Kapitel sechzig
ÜBER ZENTRALUGANDA
27. November, 09:53 Uhr GMT+3
Das Flugzeug erreichte seine Flughöhe, und die Sicherheitsgurtanzeige erlosch. Jon Smith verließ seinen Platz und ging ans hintere Ende der Erste-Klasse-Kabine. Dahab war durch eine kleine Lücke im Vorhang leicht zu erkennen, mit seiner Größe und seinem Turban überragte er alle anderen Fluggäste. Er saß auf einem Fensterplatz und wischte sich immer wieder mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn, während er sich mit ruckartigen Kopfbewegungen in der Kabine umsah.
Smith versuchte zu erkennen, ob da Blut an seinem weißen Gewand war. Nichts, Gott sei Dank. Doch das würde sich bald ändern. Sehr bald.
»Noch etwas Champagner?«
Smith blickte zurück zu der Flugbegleiterin, die Howell einen Becher hinstellte.
»Die ist ja fast leer«, gab der Brite zurück und tippte auf die Flasche in ihrer Hand. »Können Sie sie nicht gleich hierlassen?«
Sie stellte ihm die Flasche lächelnd hin und ging zurück in die Bordküche, um eine neue zu holen. Howell hob sie an die Lippen und leerte sie unter dem missbilligenden Blick einer Frau, die gar nicht erfreut schien, zwei Männern gegenüberzusitzen, die wie schwitzende Kamele rochen.
Wie immer dachte Howell schon voraus. Die Flasche würde eine nützliche Waffe sein – schwer genug, um den Schädelknochen massiv zu beschädigen, aber so stumpf, dass nicht viel Blut fließen würde.
Die Flugbegleiterin kam zurück, diesmal mit Käse auf dem Tablett, und ging direkt zu Smith. »Halten Sie es jetzt schon nicht mehr auf Ihrem Platz aus? Wir sind doch erst eine Viertelstunde in der Luft. Würde Ihnen ein bisschen Brie helfen?«
»Ich glaube nicht«, antwortete er mit leiser Stimme. »Ich bin Colonel Jon Smith von der U.S. Army. Wir haben eine Situation hier an Bord, über die ich mit dem Piloten sprechen muss.«
»Was für eine Situation? Was meinen Sie damit?«
»Ich bin schon seit Wochen hinter einem Terroristen her, und am Flughafen Entebbe habe ich ihn endlich gefunden. Aber ich konnte ihn nicht mehr daran hindern, ins Flugzeug einzusteigen.«
Ihre Augen weiteten sich ein bisschen, doch sie schien ihm nicht ganz zu glauben. »Können Sie sich ausweisen?«
»Nur mit dem Reisepass. Aus verständlichen Gründen habe ich nichts bei mir, was darauf hindeutet, dass ich für die amerikanische Regierung arbeite.«
Sie musterte sein Gesicht einen Moment lang und fand darin keine Anzeichen, dass er verrückt oder ein Spaßvogel war, und so drehte sie sich zum Cockpit um. »Ich spreche mit dem Piloten.«
Als er wieder durch den Vorhang blickte, war Dahab in eine hitzige Diskussion mit seinem Sitznachbarn verwickelt. Smith spannte sich innerlich an und bereitete sich darauf vor, Howell das Signal zum Eingreifen zu geben, doch der Sudanese schien den Faden zu verlieren, und so ging das Gespräch abrupt zu Ende.
»Sir?«, sagte die Flugbegleiterin, als sie wieder bei ihm war. »Wenn Sie mir bitte folgen würden.«
Sie führte ihn zur Bordküche, wo ein kleiner, pedantisch aussehender Mann in Uniform auf ihn wartete.
