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»Henny Langhoff«, hatte sie gesagt.
Jetzt wusste Jan zumindest ihren Namen. Er erinnerte sich sogar daran, wo ihr Haus lag, obgleich er draußen im Schneegestöber jede Orientierung verloren hatte.
Sein Großvater hatte ihm das Haus früher mal bei einer Waldwanderung gezeigt. Es lag wie das seiner Großeltern etwas abseits von Solthaven, und er erkannte es sofort wieder.
Es war ein kleines Haus auf einem kleinen Grundstück, viel kleiner als das seiner Großmutter und umgeben von hohen Tannen. Darunter schaute es böse und dunkel hervor mit blinden Fenstern und aufgeplatztem rauem Putz.
Sein Großvater hatte ihm damals erklärt, er sollte den Teil des Waldes meiden, der an das Grundstück grenzte. Es könnte nämlich sein, dass die Frau an genau dem Tag keinen Hasen schoss, und dann würde sie auf Kinder schießen und die essen. Und egal, was die Frau ihm einzureden versuchte – er glaubte seinem Großvater.
Denn das mit dieser Frau und den Kindern war eine andere Geschichte als die mit dem Osterhasen und dem Weihnachtsmann. In der Schule hatte er von Kannibalen gehört, und später dann hatte er im Internet einen Artikel darüber gefunden. Da war sogar eine Elfenbeinskulptur abgebildet gewesen. »Menschenfresserin«. Die Frau war nackt und nagte an einem großen, runden Knochen, während ihr zu Füßen ein verängstigter Junge kauerte.
Bei diesen Gedanken durchfuhr ihn ein Schauer, obwohl er inzwischen in ihrer warmen Küche stand.
»Frierst du noch?«
Die Frau musterte ihn mit ihren kleinen Augen, die ihm unangenehm waren.
Er schüttelte den Kopf.
»Wie heißt du?«
Sie zog den langen Mantel aus und warf ihn über einen der Stühle zu einer Jacke und einer Hose, die dort bereits lagen. Unter einer verwaschenen, kornblumenblauen Drillichhose mit einem Latz trug sie einen blauen Pullover. Die Hosenbeine steckten in klobigen Schnürstiefeln, und die Frau machte keine Anstalten, sie auszuziehen.
Als er nicht antwortete, fragte sie ein zweites Mal nach seinem Namen.
Er konnte ihn ruhig nennen, auch wenn er nicht mit ihr reden sollte. Hier drinnen hörte ihn sowieso keiner. Und mehr brauchte er ja nicht zu sagen. Doch das Sprechen war längst wieder beschwerlich geworden.
»Jan«, antwortete er und bewegte den Mund dabei so breit und zögerlich, als kaute er eine Kartoffel.
»Also Jan, sag Henny zu mir.«
Die Frau nahm seine Hand. Ihr kräftiger Griff umschloss seine zarten Finger wie eine fleischfressende Pflanze. Er vermeinte schon das schmatzende Geräusch zu hören, mit dem sie sie gleich in sich hineinsaugen würde.
Er hielt die Luft an.
Als sie seine Hand losließ, atmete er erleichtert auf. Es war kein Trick gewesen, ihn festzuhalten.
Sie hatte gar nicht auf ihn schießen müssen. Er war ihr wie ein kreuzdoofes Kaninchen genau vor die Flinte gelaufen. Wenn das die Jungen in seiner Klasse erfuhren, würden sie ihn wieder wochenlang auslachen. Aber das war längst nicht so schlimm, wie hier in diesem Haus zu sein. Er musste etwas unternehmen.
»Sie werden mich suchen.« Der Satz tobte in seinem Kopf, brach sich Bahn und füllte seinen Mund aus wie ein zu großer Bissen. Er öffnete die Lippen.
Er brachte den Satz nicht heraus. Aber er musste ihn sagen. Sie musste es wissen. Er konzentrierte sich auf das entscheidende Wort.
»Suchen«, stieß er mit kläglicher Stimme hervor.
Er stand neben einem alten Küchentisch, dessen dunkles Holz von Kerben durchzogen war. An einer Stelle war sogar eine Ecke herausgebrochen. Dort war das Holz viel heller und freundlicher. Er starrte auf die Stelle, als könnte ihn das zusammenhalten.
Die Frau hatte einen Kessel Wasser aufgesetzt. Vom Herd aus sah sie ihn nun neugierig an. Sie verstand ihn nicht.
Jan legte den Finger auf die fehlende Ecke.
Ihr Blick folgte seinem Finger. Jetzt schien sie zu verstehen.
»Ich will doch hoffen, dass sie dich suchen«, sagte sie schließlich. »Aber setz erst mal den Rucksack ab und zieh die Jacke aus. Du bekommst einen Lindenblütentee. Dann rufen wir deine Mutter und deine Großmutter an und sagen Bescheid. Und vorher wäschst du dir das Blut von Händen und Schuhen.«
Sie hatte es nicht verstanden. Entsetzt schaute er sie an.
