Kapitel fünfundvierzig

AUSSERHALB VON WASHINGTON D.C., USA

25. November, 11:59 Uhr GMT-5

 

 

Randi Russell wartete auf eine geeignete Stelle, um den Honda vor ihrer Nase zu überholen, während aus dem Radio nur noch Rauschen kam. Als sie nach den vielen Kurven der Landstraße eine längere Gerade vor sich sah, trat sie das Gaspedal ihres Chevy Aveo bis zum Anschlag durch und tippte ungeduldig auf das Lenkrad, während der Wagen allmählich beschleunigte.

Sie hatte ihren Porsche zusammen mit ihrem Haus vor einigen Jahren verkauft, weil es ihr zu umständlich wurde, sich um diese Dinge zu kümmern, während sie irgendwo am anderen Ende der Welt war. In den kurzen Zeiten, die sie zu Hause in den Staaten verbrachte, wohnte sie in einem kleinen Farmhaus, das ihre einstige Zimmergenossin am College renoviert hatte, ohne es jedoch selbst benutzen zu können. Die Lage war ideal – zwei Autostunden von Washington entfernt, ruhig und mit einem riesigen Kamin in der Mitte des Raumes, an dem sie sich für den nächsten Einsatz erholen konnte.

Der Radioempfang setzte schließlich ganz aus, und sie schaltete das Gerät ab und wandte ihre Gedanken wieder ganz Jon Smith zu. Er hatte sich immer noch nicht auf ihre Nachricht gemeldet. Auch ein weiterer Anruf beim USAMRIID hatte ihr wieder nur die Standardantwort eingebracht – Colonel Smith sei in Urlaub und zurzeit nicht zu erreichen.

Über ihren Freund bei der Transportsicherheitsbehörde hatte sie immerhin erfahren, dass Jon nach Kapstadt, Südafrika, geflogen sei. Der Kontinent, auf den der verstorbene Brandon Gazenga spezialisiert war.

Sie hatte für den nächsten Tag einen Platz in einer Maschine reservieren lassen, unter einem Decknamen, von dem die CIA nichts wusste. Man konnte nie vorsichtig genug sein.

Die Straße führte steil nach oben, und zwischen den Bäumen lag da und dort schon etwas Schnee. Ein kurzer Trip nach Südafrika war bestimmt eine nette Abwechslung, dachte sie. Sie hasste die Kälte. Wahrscheinlich würde sie Jon entdecken, wie er auf seinem Surfboard die Wellen unsicher machte. Vielleicht sollte sie ihren Bikini einpacken und auch ein paar Tage am Meer bleiben.

Oder vielleicht doch lieber nicht.

Ihre Beziehung zu Jon Smith war eines der wenigen Dinge in ihrem Leben, die sie nicht recht einordnen konnte. Das Schicksal führte sie immer wieder zusammen. Sie hatten gemeinsam schon mehr als ein Nahtoderlebnis gehabt und so manche persönliche Tragödie hautnah miterlebt. Sie fragte sich, wie viele dieser Abenteuer sie noch überleben würden.

Als Randi die Kuppe des Hügels erreicht hatte, begann der Motor plötzlich zu stottern und starb schließlich ganz ab, während sie den Wagen am Straßenrand ausrollen ließ. Sie drehte den Zündschlüssel, doch nichts rührte sich mehr.

Die blöde Karre hatte noch keine zwanzigtausend Kilometer auf dem Buckel und keinen einzigen Kratzer im Lack oder in der Windschutzscheibe. Nachdem ihr Haupttransportmittel während des vergangenen Jahres ein Kamel gewesen war, das sie jedes Mal anspuckte, wenn sie sich ihm näherte, hatte sie sich vom Schicksal nun etwas mehr Verlässlichkeit erwartet.