»Ich bin Christof Maes, der Kapitän dieses Fluges.« Er streckte ihm die Hand entgegen. »Sie glauben also, wir haben ein Problem?«
»Ich fürchte ja, Captain. Ein international gesuchter sudanesischer Terrorist befindet sich an Bord …«
»Ist er bewaffnet? Hat er eine Waffe durch die Sicherheitskontrolle gebracht?«
»Nicht im herkömmlichen Sinn«, antwortete Smith und kam zu der Geschichte, die er sich während des Starts zurechtgelegt hatte. »Er hat eine extrem gefährliche Form der Tuberkulose, gegen die es kein Mittel gibt. Sein Plan ist es, nach Europa zu fliegen und die Krankheit dort zu verbreiten.«
»Und wie ich gehört habe, können Sie sich nicht ausweisen oder Ihre Behauptung irgendwie beweisen.«
»Wenn ich in Ihrem Cockpit eine Meldung durchgeben darf, kann ich Ihnen eine Bestätigung liefern.«
»Vielleicht wäre es besser, wenn ich selbst die Behörden in Brüssel verständige. Sie können …«
»Dafür könnte es schon zu spät sein, Captain. Der Mann hat außerdem eine schwere psychische Störung und ist extrem gewalttätig. Er weiß, dass mein Partner und ich im Flugzeug sind und wird an Bord Ärger machen. Außerdem müssen die Passagiere unter Quarantäne gestellt werden.«
»Quarantäne? Ist das wirklich notwendig?«
»Leider ja. Wenn Sie mich jetzt bitte eine Meldung an meine Leute durchgeben lassen – sie können sich dann an Ihre Regierung wenden, und wir können versuchen, die Sache so gut wie möglich zu regeln.«
»Ich fürchte, es ist gegen die Vorschriften, dass Sie das Cockpit betreten«, erwiderte er und zog ein Satellitentelefon aus der Tasche. »Ich kann Ihnen aber das anbieten. Inzwischen verständige ich die Bodenkontrolle und …«
»Das Telefon reicht völlig.« Smith unterdrückte den Drang, es dem Mann aus der Hand zu reißen. »Aber könnten Sie bitte noch damit warten, die Bodenkontrolle zu verständigen? Es ist vielleicht besser, wenn unsere Regierungen die Sache in die Hand nehmen.«
Maes runzelte die Stirn, während Smith wählte. »Also gut, ich warte noch kurz ab, Colonel. Aber dann möchte ich eine zufriedenstellende Auskunft darüber, wer Sie sind.«
Smith nickte und wandte sich ab, als er Maggie Templetons Stimme hörte. Er hatte nicht gedacht, dass er einmal so froh wäre, die Stimme eines Menschen zu hören.
»Creative Party Supplies. Was kann ich für Sie tun?«
»Hallo, hier ist Jon. Ist Fred da?«
»Er wartet schon lange darauf, Sie zu sprechen«, antwortete sie mit routinierter Gelassenheit. »Einen Moment.«
Im nächsten Augenblick meldete sich Klein. »Hallo, Jon. Es tut gut, Sie zu hören. Es war frustrierend, keinen Kontakt mehr zu haben.«
»Sorry, Fred. Ich konnte nicht anrufen. Aber jetzt sind Peter und ich in einem Flugzeug nach Brüssel.«
»Soll ich Sie von einem unserer Verkäufer am Flughafen abholen lassen?«
»Das wird nicht nötig sein. Wir haben da einen kranken Mann an Bord, und Mehrak und Sarie haben beschlossen, nicht mitzufliegen. Ich weiß nicht, wie sie nach Hause kommen.«
Es folgte eine kurze Pause, ehe Klein antwortete. »Verstanden. Wie krank ist der Mann im Flugzeug?«
»Ich glaube, man wird sich in den nächsten zwei Stunden um ihn kümmern müssen.«
»Haben Sie im Flugzeug die Mittel, um ihn entsprechend zu behandeln?«
»Ich hoffe es.«
»Ich werde versuchen, die nötigen Vorkehrungen zu treffen, Jon. Ich melde mich so bald wie möglich.«
Die Verbindung brach ab, und Smith gab das Telefon zurück.
»Das war ein ziemlich kryptisches Gespräch«, bemerkte der Pilot in kühlem Ton. »Hat vielleicht Ihr Freund irgendwelche Papiere dabei?«
Howells argentinischer Pass auf den Namen Peter Jourgan würde wohl auch nicht den erhofften Eindruck machen.
»Wenn Sie noch ein klein wenig warten würden, Captain. Meine Leute kümmern sich um die Sache. Sie sollten bald die Bestätigung über meine Identität bekommen.«
»Und bis dahin?«
»Ich hätte gerne Ihre Erlaubnis, den Mann in Gewahrsam zu nehmen.«
Der Pilot schüttelte den Kopf. »Ausgeschlossen. Solange ich nicht genau weiß, wer Sie sind, und Sie keine entsprechende Befugnis vorweisen können, werden Sie nichts gegen irgendeinen der Fluggäste unternehmen. Ist das klar?«
Smith war nicht erfreut über diese Antwort, doch im Moment konnte er wenig daran ändern. Er kehrte in die Kabine zurück und wurde schon von Peter Howell am Vorhang erwartet.
»Warst du überzeugend, Kumpel?«
»Offenbar nicht. Ich habe mit meinem Chef gesprochen. Er wird sich an die Europäer wenden und versuchen, Hilfe für uns zu organisieren.«
»Dann hoffe ich, dass dein Chef schnell organisiert.« Howell zeigte durch die Lücke im Vorhang. »Schau selbst.«
Eine Flugbegleiterin bot Dahab etwas zu trinken an, doch er reagierte gar nicht – er saß nur da und trommelte mit den Fingerknöcheln in einem beängstigend exakten Rhythmus gegen das Fenster.
