Kapitel zehn

PRINCE GEORGE’S COUNTY, MARYLAND, USA

13. November, 11:12 Uhr GMT-5

 

 

Jon Smith beugte sich über das Lenkrad seines 1968er-Triumph und hielt sein Gesicht nahe genug an die Windschutzscheibe, damit die gut verborgenen Kameras ihn identifizieren konnten. Im nächsten Augenblick schwang ein Tor, das viel weniger Ehrfurcht gebietend aussah, als es in Wirklichkeit war, nach innen, und er ließ seinen Wagen auf das grün bewachsene Gelände rollen, das – so stand es zumindest auf dem Schild – den Anacostia Seagoing Yacht Club beherbergte.

Er schlängelte sich zwischen den zweckmäßigen Gebäuden hindurch, bis er schließlich zu einem langen Pier mit Booten kam, die alle in ausgezeichnetem Zustand zu sein schienen. In Wahrheit waren die Boote unbenutzt – sie kamen und gingen in einem gewissen Rhythmus, um das Ganze glaubwürdig erscheinen zu lassen.

Es fiel ihm schwer, sich daran zu gewöhnen, dass Covert One mittlerweile eine Größe erreicht hatte, die eine richtige Zentrale notwendig machte. Als der Präsident grünes Licht für die Einrichtung dieser Sondereinheit gegeben hatte, bestand sie lediglich aus einigen unabhängigen Spezialisten, die sich in ihren Fähigkeiten ergänzten und passenderweise allein lebten. Die Finanzierung des Projekts war nach wie vor völlig geheim – sie stammte aus Steuermitteln, die heimlich umgeleitet wurden.

Covert Ones Erfolg beruhte zum Teil auf seinen eigenen Fähigkeiten, zum Teil aber auch auf dem Versagen der herkömmlichen Geheimdienste. Mit der Einrichtung der Homeland Security hatte man versucht, die Kommunikation zwischen den wichtigsten Behörden zu verbessern und sie so schlagkräftiger zu machen – doch ihre Arbeit wurde zunehmend von einer überbordenden Bürokratie und Kompetenzstreitigkeiten behindert. Am Ende versuchte jeder nur, die Verantwortung auf den anderen abzuschieben.

Im Gegensatz dazu verfügte C1 über die einzigartige Fähigkeit, rasch und entschlossen vorzugehen, unbehindert von den üblichen bürokratischen Genehmigungsprozessen. Genau das machte die Geheimorganisation zu einer so schlagkräftigen – wenn auch illegalen – Waffe im Arsenal des Präsidenten.

 

»Jon«, sagte Fred Klein, als er sich erhob und ihm über den schlichten Schreibtisch hinweg die Hand entgegenstreckte. »Es tut mir leid, dass ich Sie von den Kindern wegrufen musste.«

»Kein Problem. Sie sind alle über den Berg, und ein Freund von mir beim CDC hat mir versprochen, sich um sie zu kümmern. Was gibt’s?«

Klein wirkte seltsam unsicher, als er sich hinsetzte, eine Pfeife aus der Schublade nahm und sie anzündete. Über ihm schaltete sich automatisch ein Deckenlüfter ein, der den Rauch nach oben zog.

»Ehrlich gesagt, ich bin mir überhaupt nicht sicher, ob wir uns auf diese Sache einlassen sollten, Jon. Wie Sie wissen, beschäftige ich mich oft auch mit der Frage, wann es besser ist, Covert One nicht einzusetzen.

Smith nickte. Die Verschwiegenheit, die nach außen gewahrt wurde, war ebenso bedrückend wie notwendig. Jedes Mal, wenn Klein seine Leute in einen Einsatz schickte, riskierte er, dass sie aufflogen – eine Katastrophe für die Regierung und das ganze Land.

