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Der Junge rannte durch den Garten, als sei der Teufel hinter ihm her. Eisiger Wind peitschte ihm entgegen und trieb ihm dicke Flocken ins Gesicht, während seine Füße bis über die knöchelhohen Winterstiefel in dem frisch gefallenen Schnee versanken. Er stolperte über eine Beeteinfassung, fiel hin, stemmte sich aus dem Schnee, rannte weiter. Der blaue Rucksack klopfte einen schnellen Rhythmus auf seinen Rücken. Er drehte das spitze blasse Gesicht zum Haus, das im Schneetreiben kaum mehr zu erkennen war.
Niemand folgte ihm. Das war gut so.
Vor ihm tauchte die Buchenhecke auf.
Sie war dicht und fast doppelt so hoch wie er selbst, doch der Junge wusste, es gab eine Lücke, durch die die Rehe auf ihrer Futtersuche in den Garten kamen. Er musste die Lücke nur finden.
Er stand da, keuchte und starrte. Irgendwo hier war es gewesen. Entschlossen stapfte er die Hecke entlang, bis er die Lücke endlich fand, ließ sich auf die Knie hinab und zwängte sich hindurch. Ein Zweig kratzte über seine Wange und verhakte sich in seiner Wollmütze. Die Hecke war durchzogen von wilden Rosen, deren Triebe im Sommer meterlang wurden. Er holte tief Luft und griff mit der bloßen Hand nach einem stachligen Rosenzweig. In seiner Panik hatte er die Handschuhe in der Scheune vergessen. Als er den Zweig aus der Mütze zog, blieb ein Dorn in der Haut stecken. Vor Schmerz biss er die Zähne zusammen, zog ihn heraus und presste die Handfläche in den Schnee. Als er sie wegnahm, hinterließ sie einen kleinen, blutigen Fleck.
Er kümmerte sich nicht darum und kroch auf allen vieren weiter durch die Buchenbüsche.
Als er das freie Feld erreichte, richtete er sich auf und hielt einen Moment inne. Er stopfte die eiskalten Hände in die Tasche und sah sich um. Die Welt hier draußen war grau und verschwommen, und der Wind jagte den Schnee erbarmungslos über die offenen Felder. Solthaven lag rechts vom Haus seiner Großeltern. Das wusste er, auch wenn er die Stadt nicht sehen konnte. Er musste hinüber zu dem Schlehenbusch, hinter dem die Bahnschienen verliefen. Denen wollte er folgen, bis er Solthaven erreichte. Zwei Kilometer, weiter war es nicht. Dann könnte er durch die Stadt nach Hause gehen.
Durch das Flockentreiben konnte er den Schlehenbusch nicht entdecken, doch er wusste, dass er da war. Er war immer da, so lange der Junge denken konnte.
Er lief weiter. Der Wind stürmte ihm entgegen und verschluckte jeden Laut. Er schaute sich nach seinen Fußabdrücken um, die eine blutverschmierte Spur durch das Weiß zogen. Doch der Wind fegte schon über sie hinweg, und schnell würde der Schnee sie unter sich begraben. Auch das war gut so.
Als er den Schlehenbusch sah, blieb er erleichtert stehen. Seine Wangen waren rot vor Anstrengung und glänzten feucht vom Schnee auf der Haut. Ihm war warm, und er öffnete seine Jacke. Er sog gierig den kalten Wind ein, bückte sich und steckte sich eine Handvoll Schnee in den Mund. Er sah noch einmal zurück und suchte die Hecke, durch die er gekrochen war. Sie war längst hinter dem weißen Vorhang verschwunden.
Erwartungsvoll ging er um den Schlehenbusch herum. Dahinter mussten die Bahnschienen entlangführen, die ihm den Weg weisen würden.
Er sah keine Schienen. Nur tiefverschneites Land und graubraunes Gebüsch, das viel höher war als die Buchenhecke seiner Großmutter. Ihn schauderte. Die Büsche durften hier nicht sein. Er lief weiter und hoffte, doch noch die Schienen zu finden. Der Rucksack drückte schwer auf seine schmalen Schultern, während er fieberhaft nach den Gleisen Ausschau hielt und mal hier, mal dort mit den Stiefelspitzen im Schnee nach ihnen scharrte. Es hatte keinen Sinn.
Einen Moment hielt er inne und überlegte, ob er umkehren sollte. Doch die Angst trieb ihn vorwärts, weg von dem Haus, von der Scheune, von dem Blut.
Er ballte seine Hände zu Fäusten und stapfte weiter.
