Kapitel zweiundsiebzig
WESTIRAN
3. Dezember, 15:03 Uhr GMT+3:30
Das Dorf lag praktisch vor ihnen, doch es war immer noch nicht zu erkennen. Kegelförmige Felsformationen ragten dreißig Meter in die Höhe. In viele von ihnen waren Fenster und Türen eingebaut. Die moderneren Gebäude sahen aus, als wären sie ungefähr tausend Jahre alt – einräumige Behausungen aus Steinblöcken, von uralten Zäunen umgeben, die einst für das Vieh gebaut worden waren.
Der Weg zum Dorf führte bergab. Smith wählte eine Route, die den Iranern zu steil war. Die meisten von ihnen taten nicht einmal mehr so, als würden sie ihn bewachen. Sein Schwung trug ihn bis zu einem Pfad, der so etwas wie die Hauptstraße der Siedlung war, und er glitt im Schlittschuhschritt den Weg entlang. In den vereisten Fenstern tauchten Gesichter auf und verschwanden rasch wieder, als sie erkannten, dass er ein Fremder war.
Er spürte einen Stoß im Rücken und drehte sich um; es war der Mann, der ihre endlos scheinende Expedition durch die Berge angeführt hatte. Sie blieben bei einigen grob in den Fels gehauenen Stufen stehen und schnallten die Skier ab, ehe sie zur Haustür hinaufstiegen, die direkt in den Berg führte. Der Iraner hob zu einer komplizierten Serie von Klopfzeichen an, und im nächsten Augenblick erschien ein Bär von einem Mann mit einem AK-47-Gewehr und umarmte ihn.
Die Wärme, die von drinnen herausströmte, war unglaublich verlockend, und Smith trat ein und schritt über mehrere traditionelle Teppiche zu einem Kamin.
»Ist Farrokh da?«, fragte er, zog die Handschuhe aus und hielt die Hände ans Feuer. Die Reise hatte drei Tage gedauert – viel länger, als er gedacht hatte, und er hatte keine Ahnung, wie schnell Omidi mit der Arbeit an dem Parasiten vorankam. Oder ob er den Erreger nicht einfach so einsetzte, wie er war. Möglicherweise hatte er bereits einen Infizierten über die amerikanische Grenze geschmuggelt, der im Begriff war, die Hälfte der Bevölkerung auszulöschen.
»Essen Sie zuerst einmal etwas.«
Im nächsten Augenblick erschien eine schöne junge Frau mit einem Kopftuch, die ein Tablett mit einem traditionellen Imbiss und zwei dampfenden Tassen Tee brachte.
»Hören Sie, ich habe keine Zeit für so etwas. Ich muss mit Farrokh sprechen. Sofort.«
Der Iraner zog seine Skikleidung aus und ließ sich in einen Haufen bunter Kissen beim Feuer sinken. »Farrokh hat viel zu tun.«
Ohne Mütze und Sonnenbrille sah er viel jünger aus, als Smith ihn eingeschätzt hatte. Seine Augen spiegelten nicht nur eine ungewöhnliche Intelligenz, sondern strahlten auch eine ruhige Kraft und Sicherheit aus. Man sollte annehmen, dass ein Mann wie er für wichtigere Aufgaben eingesetzt wurde als die, die er gerade erfüllt hatte.
»Sie sind es selbst, nicht wahr?«, sagte Smith und kam sich plötzlich ziemlich dumm vor, dass er nicht schon früher draufgekommen war. »Sie sind Farrokh.«
Seine Reaktion war, auf die Kissen neben ihm zu zeigen. »Bitte, Dr. Smith. Es war eine lange Reise. Ruhen Sie sich aus.«
Er kam der Aufforderung nach, zog die Skikleidung aus und versuchte seine Ungeduld zu zähmen. In diesem Teil der Welt herrschte ein anderes Tempo, und er würde nichts erreichen, wenn er gegen jahrtausendealte Traditionen ankämpfte.
»Unsere Organisation muss flexibel sein, damit sie weiterlebt, wenn ein Einzelner stirbt. Aber um Ihre Frage zu beantworten – ja. Ich bin der, den sie Farrokh nennen.«
Auch wenn sich Smith noch so sehr bemühte, diplomatisch zu sein, konnte er seinen Ärger doch nicht ganz im Zaum halten. »Was soll dann diese ganze Prozedur? Man hat mir gesagt, dass Sie Bescheid wissen über das, was Ihre Regierung vorhat.«
»Es ist nie ratsam, voreilig zu handeln«, erwiderte Farrokh. »Und es ist auch keine Zeitverschwendung, sich einen Mann anzusehen, der mein Verbündeter sein will. Würde ich mir die Zeit nicht nehmen, wäre ich heute nicht mehr am Leben.«
»Und wie lautet das Urteil?«, fragte Smith, nun etwas ruhiger.
