Kapitel dreiundsiebzig
ZENTRALIRAN
3. Dezember, 19:12 Uhr GMT+3:30
Sarie van Keuren führte das Skalpell vorsichtig durch das Gehirn. Seine geringe Größe machte die Aufgabe schwieriger, doch sie war froh, dass sie an einem Tier arbeiten konnte; immerhin hatte sie Omidi überzeugen können, dass das produktiver sei. In dem Raum mit den Glaswänden befanden sich nun verschiedene Affen in Käfigen – manche davon Labortiere, andere wieder schien man aus Zoos oder von privaten Besitzern geholt zu haben.
Jeder einzelne Käfig war mit einem Tuch bedeckt; sie hatte darauf hingewiesen, dass das notwendig sei, damit sich die Tiere nicht verletzten, wenn sie die Leute auf der anderen Seite der Glasscheibe sahen und zu ihnen gelangen wollten. Der wahre Grund war jedoch eher, zu verhindern, dass die Tiere sich gegenseitig sahen – ein feiner Unterschied, der Omidi und seinen wissenschaftlichen Schoßhunden entging.
Sarie blickte auf und bemerkte, dass an einigen der Tücher über den Käfigen Blutflecken waren. Sie hielt die Uhrzeit auf einem Notizblock fest, den sie neben sich liegen hatte, und wandte sich wieder der Arbeit an dem Gehirn zu.
Es gab eine Reihe von möglichen Strategien, um den Parasiten weniger gefährlich zu machen – doch fast alle erwiesen sich bei genauerer Betrachtung als undurchführbar. Der naheliegendste Weg war, die Mutation auszuwählen, die die Hornhaut des Betroffenen angriff. Biologisch gesehen eine logische Vorgangsweise, doch man konnte nicht davon ausgehen, dass es niemandem auffallen würde, wenn die infizierten Tiere plötzlich herumirrten und gegen alle möglichen Sachen stießen. Omidis Getreuen waren zwar keine Weltklasseforscher, aber Idioten waren sie auch nicht.
Ihr zweiter Ansatz war, das Konzentrationsvermögen der Infizierten zu erhöhen. Sie hatte geglaubt, damit die perfekte Lösung gefunden zu haben, auch wenn sie etwas Unheimliches an sich hatte. Wenn sie erreichte, dass sich die Betroffenen während eines Angriffs nicht mehr so leicht ablenken ließen, würden sie ihre Opfer töten und damit die Verbreitung des Parasiten stoppen. Leider waren die dafür zuständigen Gehirnregionen nicht so einfach zu beeinflussen. Der Parasit hatte Millionen von Jahren Zeit gehabt, an solchen Problemen zu arbeiten. Sie hatte etwas weniger davon zur Verfügung.
Die Lösung lag überraschenderweise in den Spiegelneuronen. Das Muster der Hirnschädigung war leicht zu beeinflussen, und es war ihr bereits gelungen, die Art und Weise zu verändern, wie die Infizierten einander erkannten, und so den Keim für künftiges aggressives Verhalten untereinander zu legen. Der Plan hatte zwar einige Schwachstellen, doch wenn sie tatsächlich erreichen konnte, dass die Betroffenen sich gegenseitig attackierten, so würde das die Ausbreitungsrate um bis zu vierzig Prozent senken.
Was noch wichtiger war – sie hatte entdeckt, dass die Symptome umso schneller ausbrachen, je höher die Dosis des Parasiten war, mit der das Opfer infiziert wurde. Sie hatte Omidi erzählt, dass es ihr bereits gelungen sei, den Ausbruch der Symptome zu beschleunigen, obwohl sie in Wahrheit nur die Dosis an infiziertem Blut erhöht hatte, die sie den Versuchstieren verabreichte.
Was ihm nicht gefiel, war jedoch, dass damit auch der Tod schneller eintrat. Ihr war aufgefallen, dass die Gruppe der Gläubigen nach und nach kleiner wurde, was darauf hindeutete, dass Omidi eine zweite Gruppe in einem anderen Teil der Anlage damit beauftragte, ihre Forschungsergebnisse zu überprüfen und an dem Problem des zu schnellen Todes zu arbeiten. Sie musste außerdem davon ausgehen, dass Omidis Leute ihre »Veränderungen« am Menschen testen würden und schnell erkennen würden, dass sie nicht funktionierten.