Der Junge war müde. Die Welt, die auf den Feldern im Sommer bis an den Horizont reichte, war zu einem Tunnel aus windgepeitschtem Schnee geschrumpft, durch den er sich mit schwerer werdenden Beinen hindurchkämpfte.
Er blieb stehen, holte tief Luft – und dann begann er zu weinen.
Das tat er selten. Eigentlich fast nie. Zu Hause war er für seine kleine Schwester Pauline der große, starke Bruder, und der weinte nicht, sondern hatte alles im Griff.
Pauline war erst sechs und glaubte noch an den Weihnachtsmann. Er hatte schon mit vier Jahren gewusst, dass alle ihn belogen. Weihnachtsmänner gab es nicht. Genauso wenig wie den Osterhasen, den schwarzen Mann oder irgendwelche Nachtgespenster.
Im August war er zehn geworden, und eigentlich sollte er hier draußen nicht heulend herumstehen, sondern sich etwas einfallen lassen. Nur was?
Er dachte scharf nach und biss dabei auf seiner Unterlippe herum, obwohl er das nicht sollte. Er bekäme davon nur ein Hasengebiss mit weit nach vorn stehenden Zähnen, und keiner würde ihn dann noch ernst nehmen, hatte Lauren, seine Mutter, ihm eingetrichtert. Dabei nahmen die Kinder in seiner Klasse ihn sowieso nicht ernst.
Seine Mutter … Laut schluchzte er auf.
Ihm musste etwas einfallen. Normalerweise fiel ihm immer etwas ein. Selbst seine Mutter hatte sich lange darauf verlassen, dass ihm stets eine Idee kam, seitdem er … ja, seitdem er mit acht Jahren mit einem Schürhaken auf seinen Onkel losgegangen war.
Sein Onkel war kein guter Mensch. Aber er gehörte zur Familie. Und die sei wichtig, hatte sein Großvater ihm früher gesagt. Eine Familie müsse immer zusammenhalten.
Sein Vater hatte nicht zu ihnen gehalten. Er war schon vor langer Zeit fortgezogen. Er arbeitete als Bauleiter für eine große Ölgesellschaft, weshalb er in der ganzen Welt unterwegs war und sie nicht besuchen konnte. Aber der Junge glaubte, dass ihr Vater auch gar nicht kommen wollte.
Im letzten Sommer war dann der Großvater gestorben. Seitdem schaute Onkel Hinner abends oft vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. So nannte er das.
Hinner brüllte ihn manchmal an, und Lauren brüllte er sowieso oft an, wenn er glaubte, Pauline und er würden schon schlafen. Manchmal, wenn Hinner abends zu Besuch gewesen war, hatte Lauren unten in der Küche geweint. Der Junge wusste das, weil er oben im Flur gestanden und gelauscht hatte.
An jenem Abend hatten seine Mutter und sein Onkel unten in der Küche wieder gestritten. Er hatte es bis oben in sein Zimmer gehört, so laut hatte Hinner Lauren angebrüllt.
Zitternd und mit klopfendem Herzen hatte er gelauscht und sich vor der Wut des Onkels gefürchtet. Noch größer aber war seine Angst gewesen, Hinner könnte seine Mutter so fest schlagen, dass sie ins Krankenhaus käme. Dann müssten er und Pauline bei Onkel Hinner und Tante Doreen wohnen, und das konnte er unter keinen Umständen zulassen. Deshalb war er trotz dieser wilden Angst in seinem laut pochenden Herzen ins Wohnzimmer gestürzt und hatte den Schürhaken aus dem Kaminbesteck gerissen.
Er traf seinen Onkel dreimal. Auf den Rücken, in die Kniekehlen und dann noch einmal an der Hüfte. Als sein Onkel sich umdrehte, wich er zurück, bis der Küchenschrank hinter ihm den Rückzug stoppte. Sein Onkel riss ihm den Schürhaken aus der Hand und verprügelte ihn mit seinem Gürtel, so dass er drei Tage lang weder sitzen noch zur Schule gehen konnte. Aber das war nicht das Schlimmste gewesen.
Am schlimmsten war, dass er an diesem Abend seine Sprache verloren hatte. Es war nicht so, dass ihm die Wörter nicht einfielen. Die Wörter standen wie klare Zeichnungen in seinem Kopf. Manche dick und rund wie saftige Äpfel, manche kurz und klein wie Samenkörner, andere so biegsam wie Weidenruten und wieder andere wie ein Labyrinth voller Kringel und Kreise. Er sah jedes einzelne Wort vor seinem inneren Auge, doch er war unfähig, es auszusprechen, sosehr er sich auch bemühte.