»Sie scheinen ein Mann zu sein, den man ernst nehmen sollte.«
»Heißt das, Sie vertrauen mir jetzt?«
Farrokh lachte, griff nach einer der Teetassen und reichte sie Smith. »Die Leute, denen ich vertraue, kann ich an einer Hand abzählen, und ich glaube nicht, dass ich für unsere Bekanntschaft einen zusätzlichen Finger brauchen werde.«
»Aber Sie glauben, dass der Parasit existiert und dass Ihre Regierung ihn hat.«
»Ja, obwohl ich nicht erkennen kann, inwiefern das mein Problem ist.«
Er versuchte offensichtlich, die Sache herunterzuspielen, doch ihm war sehr wohl bewusst, dass es auch ihn etwas anging.
»Ich habe gehört, dass Sie die USA nicht besonders mögen, aber Sie müssen zugeben, dass wir uns schon lange nicht mehr eingemischt haben. Glauben Sie, dass das so bleiben wird, wenn es Omidi gelingt, eine Biowaffe auf die Vereinigten Staaten loszulassen?«
Farrokh zuckte die Achsel. »Amerika ist direkt oder indirekt für Millionen tote Iraner verantwortlich, für das Regime eines brutalen Diktators, und auch für dieses rückständige islamische System, das unser Volk unterdrückt. Vielleicht wären wir dann einfach nur quitt.«
»Nein«, erwiderte Smith. »Ich weiß, dass Sie anders denken. Auch wenn ihr noch so viele Amerikaner tötet, wird immer noch einer von uns da sein, der auf einen Knopf drückt. Und dann wird es keinen Iran mehr geben, den Sie liberalisieren könnten.«
Farrokh nickte nachdenklich. »Der Ayatollah ist senil geworden, und Omidi ist wahnsinnig. Sie glauben, Gott hätte ihnen die Waffe in die Hand gegeben und würde sie führen, damit sie die Feinde des Islam vernichten können.«
»Ich weiß nicht, ob es so funktionieren wird.«
»Nein. Ich habe begriffen, dass Gott bei solchen Angelegenheiten selten eingreift. Und die Unschuldigen und Gerechten leiden meistens genauso oder noch mehr als die Bösartigen unter dem, was passiert. Sich auf Gottes Beistand zu verlassen, ist der Gipfel der Arroganz und Dummheit. Amerika hat die Macht und auch den Willen, jeden zu vernichten, der sich ihm entgegenstellt.«
Smith versuchte das leise Ticken der alten Wanduhr auszublenden. Es schien immer lauter zu werden, je länger sich ihre sinnlose politische Diskussion hinzog.
»Amerika ist trotz allem eine große stabilisierende Kraft in der Welt, das wissen Sie genauso gut wie ich. Hätten andere damit anstellen würden. Was würde Ihr Land machen, wenn es unser Arsenal hätte?«
Farrokh nahm einen Schluck von seinem Tee, ehe er seine Aufmerksamkeit auf konkretere Dinge richtete. »Wissen Sie, wohin Dr. van Keuren gebracht wurde?«
»Nein. Wir haben praktisch überhaupt keine Möglichkeiten, Informationen im Iran zu sammeln.«
»Ah, dann bleibt das also auch an mir hängen?«
»Es ist Ihr Land, und ich schätze, Sie haben einige Übung in solchen Dingen.«
»Ich höre so einiges«, räumte Farrokh achselzuckend ein.
Seine Worte blieben vage, doch sein Ton machte deutlich, dass er etwas wusste. Farrokhs Netzwerk hatte sich offenbar intensiv mit der Sache beschäftigt, schon von dem Moment an, als Kleins Leute sich mit ihm in Verbindung gesetzt hatten.
»Wo? Wo ist sie?«
Farrokh begutachtete die Speisen auf dem Tablett, das zwischen ihnen stand, und strich schließlich etwas Unidentifizierbares auf ein Stück flaches Brot. »Man hat eine gewisse Aktivität in einer alten Forschungsanlage in der Zentralregion des Landes beobachtet. Außerdem haben Professoren an verschiedenen Universitäten ganz plötzlich ihre Posten verlassen, um irgendeinen Regierungsauftrag zu übernehmen. Sie haben seither keinen Kontakt mehr zu ihren Familien. Der Zeitpunkt kann kein Zufall sein.«
»Wie stark bewacht ist die Anlage?«
»Sie ist unterirdisch, und der Zugang ist gut bewacht.«
»Ich weiß nicht, ob ich Unterstützung aus der Luft organisieren kann, aber ich werde es auf jeden Fall versuchen.«
Farrokh runzelte die Stirn und lehnte sich in die Kissen. »Glauben Sie wirklich, ich helfe Ihnen, einen Angriff auf mein eigenes Land zu koordinieren? Ich bin ein Reformer, kein Verräter.«
»Aber …«
Der Iraner hob die Hand, und im nächsten Augenblick erschien der Mann, der sie hereingelassen hatte, in der Tür. Diesmal wirkte er weniger fröhlich, und seine Waffe hatte er nicht mehr geschultert, sondern in den Händen.
»Teymore wird Sie zu Ihrem Quartier bringen. Ich hoffe, wir haben bald wieder Gelegenheit, uns zu unterhalten.«