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Mir war übel, und der Schmerz kehrte zurück. Nachdem ein junger Polizist meine Fingerabdrücke gescannt hatte, ging ich auf die Toilette und verriegelte die Tür hinter mir. Ich war in der zehnten Woche schwanger, mit 42 eine Spätgebärende, und ich hatte früher geraucht. Ich gehörte zur Risikogruppe. Meine Frauenärztin hatte mich aufgeklärt, dass die meisten Fehlgeburten vor der zwölften Woche stattfanden und dass etwa 30 Prozent aller Frauen zumindest ein Mal in ihrem Leben eine hatten. Außerdem hatte sie die Symptome aufgezählt: stechende Schmerzen, erhöhte Temperatur, Schweißausbrüche, Übelkeit, plötzliche Blutungen.

Der Schmerz pochte tückisch in meinem Unterleib, und mir war übel. Ich hatte zwar weder Schweißausbrüche noch andere Symptome, dennoch begann mein Herz schnell und heftig zu schlagen. Ich hatte Angst, das Baby zu verlieren.

Glücklicherweise hatte ich Freunde. Es waren zwar nicht viele, aber die wenigen standen mir nahe. Sie waren für mich da, wenn ich sie brauchte, so wie ich für sie da war, wenn sie mich brauchten. Ich liebte sie, und ganz besonders liebte ich Cornelius.

Ich setzte mich auf den Toilettendeckel und wählte seine Nummer.

Elizabeta meldete sich nach dem dritten Klingeln. Cornelius lag noch im Bett, er war erst weit nach Mitternacht heimgekommen. Ob ich nicht später noch einmal anrufen könnte.

»Mist«, sagte ich und lehnte mich zurück. Der Kasten für die Toilettenspülung drückte sich in meinen Rücken.

»Ich habe heute meinen freien Tag«, sagte Elizabeta.

»Wecken Sie ihn, bitte«, sagte ich.

»Dann hat er den ganzen Tag schlechte Laune. Sie wissen doch, wie er ist.«

»Wer ist dran?«, hörte ich eine helle Jungenstimme.

»Geben Sie mir Chris«, sagte ich.

»Christopher Bluhm, guten Tag.«

Ziemlich professionell, der Knabe.

»Julie hier«, sagte ich. »Ich bin in Solthaven und muss deinen Vater sprechen.«

»Er hat gesagt, ich darf ihn nicht wecken. Nicht wegen der Zeitung und überhaupt nicht.«

Ich fluchte innerlich. Wieso gehorchten Kinder immer dann, wenn sie es nicht sollten? Gab es da ein Gen, das von Generation zu Generation vererbt wurde?

»Du kennst doch den Film Der Klient, oder?«, fragte ich auf gut Glück.

»Hm.«

»Du erinnerst dich doch auch an den kleinen Jungen, der dort Zeuge eines Mordes wurde, nicht wahr?«

»Hm.«

»Hier ist ein kleiner Junge wahrscheinlich auch Zeuge eines Mordes geworden. Er ist so alt wie du, und ich brauche jetzt die Hilfe deines Vaters für ihn.«

»Ist das wahr?«

»Ja«, sagte ich.

»Ist ja irre. Wie heißt er?«

»Chris, gib mir deinen Vater.«

»Ist ja schon gut.« Ich hörte das Trappeln seiner Schritte, Elizabetas Stimme, er solle Vernunft annehmen und seinen Vater schlafen lassen. Schnelleres Getrappel, das Aufreißen einer Tür und wieder die helle Stimme.

»Papa, es ist Julie. Sie erzählte mir gerade was von einem kleinen Jungen, der Zeuge eines Mordes ist, nur damit ich dich wecke.«

Was für ein durchtriebener kleiner Kerl. Trotzdem konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen.

»Wimmel sie ab«, knurrte eine Stimme, die noch im Schlafmodus operierte.

»Sie hat schon Lizzie genervt. Sie gibt einfach keine Ruhe, und sie hört sich komisch an.«

»Weiber«, sagte der Vater zum Sohn, und das Bürschchen kicherte.

»Julie?«, fragte Cornelius feixend. »Was ist los?«

»Ich hab’s gehört«, sagte ich.

»Ich hoffe nur, du hast einen Joker im Ärmel«, sagte Cornelius, »sonst lege ich auf.«

»Guten Tag wäre schön«, sagte ich, und ohne jegliche Überleitung platzte es aus mir heraus, dass Koslowski Claudia nicht umgebracht hatte. Dass Leo angeblich wieder da sein sollte. Dass es drei Tote gab und dass ich Margos Leiche gefunden hatte.

»Oh«, war alles, wozu Cornelius in der Lage war.

»Ja«, sagte ich und lieferte ihm eine Kurzfassung der vergangenen Stunden.

Er hörte zu.

»Alex hat sich also aus dem Staub gemacht«, sagte er dann.