Sie durfte nicht zu Hause anrufen. Schon gar nicht bei der Großmutter.
Doch da war noch etwas anderes, und das musste er jetzt wissen. Jetzt sofort.
»Werden Sie heute den Hasen essen?« Der Satz wand sich zwischen seinen Zähnen hervor und wuchs zu einem verwirrenden Ungetüm aus Vokalen und Konsonanten. Er konnte es. Er ging doch zu einem Logopäden, und der hatte ihm erklärt, wie er sich konzentrieren konnte. Er musste auf seinen Atem achten. Ganz langsam ausatmen, einatmen. Er konzentrierte sich. Sein Gesicht wurde ganz rot vor Anstrengung.
Es half nicht. Er dachte an das wichtigste Wort, wie seine Mutter es ihn gelehrt hatte. Dann eben nur das.
»Hase?« Da war es und schlüpfte rund und glänzend aus seinem weit offenen Mund.
Die Frau lachte auf. Das hatte sie sofort verstanden.
Jan ging zur Spüle hinüber. Er hatte noch immer den Rucksack auf dem Rücken und die Jacke an. Er schob die Ärmel hoch und ließ sich kaltes Wasser über die kleine Wunde an der Hand laufen. Es brannte, und er verzog das Gesicht.
»Na, dich esse ich jedenfalls nicht. Kleine Jungs sind ein bisschen zäh. Sie haben zu viel Muskelfleisch.«
Es klang wie Spaß, aber Jan wusste, dass Erwachsene manchmal klangen, als würden sie Spaß machen, und dann meinten sie es doch ernst. Es war mitunter schwierig, das auseinanderzuhalten.
Er trocknete sich die Hände an einem ausgefransten, grauen Frotteehandtuch ab und ging zum Tisch zurück.
Die Frau wies auf ein paar feuchte Stellen auf dem Fußboden.
»Du hast immer noch irgendwo Blut in deinen Profilsohlen. Wo bist du denn reingetreten?«
Jan blickte auf seine Stiefel. Tränen traten ihm in die Augen. Schon zum zweiten Mal an diesem Tag. Die Stiefel waren aus hellem, ockerfarbenem Wildleder und neu. Doch nun waren sie von dunklen Flecken übersät. Er wusste, dass seine Mutter Blut nur schwer aus seinen Sachen gewaschen bekam, wenn er hingefallen war und sich verletzt hatte. Wie sollte sie es aus dem Leder entfernen?
Er wollte keinen Tee trinken.
Er wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.
Er wollte zu Hause sein mit seiner Mutter und mit Pauline. Sie wollten doch heute die Weihnachtseinkäufe erledigen und dann über den Christmarkt bummeln. Es würde ihm auch gar nichts ausmachen, wenn seine Mutter mit ihm schimpfen würde, weil die Schuhe fleckig waren und er eine Sechs im Diktat bekommen hatte. Das machte schon gar nichts mehr. Er wäre sogar froh, wenn sie mit ihm schimpfen würde. Doch dazu musste er hier weg und nach Hause. Nur durfte seine Mutter nicht hierherkommen. Dann würden sie zur Großmutter gehen, und das wäre schlimm.
Obwohl die Frau das Licht eingeschaltet hatte, war die Küche nur spärlich erhellt. Jan sah sich um. Auf der Spüle stapelten sich benutzte Teller, neben dem Herd standen eine Keramikkasserolle und mehrere Töpfe. In einer Ecke lag ein zusammengerutschter Zeitungsstapel neben einem umgefallenen Plastikbeutel, aus dem welke Porreestangen ragten. Auch über dem zweiten Stuhl am Tisch hingen mehrere Hosen und Jacken übereinander. Seine Mutter würde eine solche Unordnung nicht dulden. Wenn Pauline oder er etwas ausgezogen hatten, mussten sie es gleich in den Schrank räumen oder zur schmutzigen Wäsche ins Bad tragen.
»Setz dich«, sagte die Frau und räumte die Sachen von der Lehne des einen Stuhls auf die des anderen.
Folgsam setzte er sich. Sein Rucksack stieß hinten gegen die Lehne, und er saß zu weit vorn, fast auf der Kante. Er legte die Hände vor sich auf den Tisch. Er durfte jetzt nicht weinen. Er musste sich konzentrieren.
Auf dem Weg hierher hatte sie ihm erklärt, wie er in die Stadt gelangen konnte. Sie hatte gesagt, links, immer den Weg entlang, bis er auf einen anderen gelangte. Den müsste er nach rechts und dann immer geradeaus.
Er konnte es schaffen. In Solthaven kannte er sich aus, denn dort wohnte er.
Anderthalb Kilometer, hatte die Frau gesagt, wäre die Stadt entfernt. Das war kürzer als vom Haus seiner Großmutter aus. Außerdem führte ein Weg dorthin. Vom Haus seiner Großmutter ging eine schmale, geteerte Straße zur Stadt. Auf der war er heute Mittag mit dem Bus gekommen.