Schon deshalb war es so wichtig, dass sie möglichst rasch zu Phase zwei ihres Plans überging. Dafür musste sie sich jedoch erst überlegen, was sie in Phase zwei überhaupt vorhatte.
Sarie beendete die Arbeit an dem Gehirn und führte eine primitive Dekontamination durch, ehe sie in den großen Raum neben dem Labor hinüberging. Fünf Softies an etwas veralteten Computern sahen sie an, als sie sich an das einzige Terminal setzte, das mit einem englischen Betriebssystem ausgestattet war.
Sie wollte gerade ihre Notizen eingeben, als Yousef Zarin seinen Stuhl zu ihr stellte.
»Ich weiß, was Sie tun«, sagte er im Flüsterton zu ihr gebeugt.
»Wie bitte?«, erwiderte sie und gab weiter ihre falschen Sterblichkeitszahlen ein.
»Ich habe mir Ihre Daten angesehen und einige Ihrer Proben selbst untersucht.«
Sie lächelte mit zusammengebissenen Zähnen und kämpfte gegen die Angst an, die in ihr hochkam.
»Die Schädigung der Spiegelneuronen nimmt überraschend schnell zu.«
»Ich muss mich entschuldigen, dass ich von Neurologie so wenig verstehe, Dr. Zarin. Was sind Spiegelneuronen doch gleich?«
Er lächelte seinerseits. »Es wird Sie vielleicht überraschen, aber ich habe Ihre Arbeit über die Auswirkungen der Toxoplasmose auf das menschliche Verhalten gelesen. Sie beweisen darin ein beeindruckendes Wissen über die Gehirnfunktionen.«
»Danke für das Kompliment«, sagte sie in einem Ton, der etwas zu fröhlich klang für eine Frau in ihrer Lage, doch es fiel ihr schwer, das richtige Maß zu finden. »Es ist nur so, dass ich mir nicht sicher bin …«
Seine Stimme wurde noch etwas leiser, als er hinzufügte: »Wenn diese Veränderungen weitergehen, dann dürfte der Parasit bald nicht mehr zwischen Infizierten und Gesunden unterscheiden.«
Sie hörte auf zu tippen, doch ihre Finger verharrten wie erstarrt auf der Tastatur.
»Das ist wirklich schlau«, fuhr Zarin fort. »Ich hätte erwartet, dass Sie einfach versuchen würden, den aggressiven Impuls zu schwächen, aber das wäre natürlich viel zu offensichtlich gewesen, nicht wahr? Wie sagt man bei Ihnen … ich ziehe den Hut vor Ihnen.«
»Ich glaube, Sie interpretieren das nicht ganz …«
»Ich will mich auch gar nicht mit Ihnen vergleichen, Doctor, aber ich bin sicher kein ungebildeter Mensch.«
»Sie …«, stammelte sie, während sie verzweifelt versuchte, sich irgendetwas Glaubhaftes einfallen zu lassen. »Vielleicht ist das ein Nebeneffekt der verkürzten Zeit bis zum Ausbruch – das muss ich übersehen haben. Wir könnten …«
Er schüttelte den Kopf, und sie verstummte.
»Nein, je länger ich darüber nachdenke, umso brillanter erscheint es mir. Mit der Zeit könnte das die Ausbreitung der Infektion stark beeinträchtigen. Leider haben wir nicht viel Zeit.«
»Was?«
»Wir sind nicht alle Fundamentalisten und Fanatiker hier, Sarie. Die Zeit des Wettrüstens ist vorbei. Das muss ein Ende haben. Die modernen Technologien haben dem Menschen zu viel Macht in die Hand gegeben – die Macht, alles zu zerstören, was Gott geschaffen hat.«
War das ein Trick? Wollte er ihr nur mehr Details über ihre Arbeit entlocken, um alles rückgängig zu machen? Wie zum Teufel sollte sie das wissen? Tatsache war jedenfalls, dass man sie erwischt hatte. Es hatte keinen Sinn, es weiter abzustreiten. Wenn Yousef Zarin wirklich auf ihrer Seite war, dann konnte er ihr vielleicht helfen, das Leben von Millionen Menschen zu retten. Wenn er gegen sie war, dann war sie so gut wie tot.