Randi wusste aus Erfahrung, dass man hier keinen Handyempfang hatte, und so stieg sie aus und blickte kurz auf die Motorhaube hinunter, dann holte sie ihre Sporttasche aus dem Wagen. Es waren noch ungefähr sieben Kilometer bis zum Haus, in hügeligem Gelände, bei Temperaturen knapp unter dem Gefrierpunkt unter einem bewölkten Himmel. Sie hatte also die Wahl: Entweder eine kleine Joggingrunde, eine Tasse Tee und ein kurzer Anruf beim Automobilclub – oder eine Stunde mit den Händen in einem Motor herumzuwühlen, der wahrscheinlich durch irgendeinen unergründlichen Elektronikfehler eingegangen war. Die Entscheidung fiel ihr leicht.

Sie suchte gerade nach ihren Laufschuhen, als der Honda, den sie zuvor überholt hatte, hinter ihr anhielt.

»Probleme mit dem Wagen?«, fragte ein Mann Anfang dreißig. Er riss die Tür auf und sprang aus seinem Auto, mit einer Begeisterung, die vermuten ließ, dass Pfadfindergene in ihm schlummerten.

»Ja, aber das ist kein Problem. Ich wohne nicht weit von hier.«

»Ich würde Sie aber gern mitnehmen.«

»Das ist wirklich nett, aber ein bisschen Joggen schadet mir gar nicht.«

Die hochschwangere Frau auf dem Beifahrersitz zwängte sich mühsam durch die Autotür und watschelte um den Wagen herum. »Wir können Sie doch nicht so einfach hier draußen in der Kälte lassen.«

»Wirklich, es ist okay. Ich …«

Das Paar wirkte vollkommen authentisch und harmlos – und doch hielten die beiden plötzlich Pistolen in der Hand, die auf ihre Brust gerichtet waren.

»Wenn Sie mir Ihre Glock geben würden, wäre ich Ihnen sehr verbunden, Ms. Russell.«

Sie rührte sich nicht und musterte die beiden eingehend. Ihre Positionen waren perfekt – weit genug voneinander entfernt, um nicht gleichzeitig angegriffen werden zu können. Sie konnten sie ins Kreuzfeuer nehmen, ohne Gefahr zu laufen, sich gegenseitig zu treffen. Die Frau stand jetzt in der leicht geduckten Position des erfahrenen Schützen, nun offenbar nicht mehr durch ihre »Schwangerschaft« beeinträchtigt.

Wer immer diese Leute waren, sie waren gut, auch nach Randis Maßstäben. Und sie verfügten über beträchtliche Möglichkeiten. Sie wussten nicht nur, was für eine Waffe sie trug, sondern hatten wahrscheinlich auch ihren Chevy über das OnStar-Sicherheitssystem zum Stillstand gebracht. An diese Codes kam nicht jeder simple Carjacker mit Standard-Internetkenntnissen.

Randi zog ihre Pistole langsam aus dem Holster am Rücken und verfluchte ihre eigene Dummheit. Ihre Wachsamkeit hatte offenbar nachgelassen, seit sie zurück in den Staaten war, weit weg vom Feindesland.

»Und jetzt gehen Sie bitte vom Auto weg.«

Als sie der Aufforderung nachkam, stieg eine Frau, die sie gar nicht bemerkt hatte, vom Rücksitz des Hondas aus. Sie war ungefähr in ihrer Größe, trug die gleichen Kleider wie sie und hatte die gleiche Frisur. Randi sah zu, wie die Frau sich ans Lenkrad ihres Wagens setzte und den Zündschlüssel umdrehte. Der Motor sprang sofort an, und sie fuhr los.

Das ließ nicht vermuten, dass sie sie einfach exekutieren würden. Jeder Moment, in dem sie noch atmete, war ein Moment, in dem sie fliehen konnte. Wenn sie erst in ihrem Wagen saß, waren sie ihr nahe genug, damit sie ihr Messer einsetzen konnte, das sie noch bei sich trug. Es war eine kleine Chance, aber mehr hatte sie nicht.

»Vielleicht möchten Sie jetzt doch ein Stück mitfahren«, sagte der Mann. »Aber vielleicht geben Sie mir vorher das Messer, das Sie am Bein tragen.«

Die Ares Entscheidung
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