»Wir können jederzeit anfangen, Peter, aber wir sind im günstigsten Fall auf uns allein gestellt.«
»Und im schlimmsten Fall?«
»Wird uns die Crew in die Quere kommen.«
Howell seufzte leise. »Zu viele Passagiere und zu wenig Platz, Jon. Das kann verdammt leicht in die Hose gehen.«
Sie hatten den Sudanesen quälende zwei Stunden lang beobachtet, als die Flugbegleiterin kam und Smith auf die Schulter tippte. Er folgte ihr zum Cockpit und sprach ein stilles Dankgebet, dass Klein offenbar etwas erreicht hatte. An Dahabs Turban war jetzt ein dünner roter Ring zu sehen, und er schien die Welt um sich herum gar nicht mehr wahrzunehmen. Immerhin war zumindest der Passagier, der neben ihm gesessen hatte, auf einen leeren Platz am Ende des Flugzeugs gewechselt. Ein Problem weniger, blieben noch tausend andere zu lösen.
»Ich weiß immer noch nicht genau, wer Sie sind«, sagte der Pilot, als Smith ins Cockpit kam und die Tür schloss. »Aber Sie scheinen offenbar einigen Einfluss zu haben. Wir wurden zu einem Militärstützpunkt auf einer Insel bei den Malediven umgeleitet. Anscheinend werden wir auch von einem Jagdflugzeug eines in der Nähe stationierten amerikanischen Flugzeugträgers eskortiert.«
Sein Gesichtsausdruck ließ erkennen, dass er gar nicht glücklich war über die Unterstützung durch die U.S. Navy. Maes war klug genug zu wissen, dass ihnen ein Jagdflugzeug in dieser Situation nicht helfen konnte. Seine Anwesenheit konnte nur eines bedeuten: Wenn alles schiefging, sollte es dafür sorgen, dass dieses Flugzeug nicht mehr landen würde.
»Man hat mir außerdem unmissverständlich gesagt, dass Sie ab sofort das volle Kommando über das Flugzeug übernehmen und dass wir Ihren Anweisungen zu folgen haben.«
Smith nickte, ohne seine Erleichterung zu verbergen. Auf Fred Klein war wieder einmal Verlass.
Jon Smith schlenderte in der Uniform des Kopiloten gemächlich durch den Gang; er trug eine Sonnenbrille und hatte sich die Mütze tief über die Stirn gezogen. Er lächelte und nickte den Passagieren freundlich zu, während er aus dem Augenwinkel stets den Sudanesen beobachtete.
Die Flugbegleiterinnen hatten mittlerweile einige Beschwerden über den Afrikaner abwiegeln müssen. Als Smith näher kam, sah er, warum. Der Rand seines Turbans war von Blut durchtränkt, und bald würde es ihm auch über das Gesicht rinnen, doch er selbst nahm davon keine Notiz. Er trommelte immer noch wie ein Besessener mit den Fingern gegen das Fenster.
Sarie hatte recht mit ihrer Einschätzung: So schlimm Viren wie Ebola und Marburg auch waren – sie waren letztlich doch nur biologische Maschinen. Der Parasit, der diesen Mann befallen hatte, schien hingegen fast so etwas wie ein Bewusstsein zu haben. Er schien zu wissen, dass sein Wirt bald sterben würde, und suchte nun ganz bewusst nach einem Weg, zu überleben.
Dahab blickte starr vor sich hin, als sich Smith mit einem Postsack näherte, in dem er einen schweren Schraubenschlüssel und eine Rolle Klebeband hatte – die effektivste Waffe und Schutzausrüstung, die in dem Flugzeug aufzutreiben war.
Er blieb bei den Toiletten ganz hinten stehen und sah, wie eine verängstigte Flugbegleiterin den Gang entlangkam und sich mit ihrem stattlichen Busen in die Reihe hinter dem Sudanesen beugte.
»Gentlemen, Sie sehen sehr fit aus«, begann sie mit der Geschichte, die sich Smith ausgedacht hatte. »Mir ist vorne ein Getränkewagen umgekippt. Wären Sie so freundlich, mir zu helfen?«
Smith zog das Klebeband aus dem Sack und benutzte es, um seine Sonnenbrille am Kopf zu fixieren, während die beiden Männer aus der Sitzreihe hinter Dahab mit der Frau nach vorne gingen. Dann streifte er noch Chirurgenhandschuhe über und strich mit der Hand über die Wunde an der Wange, die er mit Sekundenkleber verschlossen hatte.
Showtime.
Er bemühte sich, seine Bewegungen möglichst locker aussehen zu lassen, als er auf die leeren Sitze hinter Dahab schlüpfte, den Schraubenschlüssel aus dem Sack zog und noch einmal die Kordel überprüfte, mit der sich der Sack zuziehen ließ.