Aber die Straße hatte er vorhin vor lauter Angst nicht genommen. Da hätte er ihn bestimmt gefunden und ihm dann Schreckliches angetan.
Er kannte das aus den Filmen, die er eigentlich nicht sehen durfte. Doch manchmal, wenn Lauren mit Pauline beim Kinderturnen war, ging er an die DVD-Sammlung und sah sich einen Film an. Den DVD-Player konnte er im Schlaf bedienen. Er hatte es sich von Lauren genau abgeschaut.
Er konnte auch das Gewehr bedienen.
Die Frau hatte es an den Küchenschrank gelehnt. Das war leichtsinnig. Gewehre musste man wegschließen, am besten im Keller. So hatte sein Großvater es immer gemacht.
Im letzten Sommer vor seinem Tod hatte der Großvater ihm gezeigt, wie man ein Gewehr entsicherte, und er hatte dann im Garten damit schießen dürfen. Mehrmals sogar. Hätte der Großvater ihn nicht jedes Mal festgehalten, wäre er durch den Rückstoß umgefallen. Das war aber hier nicht schlimm. Er musste nur aufpassen, dass er nicht gegen etwas fiel, an dem er sich verletzen konnte. Wenn er der Frau ins Bein schoss, dann konnte er weglaufen.
Die Frau stand an der Spüle, über die sie ein großes Schneidebrett gelegt hatte.
Sie hielt ein langes, schmales Messer in der Hand und entbeinte einen Knochen. Einen dicken, runden Knochen. So rund und mächtig wie der, an dem die »Menschenfresserin« in dem Internetartikel über die Kannibalen nagte. Der Knochen war nicht vom Hasen. Den Hasen hatte sie ja draußen in einem Schuppen aufgehängt, nachdem sie zwischen den Läufen einen langen Schnitt in seinen weichen Bauch geschlitzt hatte. Sie hatte einen dicken Bindfaden um seine Hinterläufe gewickelt und ihn mit dem Kopf nach unten an einen Nagel gehängt. Darunter stand eine Zinnwanne, die innen schwarz gewesen war. Vielleicht hängte sie die Kinder dort auch kopfüber auf. Ihm war übel geworden, als sie den Schnitt in das Fell gemacht hatte, und er hatte den Kopf abgewandt. Die Frau hatte ihn ausgelacht, als sie es bemerkt hatte.
Ihm war auch jetzt übel. Doch wenn er zu dem Gewehr wollte, musste er loslaufen. Sofort. Sie konnte jeden Augenblick fertig sein, und dann war es zu spät. Jetzt musste er es tun, solange die Frau mit dem Fleisch beschäftigt war und ihm den Rücken zuwandte.
Sein Herz klopfte bis zum Hals. Er sprang vom Stuhl auf, der polternd umkippte. Er rannte zum Gewehr, riss es an sich und machte einen Schritt zur Seite, so dass er den Küchenschrank im Rücken hatte. Der würde ihn stützen, falls er nach dem Schuss nach hinten fiel.
Die Frau war beim Poltern herumgewirbelt. Sie hielt das Messer in der Hand und sah ihn ungläubig an.
»Leg es weg, um Gottes willen!«, sagte sie, doch seine zitternden Finger suchten schon den Abzugshebel. Ihr Mund stand offen, als wollte sie noch etwas sagen, doch sie brachte keinen Ton heraus.
Er fand den Hebel nicht. Sein Herz schien überall zu klopfen, in seinem Kopf, seinen Armen, seinen Beinen. Seine Hände zitterten heftig, als würden sie von hundert Herzen angetrieben, und das Gewehr zitterte ebenso. Er würde es nicht schaffen. Niemals. Er war nicht wie sein Großvater. Er war auch nicht wie die Killer in den Filmen. Er warf das Gewehr zur Seite, während im Gesicht der Frau etwas Sonderbares vor sich ging, das er nicht verstand. Sie lächelte und schloss die Augen.
Er musste hier weg. Raus. Sofort.
Er drehte sich um, sprang zur Tür, riss sie auf und stolperte hinaus. Im schummrigen Korridor stieß er sich an der Kommode. Er achtete nicht auf den Schmerz, der ihn durchschoss. Er stürmte weiter, riss die Vordertür auf und sprang die Stufen hinunter.
Der Neuschnee bedeckte die vereisten Stufen. Schon auf der zweiten Stufe riss es ihm die Beine weg. Für Sekunden hingen sie in der Luft, dann prallte er mit dem Rucksack auf die Stufe, drehte sich um sich selbst, schlug mit dem Kopf auf die nächste Stufe und auf noch eine und landete schließlich am Fuß der Treppe, das Gesicht dem Haus zugewandt.
Das Letzte, was er sah, war eine dünne Rauchsäule, die kerzengerade aus dem Schornstein stieg und sich im Schneetreiben verlor.