19
Als ich am nächsten Morgen erwachte, war das Bett neben mir noch immer unberührt. Ich nahm an, dass Alex die ganze Nacht unten in der Küche gesessen und darüber nachgedacht hatte, was er tun sollte.
Über Alex’ Vergangenheit wusste ich nicht viel. Er war in Bayern auf einem Bauernhof groß geworden, bis er mit 14 Jahren in ein englisches Internat gekommen war. Seine Mutter Charlotte, in Essex geboren und im Künstlerstädtchen St. Ivory am Atlantik aufgewachsen, wollte, dass Alex zweisprachig aufwuchs.
Sein Vater stammte aus einer bayrischen Familie, deren Männer seit drei Generationen Tierärzte waren. Alex hatte Philosophie und Geschichte studiert, zunächst in Sussex, danach drei Jahre lang an der Berliner Universität. Er hatte ein Volontariat beim Fernsehen gemacht und drehte seit mehreren Jahren für ein Sonntagsmagazin Features und Reportagen.
Viel mehr wusste ich nicht. Es waren die Eckdaten eines Lebenslaufes, wie man sie jedem Bewerbungsschreiben entnehmen konnte. Wenn ich ihn nach Einzelheiten fragte, blockte er ab. Seine Vergangenheit lag hinter einer klar definierten Grenze, und da ich ihm meine Vergangenheit bis zum gestrigen Abend auch nicht auf einem Silbertablett serviert hatte, hatte ich mich damit zufriedengegeben.
Ich war eher überrascht, dass er nicht doch noch ins Bett gekommen war, als wirklich besorgt. Denn weshalb sollte Alex mich wegen einer Geschichte verlassen, die 20 Jahre her war?
Ich brauchte einen Moment, bis ich realisierte, dass Alex’ Reisetasche nicht mehr neben der Tür stand.
Er hatte es getan. Er war zurück nach Hamburg gefahren.
Ich brauchte noch einmal eine Weile, bis ich fähig war aufzustehen. Wie in Zeitlupe ging ich ins Bad und hockte mich auf den Wannenrand. Mein Kopf fiel nach vorn, meine Schultern hingen herab, und meine Nerven und Muskeln schienen zu schreien: »Warum hast du mich verlassen?«
Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als die Zeit zurückzudrehen. Hätte ich doch nichts gesagt. Hätte ich doch »Nein« geantwortet auf die Frage, ob ich Charles noch liebte.
Liebte ich ihn überhaupt noch? Konnte man das nach so langer Zeit? Konnte man einen Toten lieben? Oder liebte man nur eine Erinnerung?
»Zur Hölle damit«, sagte ich halblaut mit einer krächzenden Stimme und stand auf. Ich drehte das Wasser auf und betrachtete mich im Spiegel. Ein bleiches Gesicht starrte mir entgegen. Mechanisch griff ich nach Zahnbürste und Zahnpastatube und putzte mir die Zähne. Dann stellte ich mich unter die Dusche. Das warme Wasser prasselte monoton und beruhigend auf die Haut, doch es reichte nicht, meine Welt wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Zumindest aber musste ich so tun als ob. Das war ich Max schuldig.
Ich griff nach dem blauen Frotteemantel – abgetragen und so alt wie der Haken, an dem er hing – und warf ihn mir über.
Ich legte Make-up auf, zog die Lippen nach, bürstete die Brauen in Form und legte noch etwas Rouge auf. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete ich mich im Spiegel. Ich glich der Frau, die ich normalerweise war, schon ein wenig mehr.
Ich föhnte mir die Haare, schlüpfte in meine Jeans, zog ein weißes T-Shirt an und darüber eine nachtblaue Kaschmirstrickjacke. Noch einmal betrachtete ich mein Spiegelbild. So konnte es gehen. Ich hatte einen mentalen Vorhang herabgelassen, der zweifellos ein paar Löcher besaß, und wer hindurchblickte, riskierte dahinter etwas zu entdecken, das er vielleicht nicht sehen wollte.
Für Max jedoch würde dieser Vorhang genügen.
Ich ließ mich aufs Bett fallen, atmete tief durch und rief Alex an. Ich erwischte nur seinen Anrufbeantworter und hinterließ eine Nachricht. Ich würde ihn vermissen und er möge bitte zurückrufen.
Alex hatte Koslowskis Ordner zurückgebracht, als ich noch schlief. Er lag wieder neben dem Bett auf dem Fußboden, und ich nahm ihn und blätterte darin, die Fotos der Kinder ignorierend. Ich brachte es nicht über mich, sie mir noch einmal anzusehen. Ich betrachtete vielmehr das Foto jener jungen Frau, die vor ein paar Monaten ermordet worden war. Ich dachte daran, was Koslowski erzählt hatte, und blätterte weiter, bis ich die Vernehmungsprotokolle zu Claudia Langhoffs Tod fand. Ich las Koslowskis Geständnis und die Aussagen von Henny Langhoff, Claudias Mutter. Da stand es schwarz auf weiß: Leo hätte einen Tag vor Claudias Verschwinden mit ihr Schluss gemacht.
Wie bitte?
Claudia hätte die Nacht durchgeweint.
Ich las Konrads Aussage und die ihres Vaters. Beide behaupteten ebenfalls, Leo hätte mit Claudia Schluss gemacht. Was sollte das alles?
Claudia hatte sich alle paar Monate von meinem Bruder getrennt. Am nächsten Tag tauchte sie dann wieder auf und versöhnte sich mit ihm. So war es die ganzen vier Jahre lang gewesen.
Weshalb also sollte Leo seine Freundin vergewaltigt und ermordet haben? Und weshalb die junge Frau vor vier Monaten? Das ergab doch alles keinen Sinn. Außerdem war Leo kein Sexualmörder. Nie im Leben.
Aber was, wenn doch? Was, wenn ich ihn nie wirklich gekannt hatte? Und was, wenn Kortner einem anderen nicht nur einen Mord anhängte, sondern bereit war, über Leichen zu gehen, um einen Schuldigen zu präsentieren?
Ich saß angekleidet auf dem Bett und überlegte, was ich tun konnte.
Das Ergebnis war ernüchternd. Ich konnte nichts tun. Nichts für Leo, nichts für Alex, nichts für mich.