Ein paar Fluggäste waren auf ihn aufmerksam geworden, und er lächelte einem kleinen Jungen zu, der ihn drei Reihen weiter vorne anstarrte. Die Handschuhe waren leicht zu verbergen, und das Klebeband an der Brille war größtenteils von der Mütze verdeckt, sodass sich die Passagiere nach einigen Minuten wieder ihren Büchern und Filmen zuwandten.
Er stand langsam auf und lächelte dem Kind noch einmal zu, ehe er Dahab den Sack über den Kopf zog. Der Afrikaner wollte von seinem Sitz aufspringen, wurde jedoch von seinem Sicherheitsgurt daran gehindert, der – wie sich Smith vorher vergewissert hatte – geschlossen war.
Als dem Afrikaner einfiel, wie er den Gurt lösen konnte, war Howell schon mit einem mächtigen Satz über die Leute gesprungen, die von den Sitzen vor dem Afrikaner flüchteten. Er griff nach dem Verschluss von Dahabs Sicherheitsgurt, um ihn daran zu hindern, sich zu befreien. Smith zog mit der Schnur den Sack um Dahabs Hals zusammen, während er mit der anderen Hand den Schraubenschlüssel auf den Kopf des Mannes niedergehen ließ.
Doch bevor das schwere Werkzeug sein Ziel erreichte, schnellte sich der Sudanese mit schier übermenschlicher Kraft nach vorne. Der Schraubenschlüssel verfehlte sein Ziel, und Smith wurde über den Sitz gezogen.
In dem Gewühl der drei Männer, die in dem engen Raum der Sitze kämpften, war es unmöglich, mit dem Schraubenschlüssel auszuholen und einen wirkungsvollen Schlag anzubringen. Smith ließ das Werkzeug fallen und konzentrierte sich darauf, den Sack über Dahabs Kopf zu halten, während der Afrikaner die Hände zurückstreckte und seine Kehle fand.
Sein Griff fühlte sich nicht an wie eine menschliche Hand, sondern mehr wie ein Schraubstock mit fünf Fingern. Fast augenblicklich waren ihm die Luft und der Blutfluss abgeschnitten, und Smith konnte nichts anderes tun, als verzweifelt das Handgelenk des Mannes zu packen. Er wollte sich an der Wand abstützen, doch vor ihm begann alles zu verschwimmen, und er wusste nicht mehr, wo die Wand überhaupt war. Als er Knochen brechen hörte, dachte er im ersten Moment, es wären seine Halswirbel, doch er spürte plötzlich, wie der mächtige Druck an seinem Hals nachließ. Noch einmal hörte er es knacken, und als sich sein Blick klärte, sah er, dass Howell Dahabs Finger gepackt hatte und einen nach dem anderen brach.
Als der dritte Finger abgeknickt war, riss sich Smith los und sank nach Luft schnappend in den Sitz zurück. Er war frei.
Aber der Sudanese ebenso. Der Sicherheitsgurt war aufgegangen, und er taumelte auf den Gang hinaus, während Howell wie eine Stoffpuppe über seiner Schulter hing. Smith blieb unten und schlang die Arme um Dahabs Beine; er brachte ihn zu Fall, doch der Afrikaner landete auf Howell. Der Sack drohte herunterzugleiten, doch der Brite konnte ihn wieder über den Kopf ziehen, obwohl er einen Schlag nach dem anderen einstecken musste.
Smith ließ die Beine des Mannes los, schnappte sich den Schraubenschlüssel und schmetterte ihn mit voller Wucht auf den Hinterkopf des Mannes.
Doch statt tot umzufallen, prügelte Dahab weiter auf den wehrlosen Howell ein. Der Sack und der Turban hatten den Schlag auf den Kopf so weit gedämpft, dass er überhaupt keine Wirkung zeigte.
Keuchend vor Anstrengung schlug Smith wieder und wieder mit dem Schraubenschlüssel zu. Er spürte, dass der Schädel auf der linken Seite des Mannes nachgab, und er konzentrierte sich auf diese Stelle, biss die Zähne zusammen und legte sein ganzes Gewicht in seine Schläge.
Schließlich erschlaffte der Mann, und Smith sank in den Sitz und rang nach Luft. Die Sonnenbrille, die er an seinem Kopf festgeklebt hatte, war noch da, und er riss sie herunter und vergewisserte sich, dass die Wunde in seinem Gesicht noch verklebt war, auch wenn das nicht viel zu sagen hatte.
Howell schaffte es schließlich, unter Dahabs leblosem Körper hervorzukriechen, und er versuchte aufzustehen, wie es sich für einen gestandenen SAS-Mann gehörte. Doch seine Beine wollten ihn nicht tragen, und nach mehreren vergeblichen Versuchen ließ er sich hustend und keuchend auf den Boden sinken.