Seit diesem Tag geschah es immer mal, dass er nicht sprechen konnte, wenn er sich aufregte. Es war ein hoher Preis, doch immerhin hatte Hinner aufgehört, seine Mutter zu schlagen.
Tröstlich war, dass Lauren ihm drei Tage lang seine Lieblingsspeisen kochte. Dampfende Pfannkuchen mit Apfelmus, Kartoffelbrei mit schwarz glänzender Leber, Grießbrei mit dunkelroten heißen Kirschen. Jedes Mal war es ein Fest für ihn und seine Schwester, denn seine Mutter kochte nur selten. Meistens holte sie ein Fertiggericht aus dem Tiefkühler und erhitzte es in der Mikrowelle.
»Hallo?«
Der Junge wischte sich mit einer hastigen Bewegung die Tränen von den Wangen, hob das Gesicht und streckte es in den stürmischen Wind wie Wild, das Witterung aufnimmt.
»Hallo?!«, rief die Stimme erneut. Es war eine hohe, helle Stimme.
Eine Sturmböe erfasste den Jungen und zerrte an seiner Jacke. Er stemmte sein ganzes Gewicht dagegen und regte sich nicht. Er starrte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, und erkannte die Umrisse einer Frau in einem langen dunklen Mantel und derben Männerstiefeln. Die Frau trug ein Gewehr über der Schulter und hielt einen Hasen in der Hand. Langsam kam sie auf ihn zu.
Sie war klein und hatte eine Mütze tief ins Gesicht gezogen. Unter der Mütze kringelten sich feuchte, graue Haare in die Stirn, und ihre Augen waren von einem dichten Netz Falten umgeben. Sie sah alt aus. Älter als seine Mutter, aber nicht ganz so alt wie seine Großmutter.
Als sie so nah war, dass der Junge sie erkannte, erschrak er und wich instinktiv einen Schritt zurück.
»Hallo«, sagte die Frau ein drittes Mal.
Der Junge antwortete nicht. Sein Großvater hatte ihm verboten, mit der Frau zu sprechen. Er hatte auch verboten, mit ihr mitzugehen. Er sollte überhaupt niemals mit Fremden mitgehen. Er sollte auch mit niemandem sprechen.
Doch vor allem sollte er niemals mit dieser Frau reden.
»Bist du allein?«, fragte die Frau.
Er starrte auf seine Schuhspitzen und überlegte fieberhaft, was er jetzt tun sollte. Im Sommer wäre er einfach weggelaufen. Doch jetzt? Er wusste ja nicht einmal mehr, wo er war.
»Hast du dich verlaufen?«
Der Junge sah auf. Dann nickte er wortlos. Nicken war erlaubt. Es war kein Sprechen.
»Du musst dir keine Sorgen machen«, sagte die Frau und machte einen Schritt auf ihn zu.
Der Hase baumelte in ihrer Hand hin und her.
»Du bist doch Heineckens Enkel, oder?«
Der Junge zuckte zusammen und zog die Schultern hoch.
»Willst du zu deinen Großeltern?«, fragte die Frau.
Energisch schüttelte er den Kopf.
»Suchst du die Straße?«
Wieder schüttelte er den Kopf.
»Ich bin Henny Langhoff.« Die Frau lächelte ihn an. Ihre Lider schlossen sich zu schmalen Schlitzen, in denen die kleinen, grauen Augen fast verschwanden.
Der Junge schwieg. Sein Magen gefror zu einem Klumpen Eis. Der Großvater hatte ihm erzählt, dass die Frau auf Tiere schoss und sie dann aß. Wenn sie keine Tiere fand, schoss sie auf Kinder, die von zu Hause weggelaufen waren. Er war froh, dass sie einen Hasen in der Hand hielt. Heute würde sie nicht auf Kinder schießen.
Er beruhigte sich ein wenig. Sein Blick schweifte noch einmal umher auf der Suche nach etwas Bekanntem. Doch weit und breit war nur Schnee.
»Du brauchst keine Angst vor mir zu haben«, sagte die Frau und lachte gurrend. »Ich weiß, was die Alten hier über mich erzählen, damit die Kinder nicht über die Felder stiften gehen, wenn sie zu Hause Ärger haben. Glaub ihnen nicht. Sie reden dummes Zeug.«
Sie sah ihn mit ihren kleinen Augen an, als erwartete sie eine Antwort auf eine Frage, die sie gar nicht gestellt hatte.
»Du kommst jetzt erst einmal mit«, sagte sie schließlich bestimmt.
Der Junge drehte sich noch einmal um, dann sah er zu der Frau. Einen Moment lang blieb sein Blick an dem Gewehr hängen.
Er begriff, dass er keine Wahl hatte.