfaktoren gibt. Veränderung kann etwas verdammt Gefährliches sein, aber es stecken immer auch große Chancen darin. Wenn wir von vornherein auf die Möglichkeit verzichten, eine vernünftige Beziehung zu einem demokratischen Iran aufzubauen, und die katastrophale aktuelle Situation unterstützen, dann wäre das einfach zu zynisch und destruktiv für meinen Geschmack.«
»Könnte man es nicht auch realistisch nennen, Mr. President?«
Castilla faltete die Hände über dem Bauch, der seinen Umfang je nachdem, wie groß sein Stress gerade war, veränderte. »Ich würde sagen, wenn man nicht genau weiß, was man tun soll, dann ist es besser, fürs Erste gar nichts zu tun. Also, gehen wir weiter.«
»Aber, Sir …«
»Wir gehen weiter, Larry.«
Drakes Gesicht war wie immer eine undurchdringliche Maske, was Castilla immer schon als leicht unangenehm empfunden hatte. Er konnte sich meistens auf seine Fähigkeit verlassen, ins Innere der Menschen zu blicken, und es machte ihn nervös, wenn er das nicht konnte.
»Das Einzige, was noch auf der Tagesordnung steht, ist Uganda.«
Castilla beugte sich vor und wandte dem DCI seine ganze Aufmerksamkeit zu. »Wissen wir schon, was geschehen ist?«
»Offenbar das Gleiche, was mit der Einheit der Afrikanischen Union passiert ist, die sich auf die Suche nach Bahame begeben hatte. Wir glauben, dass das ganze Team bis auf eventuell den Anführer ausgelöscht wurde. Wir haben noch Leute vor Ort, die auf ihn warten, aber ehrlich gesagt fürchte ich, dass wir unsere Zeit verschwenden …«
»Den Teufel tun wir!«, erwiderte Castilla scharf. »Niemand hat gesehen, dass der Mann gestorben ist, also werden wir ihn nicht aufgeben.«
»Das wollte ich auch nicht vorschlagen, Sir.«
Der Präsident starrte einen Moment lang auf den Teppich. Er hatte diese Soldaten allen Ratschlägen zum Trotz dort hingeschickt. So schwer es ihm fiel, Charles Sembutu zu unterstützen – die Gräueltaten, die dieser Caleb Bahame beging, konnte man einfach nicht länger hinnehmen.
»Es tut mir leid«, sagte Castilla und blickte zum DCI auf. »Ich weiß, dass Sie es nicht so gemeint haben, Larry. Und ich weiß auch, dass Sie von Anfang gegen die Sache waren.«
Drake beobachtete, wie Castilla sich wieder auf seinem Sofa zurücklehnte. Politiker waren schnell bei der Sache, wenn es darum ging, die Zustimmung ihrer Wähler zu erhalten. Dafür setzten sie nur ungern Maßnahmen in die Tat um, mit denen sie sich angreifbar machten und für die sie vielleicht Kritik ernten würden. Castilla war zwar überzeugender als die meisten seiner Sorte, doch im Grunde war er auch nicht anders. Er hatte gepokert und verloren – und damit ein paar Männer in den Tod geschickt.
»Haben Sie das Video gesehen?«, fragte der Präsident schließlich.
Drake erlaubte sich keine Reaktion, doch er spürte, wie Zorn in ihm hochkam. Kaye. Dieser überehrgeizige Navy-Typ hatte ihn einfach umgangen und das Bildmaterial der Kameras direkt ins Weiße Haus geschickt.
»Ja, Sir. Erst heute Morgen wieder.«
»Haben Sie so etwas schon einmal gesehen? Was zum Teufel ist da passiert? Haben Ihre Leute schon eine Erklärung dafür gefunden?«
Drake überlegte sich seine Antwort gut. Er hatte dem Weißen Haus gerade genug Informationen über Uganda geliefert, damit es nicht so aussah, als würde die CIA etwas zurückhalten – aber es hatte leider genügt, um zu diesem sinnlosen und äußerst unangenehmen Gefecht zu führen. Konnte es sein, dass Castilla mehr wusste, als ihm die CIA berichtet hatte? Gab es andere Quellen, auf die er zurückgreifen konnte?
