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Ich ging den langen Flur hinunter zur News-Redaktion – ein Großraumbüro, in dem ab zehn Uhr nonstop Telefone klingelten, Redakteure in ihre Headsets sprachen oder in einen Hörer, der zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt war, während sie weiter auf Tastaturen einhämmerten. Ständig lief irgendwer geschäftig durch den Raum, um mit dem Ressortleiter Texte zu besprechen, Fotos auszusuchen, Zitate zu autorisieren, Storys weiterzuverfolgen oder aufzudecken. Die einzige Möglichkeit, ungestört an einem Text zu arbeiten, bestand darin, sich die knopfgroßen Kopfhörer des iPods in die Ohren zu stecken und bei Musik zu schreiben. Es gehörte mit zu meinen Privilegien, in einem eigenen Büro zu arbeiten, wenngleich es mehr einer Kammer glich. Außer mir gab es nur noch zwei andere Reporter und natürlich die Ressortleiter, denen ebenfalls ein Büro zustand.
Um diese frühe Stunde jedoch war im Großraumbüro noch alles ruhig. Vor zwei Nachrichtenterminals beugten sich die dunklen Rücken zweier Redakteure den Bildschirmen entgegen, der Rest der Belegschaft kam erst zur Morgenkonferenz um halb zehn.
Tom Heise, in den Siebzigern und Achtzigern der Starreporter des Blattes, nun kurz vor dem Ruhestand und deshalb aufs Abstellgleis geschoben, nickte mir knapp zu, als ich an ihm vorbeiging. Mehr als dieses Nicken hatte ich von Tom nicht zu erwarten. Von den meisten anderen Kollegen allerdings auch nicht.
Es wäre leicht zu sagen, es ginge dabei allein um beruflichen Neid oder darum, dass ich mit Cornelius befreundet war und mir deshalb mehr erlauben konnte als andere. Das gefiel nicht jedem in einer Branche, von der selbst Eingeweihte behaupteten, sie gliche einem Haifischbecken. Doch ich war an der Distanziertheit meiner Kollegen nicht ganz unschuldig.
Als ich beim Hamburger Blatt anfing, hatte ich alle Versuche meiner Kollegen, ein paar persönliche Worte mit mir zu wechseln oder nach Feierabend ein Bier zusammen zu trinken, konsequent abgelehnt. Ich war der Meinung, man sollte Job und Privatleben trennen. Zu sehr war mir bewusst, wie schnell Sympathien in Antipathien umschlagen konnten. Und so hielt ich es für besser, Abstand zu wahren. Meine Kollegen hatten das schnell verstanden. Niemand lässt sich gern zurückweisen – und Redakteure sind da empfindlich und nehmen es einem besonders übel, auch wenn Zurückweisung ihr täglich Brot ist. Routiniert damit umgehen aber können nur die wenigsten. Redakteure werden nämlich nicht nur dafür bezahlt, Artikel zu schreiben. Sie werden auch dafür bezahlt, Tag für Tag Themen vorzuschlagen, die abgeschmettert werden, Porträts zu schreiben, die dann doch nicht erscheinen, oder Reportagen abzugeben, von denen sie sich bei Erscheinen fragen, ob außer der Autorenzeile noch etwas von ihnen geblieben ist.
Jedenfalls versiegten die Einladungen zum Mittagessen, Bier oder Kinobesuch nach kurzer Zeit. Inzwischen jedoch gab es junge Nachwuchsredakteure, die ich mochte und denen ich zu alt war, um mich auf ein Bier einzuladen – und einer von ihnen saß gerade an einem Computer, neben dem ein quietschbunter Weihnachtskalender mit Überraschungseiern zwischen Bergen von Ausdrucken stand.
»Ich brauche dringend ein Dossier über Roland Koslowski. Alles, was du im Netz findest, und unsere Berichte«, sagte ich zu Lars, der die Meldungen der verschiedenen Pressedienste ausdruckte und sortierte, während er ein Brötchen mit Rührei in sich hineinstopfte. »Kannst du mir das möglichst schnell besorgen?«
Lars schluckte, und sein spitzer Adamsapfel hüpfte auf und ab.
