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Kurz vor halb sechs fuhr ich durch die Einfahrt auf den Friedhofsparkplatz, der verlassen dalag. Ich parkte unter einer Laterne, deren Lichtkegel eine helle Schneise in die dicht fallenden Flocken fräste.

Als ich aus dem Auto stieg, versank ich mit den Stiefeln bis zu den Knöcheln im frisch gefallenen Schnee. Ich schloss meine Daunenjacke bis zum Kinn und zog den Kopf zwischen die Schultern. Dann holte ich das Grabgesteck aus dem Kofferraum, schloss das Auto mit der Fernbedienung und ging entschlossen los.

Schnell legte der Schnee einen feuchten Film auf Haare und Haut, und meine Hände wurden klamm und kalt.

Nervös und aufgeregt eilte ich den schnurgeraden Hauptweg entlang und ließ die Friedhofskapelle hinter mir. Ich wünschte mir so sehr, dass Leo am Grab unserer Mutter tatsächlich auf mich wartete, um mit mir zu reden. Nur reden. Danach konnte er dorthin zurückgehen, woher auch immer er gekommen war. Wir müssten uns nie wiedersehen. Er müsste nur meine Fragen beantworten. Warum bist du wieder da? Was willst du? Warum hast du meinen Freund Charles erschossen und was weißt du über Claudias Tod?

In den ersten Wochen und Monaten nach Charles’ und Claudias Tod schlief ich mit diesen Fragen ein und wachte mit ihnen auf. Fast zwanghaft drehte ich sie in meinem Kopf hin und her, auch wenn ich längst wusste, dass es keine Antwort gab und nie eine geben würde, so lange mein Bruder auf der Flucht war.

Diese Tage waren schlimm. Doch noch weit schlimmer waren die Nächte, denn dann holten mich meine geheimsten Wünsche ein. Ich träumte von Charles und dass er lebte. Gemeinsam wanderten wir durch wundersame Insellandschaften, segelten mit seltsam konstruierten Schiffen hart am Wind oder lagen am Strand und lauschten den Wellen, während wir einander versicherten, dass wir uns liebten.

In diesen Träumen waren wir glücklich, und immer wenn ich erwachte, weinte ich, weil ich Charles so schmerzhaft vermisste. Trotzdem war ich in diesen Momenten dankbar, dass er zumindest im Traum zu mir zurückkam.

Tagsüber hatte ich Mühe, mich auf die Seminare zu konzentrieren, und die meisten Vorlesungen glitten an mir vorüber in einem Strom leerer Worte, deren Bedeutung sich mir nicht erschloss. Als ich die erste Seminararbeit mit einem »Ungenügend« zurückbekam, saß ich abends auf meinem Bett in dem kärglich eingerichteten Zimmer des Studentenwohnheims – ein Schrank, ein Doppelstockbett, zwei Schreibtische – und grübelte. Meine Mitbewohnerin Lena setzte sich zu mir, den Rücken an die Wand gelehnt. Sie zog das Nachthemd über die angewinkelten Knie und schlang die Arme darum.

»Warum gehst du nie mit uns aus?«, fragte sie. »Warum sitzt du immer allein im Zimmer?«

Ich zuckte mit den Achseln.

»Du weckst mich manchmal auf«, sagte sie. »Dann wackelt das ganze Bett, weil du dich hin- und herwirfst. Manchmal murmelst du im Schlaf unverständliches Zeug, und du weinst. Vielleicht brauchst du ein Schlafmittel.«

»Spinnst du?«

Sie sah mich an und grinste.

»Ich kenne eins. Wir werden morgen Abend tanzen gehen«, sagte sie. »Nur du und ich.«

»Wozu?«, fragte ich.

»Weil wir neunzehn sind, weil das Leben schön ist und weil du ein ›Ungenügend‹ bekommen hast. Darauf müssen wir einen trinken. Und dann wirst du schlafen wie ein Bär. Glaub mir, es gibt nichts Besseres.«

Lena ging häufig aus, und weil ich nur selten durchschlief, hörte ich sie meistens spät heimkommen. Erst das Drehen des Schlüssels im Schloss, dann das verstohlene Öffnen der Tür, das Tappen den kurzen Flur entlang. Manchmal rauschte die Toilettenspülung im Bad, manchmal hörte ich leise Flüche, ein Rumoren, ein Flüstern.

Ihre Methode mag nicht sonderlich originell gewesen sein, doch der Alkohol und das Tanzen halfen mir – und der Sex. Wahlloser Sex mit Männern, die wir in Studentenkneipen und Diskotheken aufrissen. Sie verbannten für eine Nacht meine Dämonen, und das war alles, was ich in dieser Zeit erwartete.

Allmählich ließen die Träume nach, und meine Erinnerungen verkrochen sich in den hintersten Winkeln meines Gedächtnisses. Doch noch Jahre später bedurfte es nur eines Auslösers, schon überschwemmten mich die Bilder aus meiner Vergangenheit und trieben mir die Tränen in die Augen. Manchmal während ich für Max das Abendessen vorbereitete, mitunter gar während eines Prozesses, den ich beobachtete. Doch mit Geduld und Konzentration war es mir gelungen, meinen Dämonen immer öfter zu entfliehen.

Nun aber bröckelten meine Schutzwälle, und das war etwas, was mir nicht gefiel.

Kaum bog ich in den Weg ein, in dem sich das Grab meiner Mutter befand, sah ich eine Gestalt. Der Lichtkegel einer Laterne hatte sie erfasst, doch es war nicht Leo.