»Heißt das, der Präsident will nicht, dass wir uns raushalten?«

»Er hat sich an der Sache festgebissen, und ich kenne ihn lang genug, um zu wissen, wann er sich nicht umstimmen lässt. Meine Hoffnung ist, dass sich das Unternehmen sehr schnell als aussichtslos herausstellt.« Er hielt einen Moment lang inne. »Haben Sie den Namen Caleb Bahame schon einmal gehört?«

»Ein Guerillaführer, der sich in seinem Größenwahn für Gott hält«, antwortete Smith. »Seine Streitkräfte bestehen zu einem guten Teil aus Kindersoldaten, und sie richten vor allem im Norden von Uganda ein Riesenchaos an.«

»Ich bin beeindruckt. Aber eins wissen Sie noch nicht: Wir haben kürzlich ein Spezialkommando auf ihn angesetzt.«

»Gut«, sagte Smith. »Das ist ein richtig übler Bursche. Haben sie ihn erwischt?«

Klein nahm einen tiefen Zug aus seiner Pfeife und ließ den Rauch langsam aus dem Mund entweichen. »Das Team wurde binnen weniger Minuten ausgelöscht. Der Teamführer, ein SEAL namens Rivera, konnte entkommen; er hat sich schwer verletzt durch den Dschungel geschleppt und es bis zu einem Rückführungsteam geschafft.«

»Davon habe ich nichts gehört.«

»Nicht nur Sie – auch sonst niemand. Der Präsident steckt ziemlich in der Klemme, weil er den Einsatz angeordnet hat. Die Leute haben genug davon, unsere Jungs in irgendwelchen Kämpfen sterben zu sehen, mit denen wir ohnehin nichts erreichen. Und so hoffnungslos die Lage im Nahen Osten ist – die Situation in Schwarzafrika wird als zehnmal schlimmer eingeschätzt.«

»Wenn es so unpopulär ist – warum haben wir uns dann eingemischt?«

»Bahame wird immer erfolgreicher. Seine Truppen fallen fast täglich über irgendein Dorf her und löschen es völlig aus. Das löst eine allgemeine Panik aus, die nicht nur Uganda erschüttern kann, sondern auch Kenia und die Demokratische Republik Kongo. Da droht ein humanitärer Albtraum, den man sich gar nicht ausmalen kann, und der Präsident fand, wir hätten die moralische Verpflichtung, einzugreifen.«

»Ich muss sagen, ich verstehe ihn gut«, nickte Smith. »Aber was hat das mit Covert One zu tun? Das scheint mir doch mehr eine Sache für die UNO oder die Afrikanische Union zu sein.«

Klein drückte ein paar Tasten an seinem Laptop und drehte ihn so, dass Smith die fünf Videos sehen konnte, die gleichzeitig gestartet wurden.

Er verfolgte die Bilder aufmerksam, bis sie abrupt zu Ende gingen, dann rückte er seinen Stuhl ein Stück nach hinten, so als müsse er etwas Abstand zwischen sich und den Bildschirm bringen. Er hatte sein halbes Leben damit verbracht, sich auf Situationen einzulassen, aus denen man nicht mehr so leicht lebend herauskam – aber was über diese Soldaten hereingebrochen war, das hatte er in all den Jahren noch nie gesehen.

»Mein Gott«, murmelte er schließlich.

»Was denken Sie?«

»Ich kann’s noch nicht einordnen.«

Klein nickte wissend. »Ich hab’s mir wahrscheinlich zwanzigmal angesehen, und ich kann Ihnen sagen, es wird nicht leichter. Mein erster Gedanke war Massenhypnose. Nach allen Berichten, die wir haben, sieht ein Charles Manson gegen Bahame wie ein Amateur aus. Ich habe auch an rituelle Opferungen gedacht, um die Leute anzustacheln – dann bemalt er sie mit Blut und hetzt sie auf seine Feinde. Jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher.«

»Warum?«

»Ich habe ein paar von unseren Leuten damit betraut, und sie haben herausgefunden, dass im Iran über Bahame gesprochen wird. Es geht um irgendeine neue Waffe.«

»Sind das handfeste Informationen?«, fragte Smith.