»›Hallo‹ wäre ganz nett«, sagte er, »auch wenn ich hier nur der Dämlack vom Dienst bin.«
Ein Krümel hing in seinem Mundwinkel. Ich deutete mit dem Finger darauf.
»Hallo«, sagte ich und lächelte. »Nimm’s nicht persönlich, aber mein Tag hat ziemlich blöd angefangen.«
Lars war 24 und seit drei Monaten einer von drei Volontären, die wir in der Redaktion ausbildeten. Cornelius hatte ihn als Erstes ins Hamsterrad der Newsticker geschickt. Er fand, so könnte man den jungen Leuten die Flausen austreiben, die glaubten, Journalismus sei ein Job für kreative Genies mit einem Hang zu Chaos und lockerem Leben. Journalismus war Handwerk, Fleiß, Detailgenauigkeit. Nichts für Schussel oder Selbstdarsteller, auch wenn es heutzutage in einigen Redaktionen von solchen Typen nur so wimmelte. Der Job in der Newsticker-Abteilung war Fleißarbeit pur und unter den Volontären verhasst. Noch abtörnender war in ihren Augen nur noch die Abteilung für Leserbriefe. Obwohl man dort zumindest ab und zu etwas wirklich Komisches in die Hände bekam.
»Ist das nicht der entlassene Kinderschänder?«, fragte er und wischte sich den Mund mit einer Papierserviette ab.
»Genau der.«
Ich setzte mich an den freien Schreibtisch ihm gegenüber und blätterte die neuesten Ausdrucke für die morgige Ausgabe durch.
Ich gab Lars’ Schweigen 30 Sekunden.
Es dauerte nicht einmal zehn.
»Gibt’s bei dem was Neues?«, fragte er.
Ein Raubüberfall in Crimma, wo auch immer das war.
»Ja.«
Ein Schießerei auf St. Pauli, ein Verletzter, kein Toter.
»Und was? Vielleicht ’ne neue Leiche? Weiblich, ledig, jung?«
»Lars!«
Evakuierung aufgrund falschen Bombenalarms in Münster.
Ich sah von den Ausdrucken hoch. Er zuckte mit den Achseln.
»Setz hier keine Gerüchte in die Welt.«
Ich las weiter. Noch ein Raub. Drei Einbrüche. Eine Frau in Stade, die erst ihren Mann zerstückelt und dann in Plastiksäcken verstaut hatte.
»Wenn du dich langweilst, lies doch einfach die Ausgabe von heute. Die großen Dinger stehen alle drin«, sagte Lars und wedelte mit der Zeitung.
»Lars, könntest du einfach weniger reden?«
Er stand auf, kam um den Schreibtisch herum, grinste und beugte sich zu mir herunter.
»Du weißt, dass mein Alter Bulle ist? Er hat mich vor ein paar Wochen mal nach dir gefragt.« Er sprach so dicht an meinem Ohr, dass mich sein Atem kitzelte.
Erstaunt sah ich ihn an, und er fuhr fort: »Na ja. Du bist so was wie ein Star unter den Gerichtsreportern. Die kennen dich alle.«
»Was wollte er wissen?«
»Ob du nett bist oder wirklich so ein karrieregeiles Biest, wie seine Kollegen behaupten.«
»Karrieregeiles Biest?« Ich legte die Stirn in Falten, musste aber doch lächeln.
Er hob die Hände, als wollte er sich ergeben: »Ich hab’s nur weitergegeben.«
»Hat er sonst noch was gesagt?«
»Dein Bruder soll mal jemanden umgebracht haben.«
»Ach ja?«
»Alle wissen’s, aber ich soll’s nicht weitererzählen, sagt mein Vater.«
»Warum erzählst du es mir dann?«
Er richtete sich auf, runzelte fast unmerklich die Stirn und sah mir in die Augen. »Er sagt, jeder hat eine Achillesferse und dein Bruder ist deine. Du hast mir mal geholfen. Wenn du meinen Text nicht redigiert hättest, hätte ich ziemlichen Ärger gekriegt. Eine Hand wäscht die andere. So läuft das doch.«
»Schlaues Bürschchen«, sagte ich. »Und was soll heißen, er ist meine Achillesferse?«
»Mein Vater sagt, irgendwann wird der Typ zurückkehren und dann wirst du hier ein ziemliches Problem bekommen.«
Mir stockte der Atem.