Es war eine Frau, und ich erkannte sie sofort an dem flammend roten Haar, das zwar dünn geworden war, ihr jedoch noch immer bis auf die Schultern fiel. Sie trug einen langen dunklen Wollmantel, der wie ein zu großes Zelt um ihren Körper hing. Gebeugt stützte sie sich auf einen Schneeschieber und stand starr wie eine Statue.

Sie rührte sich auch dann nicht, als ich sie erreichte.

»Guten Abend, Margo«, sagte ich. »Ich bin es.«

Ich streckte meine Hand aus, um sie zu begrüßen.

»Weshalb vergammeln diese Kränze und Sträuße hier unter dem Schnee?«, fragte sie mit ihrem typisch englischen Akzent und wandte sich mir zu. Sie ignorierte meine ausgestreckte Hand.

Ich blickte in ein verhärmtes Gesicht, aus dem mich zwei helle Augen feindselig anschauten.

»Wir haben sie erst vor zwei Tagen beerdigt.«

Ich zog meine Hand zurück und legte das Gesteck auf das Grab, während ich mein Erschrecken über ihren Anblick zu verbergen versuchte. Sie musste inzwischen um die 60 sein. Als ich sie kennen lernte, war sie eine Schönheit mit einem feinen blassen Teint, hoher Stirn und grünen Augen. Doch an diesem Abend sah sie aus wie jemand, dem das Leben jede Enttäuschung einzeln in das einst feine Gesicht geritzt hatte.

Eine Böe wehte ihre eine Strähne des feuchten Haares in die Stirn. Fröstelnd zog sie den Mantel mit einer Hand über der Brust zusammen. Die andere umklammerte den Holzstiel.

»Tut mir leid, das mit eurer Mutter«, sagte sie, doch ich hörte ihrer Stimme an, dass sie nichts mehr wünschte, als dass mich der nächste Windstoß davontrug.

Ich rührte mich nicht von der Stelle und wich ihrem Blick nicht aus.

»Sie fehlt mir«, sagte ich und trat von einem Fuß auf den anderen.

Einen Moment sah sie so aus, als würde sie gleich weinen. Dann trat wieder derselbe abweisende Ausdruck in ihr Gesicht.

»Ihr hattet sie nicht verdient«, sagte sie mürrisch.

»Margo«, sagte ich leise.

»Ihr habt allen nur Unglück gebracht, du und dein Bruder«, stieß sie hervor, als hätte der Satz all die Jahre sprungbereit in ihr gelauert und nun endlich eine Gelegenheit gefunden, ins Freie zu gelangen und seine zersetzende Wirkung zu tun.

Sie atmete schwer. Ich erinnerte mich, dass sie Asthma hatte und dass sie häufig, wenn die Luft feucht und schwer war oder wenn sie sich aufregte, einen ihrer Anfälle bekam.

»Geht es dir nicht gut?«, fragte ich. »Soll ich dich nach Hause bringen?«

Ich streckte ihr wieder die Hand entgegen.

»Untersteh dich«, wehrte Margo meine Hand ab.

Sie fummelte in ihrer Manteltasche, holte einen kleinen Inhalator hervor und sog gierig das Spray ein.

»Darf ich dich etwas fragen?«

Margos Hand umklammerte das Spray.

»Nein.«

Sie trat einen Schritt zurück, dann noch einen. Gleich würde sie sich umdrehen und fortgehen. Jetzt, dachte ich. Frag es jetzt, oder lass es für alle Zeiten.

»Ist Charles der Vater von Laurens Zwillingen?«

Meine Stimme klang zu laut.

Sie machte einen Satz auf mich zu, den Schneeschieber in der Hand wie einen Stock, den sie als Waffe benutzen wollte. Ihr verhärmtes Gesicht näherte sich meinem. Ihr Mund hatte sich zu einem Spalt verzogen. In ihren Augen kochte eine rohe Wut, die mich trotz allem überraschte.

»Sprich nie wieder von meinem Sohn. Nie wieder. Nimm nicht einmal seinen Namen in den Mund«, fauchte sie keuchend und inhalierte erneut. »Ihr seid doch schuld, dass das alles passiert ist.«

»Margo«, sagte ich hilflos.

Ihr Zeigefinger stieß auf meine Brust. »Ihr seid schuld an allem, was passiert ist. Du und dein Bruder.«

Sie ließ von mir ab, drehte sich um und ging durch den Schnee davon.

Abrupt blieb sie noch einmal stehen.

»Ihr ekelt mich an!«, rief sie zurück. »Ihr alle. Deine ganze Sippschaft oder das, was davon übrig ist.«

Ich sah ihr nach, während in mir der Hass dieser Frau lärmte und mich ratlos zurückließ.

Fast mechanisch begann ich, die wenigen Buketts und Kränze unter der Schneedecke hervorzuziehen und den Schnee abzuklopfen, während ich wider jede Vernunft hoffte, dass mich eine Hand von hinten antippte und ich die vertraute Stimme meines Bruders doch noch hörte. Doch es geschah nicht.

Obwohl ich fror, stand ich schließlich noch eine ganze Weile am Grab und sprach mit dem verwesenden Körper meiner Mutter über meine Trauer und meine Ängste, Hoffnungen und Wünsche, während der Schnee auf meinen Wangen schmolz und sich mit meinen Tränen vermischte.