»Nein. Sie stammen zwar angeblich von höchster Ebene, sind aber ziemlich widersprüchlich. Wir sind der Sache nachgegangen und haben noch einen Kommentar von einer nicht so zuverlässigen iranischen Quelle gefunden – da ist die Rede von einem Deal oder von Verhandlungen mit Bahame.«

»Hat die CIA oder die NSA irgendwas darüber?«

»Es gibt keine Hinweise, dass sie etwas von so einer Verbindung aufgeschnappt haben. Und wenn doch, dann gehen sie der Sache nicht weiter nach.«

Smith blickte an Klein vorbei auf den alten Globus, auf dem ihm genau der afrikanische Kontinent zugewandt war. So seltsam es klang, aber das Problem der Geheimdienste war sehr oft, dass es zu viele Informationen gab, nicht zu wenige. Und weil die Anzahl der Mitarbeiter nun einmal begrenzt war, musste man Prioritäten setzen. So konnte es leicht vorkommen, dass irgendeine kurze Erwähnung eines afrikanischen Guerillaführers ganz unten auf der Liste stand. In Afrika passierten schließlich ständig verrückte Sachen.

»Haben sich schon Experten die Aufnahmen angesehen?«, fragte Smith.

»Nur Sie.«

»Ich bin Mikrobiologe, Fred, kein Psychologe. Von Massenhypnose verstehe ich nicht wahnsinnig viel.«

»Aber halten Sie es grundsätzlich für möglich?«

Smith zuckte die Achseln. »Denken Sie an das Prinzip von Ockhams Rasiermesser. Wenn man nichts Genaues weiß, sollte man bei der einfacheren Erklärung bleiben. Ein kurzer Blick auf die Geschichte zeigt einem ja, wozu Menschen fähig sind. Wenn’s nicht so wäre, müssten wir zwei uns einen anderen Job suchen.«

»Okay, aber ich möchte trotzdem, dass Sie sich ein bisschen mit der Frage beschäftigen. Vielleicht stellt sich ja wirklich heraus, dass die psychologische Hypothese die richtige ist, dann wäre die Sache damit erledigt.«

»Kann ich eine Kopie von den Aufnahmen haben?«

»Ich sag Maggie, sie soll Ihnen eine machen, bevor Sie zum Flughafen fahren.«

»Zum Flughafen?«

»Der überlebende SEAL liegt im Krankenhaus in Camp Lejeune. Ich dachte mir, dass Sie wahrscheinlich mit ihm sprechen wollen.«

»Mein befehlshabender Offizier erwartet mich in Fort Detrick, Fred. Die Leute wissen, dass ich nicht mehr in South Dakota bin, und Sie wissen ja, wie die Army ist, wenn man nicht pünktlich bei der Arbeit erscheint.«

Klein beugte sich etwas gelangweilt nach rechts, sodass er durch die offene Tür zum Büro nebenan sehen konnte. »Maggie!«

Maggie Templeton, seine langjährige Assistentin und die Einzige außer ihm, die über den gesamten Einsatzbereich von Covert One Bescheid wusste, tauchte im nächsten Augenblick mit einem großen Umschlag auf.

»Hier, Jon. Ein Urlaub auf unbestimmte Zeit, von General Stapleton unterschrieben, außerdem Flugtickets und Informationen über den Kontaktmann, der Sie am Terminal in Wilmington abholt. Dann ist da noch eine Hotelreservierung und ein USB-Stick mit den Aufnahmen, die Sie wollten. Oh, fast hätt ich’s vergessen …« Sie eilte nach nebenan und kam im nächsten Augenblick mit einer Army-Uniform zurück, die noch in der Plastikhülle von der Reinigung steckte.

»Maggie, Sie sind eine Naturgewalt.«

Sie lächelte. »Ihr Flugzeug wartet.«

Die Ares Entscheidung
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