»Sie werden es Omidi nicht sagen?«, fragte sie im vollen Bewusstsein der allgegenwärtigen Kameras, die über ihnen an der Decke angebracht waren.
»Omidi ist ein Schwein. Das Ganze ist ein verzweifelter Akt – ein Verbrechen von Politikern, die sich an die Macht klammern und das als Frömmigkeit tarnen. Ich werde Ihnen helfen. Aber ich fürchte trotzdem, dass der Weg, den Sie eingeschlagen haben, uns nicht weiterbringt.«
Er hatte natürlich recht. Das Ganze war eine Verzweiflungstat ihrerseits gewesen. In dem unwahrscheinlichen Fall, dass man ihr genug Zeit gab, um die entsprechenden genetischen Modifikationen durchzuführen, würde die Wirkung nicht von Dauer sein. Der Parasit war einfach zu anpassungsfähig; wenn er an einem Ort freigesetzt wurde, wo es keine räumliche Isolation wie in Afrika gab, dann würde er sich erschreckend schnell weiterentwickeln, seine Symptome verbergen, die Ausbreitungsgeschwindigkeit ändern und den Zeitraum vergrößern, in dem die Betroffenen den Erreger übertragen konnten.
Im Hinterkopf war da immer noch eine Stimme, die sie zur Vorsicht mahnte, doch sie brauchte so dringend jemanden, der ihr beistand. Sie wollte einfach nicht mehr allein sein.
»Gibt es irgendeinen Weg hinaus, Yousef? Oder eine Möglichkeit, mit der Außenwelt zu kommunizieren? Ich habe Freunde, die mir vielleicht helfen können.«
Der Iraner schüttelte den Kopf. »Wir sind hundert Meter unter der Erde. Alle Nachrichten, die diese Anlage verlassen, werden von Omidi persönlich überprüft.«
»Dann müssen wir uns etwas anderes einfallen lassen.«
Er nickte. »Und zwar schnell. Ich fürchte, dass die Wissenschaftler, die nicht mehr hier sind – und die bedingungslos loyal gegenüber Omidi sind –, an einem Weg arbeiten, den Parasiten außerhalb des menschlichen Körpers zu transportieren.«
»Was? Sind Sie sicher?«
»Er hat mich selbst gefragt, ob ich auch denke, dass man mit der Arbeit an dem Transportproblem warten sollte, bis die genetischen Modifikationen abgeschlossen sind, und ich habe Sie unterstützt – aber er hat Fragen gestellt, die so komplex waren, dass er sie sich sicher nicht selbst hat einfallen lassen. Seine Leute glauben offenbar nicht, dass sich die Modifikationen auf die Transportfähigkeit auswirken würden.«
»Dann müssen wir hier raus, Yousef. Wir brauchen dringend Hilfe.«
»Ich fürchte, das ist nicht möglich. Wir sind aber trotzdem nicht ganz machtlos.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich war vor Jahren schon einmal hier, als es noch ein geheimes Biowaffenlabor war. Ich sollte einen Bericht über Sicherheitsfragen schreiben. Es gab viele Probleme – Systeme, die hoffnungslos veraltet waren oder einfach nicht funktionierten, unzureichende Vorkehrungen, Risse in den Wänden und in der Decke. Die Regierung verließ sich darauf, dass die Abgelegenheit der Anlage für genug Sicherheit sorgen würde. Die nächste Siedlung ist ein Dorf, etwa zwei Autostunden entfernt.«
»Dann haben sie wohl nicht auf Sie gehört. Diese Anlage ist eine potenzielle Katastrophe.«
Er nickte. »Kurz nach meiner Inspektion griffen die Amerikaner den Irak an, weil sie dort Massenvernichtungswaffen vermuteten. Meine Regierung fürchtete, dass es dem Iran genauso ergehen könnte, und schloss die Anlage.«
»Das heißt, Sie kennen die Schwachstellen der Anlage, die es immer noch gibt?«
»Besser als jeder andere, glaube ich.«
Sie lehnte sich zurück und starrte an ihm vorbei auf die Leute, die sich nach Kräften bemühten, keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie fragte sich, was sie sagen würden, wenn sie wüssten, welche Katastrophe sie und Yousef hier entfesseln würden.