»So«, war alles, was mir dazu einfiel.
Ich wusste, dass die Verlagseigentümer damals schwere Bedenken hatten, mich einzustellen. Deshalb arbeitete ich die ersten drei Jahre als freie Reporterin, der man jederzeit die Aufträge kündigen konnte. Erst danach erhielt ich eine Festanstellung.
»Ja, so ist es«, sagte Lars. »Und mein Vater sagt auch, ein paar seiner Kollegen glauben, dass du seit 20 Jahren einen flüchtigen Mörder deckst und weißt, wo er ist.« Genau das hatte der eine oder andere aus der Verlagsleitung auch angenommen, als es um meine Einstellung ging, und ich vermutete, einige glaubten es bis heute, auch wenn niemals jemand mit mir darüber sprach.
»Das sagt dein Vater?«, fragte ich. »Hat er dir auch gesagt, dass es keinen Prozess gab und dass Leos Schuld niemals bewiesen wurde? Dass es ebenso ein Unfall gewesen sein könnte?«
Lars zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Aber ich weiß, dass du bei einigen sehr unbeliebt bist, seitdem deine Berichterstattung die Hamburger Polizei letztes Jahr ziemlich schlecht dastehen ließ.«
»Das ist nun mal mein Job«, sagte ich. »Da darf man nichts drauf geben.«
»Es gibt Typen, die nur darauf warten, dass man einen Fehler macht.« Er flüsterte, und sein Kopf zuckte in Toms Richtung.
Ich lächelte. Tom war ein Brummbär und polterte gern los, auch wenn er Menschen mochte. Und Lars mochte er. Dafür legte ich meine Hand ins Feuer. Trotzdem hatte er ihn erst vor ein paar Tagen zusammengestaucht, weil Lars einen Artikel verlegt hatte.
»Kauf dir ein Handy mit Prepaid-Funktion«, wisperte Lars dicht an meinem Ohr weiter. »Da bist du immer auf der sicheren Seite, weil die Verbindungsdaten nirgendwo gespeichert werden.«
»Sagt das auch dein Vater?«
»Nein, das sage ich«, sagte er. »Und nur damit du Bescheid weißt, ich würde gern mal was Größeres schreiben. Vielleicht mal über einen Prozess. Wie sieht’s aus?«
Ich musste lächeln. »Ich steh also in deiner Schuld.«
»Yep.«
»Ich denk drüber nach«, sagte ich und lächelte. »Ich muss jetzt los. Bring mir die Ausdrucke nachher vorbei, okay?«
»Vergiss mich nicht«, sagte er.
Begleitet von seinem Lachen verließ ich den Raum und ging zurück in mein Büro.
Auf meinem Monitor hatte sich inzwischen der Bildschirmschoner aktiviert und zeigte ein Foto meines Sohnes Max.
Ich betrachtete sein Gesicht und musste lächeln. So ging es mir immer. Wenn ich traurig oder angespannt war, brauchte ich nur dieses Foto anzusehen, und sofort ging es mir besser. Auf dem Bild trug Max eine rote Jacke, die ihm längst nicht mehr passte. Er hatte seinen Mund zu einer Schnute verzogen und starrte konzentriert in die Kamera. Seine Haare waren inzwischen nicht mehr so hellblond wie auf dem Foto, das kurz nach unserem Ostseeurlaub letzten Sommer entstanden war, aber das freche Funkeln in seinen grauen Augen war noch immer dasselbe. Wenn ich ihn ansah, konnte ich manchmal kaum glauben, dass ich die Mutter dieses zehnjährigen Wunders war.