»Tut mir leid, Sir. Eine Erklärung?«
Castillas Verzweiflung war offensichtlich. »Unser bestes Sondereinsatzteam wurde von einem Haufen unbewaffneter Afrikaner ausgelöscht, darunter sogar Frauen und Kinder. Finden Sie nicht, dass das nach einer Erklärung schreit?«
Nichts im Verhalten des Präsidenten ließ vermuten, dass er misstrauisch war.
»Nein, Sir, ich glaube, es liegt auf der Hand. Bahame hat einen Hinweis bekommen, dass sie zu ihm unterwegs waren. Daraufhin hat er einige seiner Soldaten losgeschickt, um sie abzufangen.«
»Soldaten? Das waren keine Soldaten, Larry.«
»Bei allem Respekt, Sir, da muss ich widersprechen. Das war eine typische Einheit von Bahames Kämpfern. Das ist seine Masche: Dorfbewohner zu rekrutieren, indem er sie vor die Wahl stellt, zu sterben oder für ihn zu kämpfen. Das ist in Afrika durchaus nichts Ungewöhnliches.«
Castilla war sichtlich erschüttert, so wie jeder, der die Bilder gesehen hatte, und Drake beschloss, die momentane Schwäche des Präsidenten auszunutzen.
»Sir, Bahame ist ein richtig übler Bursche, und Sie haben versucht, zu helfen. Mir tun die Afrikaner auch leid, aber es ist trotzdem ihr Problem. Was können wir schon tun? Sollen wir ein ganzes Bataillon hinschicken? Weder die Afrikanische Union noch Sembutu würden das wollen, und selbst wenn wir sie davon überzeugen könnten – woher sollen wir die Truppen nehmen? Das ist ein Weg, den wir in der Vergangenheit öfter eingeschlagen haben, doch er führt nirgendwohin.«
»Sie wollen mir also sagen, dass das, was wir auf diesen Aufnahmen sehen, vollkommen normal ist?«
»Tut mir leid, Sir, aber ich kann nichts Ungewöhnliches erkennen. Unsere Männer waren zahlenmäßig weit unterlegen. Die Leute, von denen sie angegriffen wurden, halten Bahame für eine Art Gott. Manchmal hängt das Überleben in einer solchen taktischen Situation auch davon ab, dass man dem Feind Angst machen kann – dass man ein paar Leute erschießt und die anderen flüchten. Das hat in diesem Fall nicht funktioniert.«
»Was würden Sie vorschlagen?«
»Wir begraben unsere Toten und ziehen uns zurück.«
Castilla nickte langsam, doch er schwieg.
»Ist das alles, Sir?«
»Ja. Das ist alles. Danke, Larry.«
Sobald er allein war, trat Castilla ans Fenster hinter seinem Schreibtisch und blickte auf die Wolken über Washington hinaus. Er drehte sich nicht um, als die Seitentür zu seinem Büro aufging. »Du hast alles gehört?«
»Ja.«
»Was denkst du?«
»Ich habe dir die Aufnahmen gegeben, weil ich wusste, dass du sie sehen willst, Sam. Aber in diesem Fall muss ich Larry recht geben.«
Castilla drehte sich um und sah, wie Fred Klein sich auf einen Stuhl setzte. Er sah um einiges älter aus als noch vor ein paar Jahren – seine Haare waren etwas spärlicher geworden, und er war so abgemagert, dass er in seinem Anzug zu verschwinden schien. Es war kein leichter Job, der Freund des Präsidenten zu sein – noch dazu derjenige, dem er von allen am meisten vertraute.
»Ich habe sie dort hingeschickt, Fred. Und jetzt will sie jeder nur so schnell wie möglich vergessen.«
»Niemand will sie vergessen. Es ist nur so, dass das ein Krieg ist, den du einfach nicht gewinnen kannst.«
»Du warst so lange im Geheimdienstgeschäft, Fred. Hast du etwas Vergleichbares schon einmal gesehen?«
Klein nahm seine Brille ab und putzte sie mit seiner Krawatte. »Das kann ich nicht behaupten, nein.«
»Da stimmt irgendwas nicht.« Castilla setzte sich ihm gegenüber auf das Sofa. »Ich möchte, dass du deine Ressourcen einsetzt und für mich der Sache nachgehst. Ich muss wissen, was da vorgefallen ist, Fred. Ich möchte nachts wieder schlafen können.«
Ein kaum merkliches Lächeln huschte über Kleins Lippen, während er weiter seine Brille putzte.
Castilla kniff die Augen zusammen. »Gott, ich hasse es, wenn man mich so leicht durchschaut.«