»Ich rede von Mord«, erwiderte ich, »und Alex ist was Persönliches und hat damit nichts zu tun.«

»Wichser«, knurrte Cornelius. »Wo bist du gerade?«

»Bei der Polizei auf der Toilette.«

»Wie geht es dir?«

»Schlecht«, sagte ich. Dann heulte ich los.

Cornelius atmete hörbar ein. Ich schämte mich, doch ich konnte die Tränen nicht stoppen.

»Ich nehme an, du möchtest, dass ich komme«, sagte er. Der resignative Unterton in seiner Stimme entging mir nicht. Es war Wochenende. Er hatte frei und endlich mal Zeit für seinen Sohn.

Ich schluckte.

»Möchtest du?«, fragte er.

»Ja«, sagte ich. »Es gibt da nämlich noch etwas, und ich weiß nicht, wie ich damit klarkommen soll.« Ich wusste, dass der nächste Satz hirnrissig klingen würde. Aber Cornelius war mein Freund, und deshalb fuhr ich fort: »Kortner hat mich heute abgepasst. Er behauptet, meine Mutter habe Charles erschossen. Und Lauren hat angegeben, Charles sei der Vater ihrer Zwillingstöchter.« Meine Stimme wurde mit jedem Satz hysterischer.

»Hey«, sagte Cornelius. »Charles hat dich geliebt. Alles andere ist doch kompletter Unsinn.«

»Nein, anscheinend nicht.«

»Okay«, sagte er ernst. »Weshalb behauptet Kortner das alles gerade jetzt? Erzähl mir die ganze Geschichte noch mal von vorn. Angefangen mit Koslowski.«

Ich begann von vorn und bemühte mich, nichts auszulassen.

»Okay«, sagte er, als ich schwieg. »Das alles klingt ziemlich übel. Was kann ich tun?«

»Du musst Robert anrufen.«

Offiziell existierte Robert nicht. Inoffiziell beschaffte er uns in Notfällen jede Information, die wir brauchten. Er hatte ein paar Jahre Informatik studiert, doch statt Computerprogramme zu schreiben, beschäftigte er sich lieber mit den Sicherheitslücken der bereits vorhandenen. Jedenfalls nannte er es so. Wenn er genügend Zeit hatte, hackte er sich in jedes Programm und jedes System, und das aus der Überzeugung heraus, dass wir alle, die wir täglich mit unseren Handys oder Computern unterwegs waren, längst in einer Weise durchleuchtet wurden, die uns die Haare zu Berge stehen ließen, würden wir nur wahrhaben wollen, dass wir beruflich und privat längst gläserne Menschen waren. Und dass es nur rechtens war, ab und an zurückzuspionieren.

»Ich brauche alles, was Robert über Leos und Konrad Langhoffs Verurteilung und Jugendhaft finden kann. Die Namen aller, die zur selben Zeit dort einsaßen. Und ich brauche alles über Margo Swann. Irgendwo muss etwas über sie zu finden sein. Sie ist Engländerin. Es hieß immer, sie sei aus politischen Gründen in die DDR gekommen, um beim Aufbau des Sozialismus zu helfen. Aber im Moment zweifle ich an allem, und deshalb will ich ein paar Fakten. Und versucht bitte«, sagte ich und zögerte einen Moment, »etwas über Vera und Nora Schnitter herauszufinden. Vera war ein Exjunkie. Sie muss irgendwo einen Entzug gemacht haben.«

»Das ist viel für ein Wochenende.«

»Versuch es. Bitte.«

»Ich weiß noch nicht mal, ob ich Robert erreiche.«

»Versuch es«, wiederholte ich, und dann fragte ich ihn, ob er glaubte, was Kortner behauptet hatte: dass meine Mutter Charles erschossen und Leo Claudia umgebracht hatte.

»Es gibt sicher alle möglichen denkbaren Versionen.«

»Und eine ist, dass meine Mutter Charles und Leo Claudia umgebracht hat.«

»Sie könnte zu den wahrscheinlichen gehören.«

»Kortner lügt. Das wäre eine andere Version«, sagte ich.

»Das wäre sogar eine sehr wahrscheinliche. Er hat früher Beweise gefälscht. Er lügt also aus Gewohnheit. Aber gehen wir mal davon aus, dass Kortner diesmal nicht lügt. Wenn wir damit daneben liegen, werden wir es früh genug erfahren …«

Ich schloss die Augen und massierte die Stelle zwischen den Augenbrauen. Ich hörte seine leise Stimme. »… wenn nicht, Julie, dann mach dich drauf gefasst, dass Leo etwas mit diesen Morden zu tun haben kann. Ich weiß nicht, ob dir das gefällt.«

Muss ich erwähnen, dass es das nicht tat?

Trotzdem lächelte ich. »Ich liebe dich.«

»Ich weiß, Julie. Das tust du, seit wir uns bei der Einschulung um den Platz in der letzten Reihe geprügelt haben.«

»Du hast verloren.«

Er lachte. »Deshalb liebst du mich ja.«