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Mein Vater war auf dem Friedhof, Max und Chris spielten im Wohnzimmer Mario Kart, wie ich schon beim Betreten des Flurs hörte. Motoren röhrten, Bremsen quietschten, und die Jungs kreischten, als würden sie Sebastian Vettel und Nico Rosberg live auf dem Hockenheimring erleben.

Als ich »Hallo« rief, kam keine Reaktion. Dann erlosch der Fernseher, und die Konsolen flogen in die Sofaecke. Ich stand in der Tür zur Küche und staunte. Die Ruhe war mir unheimlich, da war etwas im Busch.

»Wir haben Hunger«, sagte Chris. Ich ahnte, worum es ging.

»Adam kocht nachher«, sagte ich gelassen. »Es dauert nicht mehr lange.«

»Heute ist Sonntag«, sagte Chris.

»Ja«, sagte Max, »und sonntags fährt Chris mit seinem Papa immer zu McDonalds.« Die Stimme meines Sohnes hatte einen vorwurfsvollen Unterton.

»Wir nicht«, sagte ich.

»Warum nicht?«, fragte Max. Ich hasste Warum-Fragen. Sie zogen erfahrungsgemäß ein Dutzend weitere nach sich.

»Weil Adam heute Bratkartoffeln und Buntbarsch macht.«

»Warum kann er die nicht morgen machen?«, fragte Chris.

»Weil er sie nicht morgen, sondern heute macht.«

»Warum können wir nicht zu McDonalds und später trotzdem Bratkartoffeln essen?«

»Weil McDonalds ungesund ist. Deshalb.«

»Ist es nicht«, sagte Chris. »Es gibt auch Salat.«

Ich runzelte die Stirn. »Wer sagt, dass McDonald gesund ist?«

»Mein Papa«, sagte Chris.

»Dein Papa?« Max staunte. »Cool.«

»Dein Papa versteht offensichtlich nichts von gesunder Ernährung«, sagte ich.

»Mein Papa sagt, du kannst nicht kochen.«

Max sah Chris mit halb offenem Mund an. Dann schaute er zu mir und grinste wie ein Honigkuchenpferd.

»Untersteh dich«, sagte ich zu Max. »Kein falsches Wort jetzt. Ich kann nur einige Dinge nicht kochen.«

»Du kannst nur Spaghetti kochen«, sagte Max, eifrig sein neues Vorbild nachahmend. »Mehr kann sie echt nicht«, wandte er sich an Chris mit einer Stimme, die den ernsten Ausdruck Erwachsener nachahmte und die davon zeugte, dass er innerlich den Kopf über seine missratene Mutter schüttelte.

»Auf jeden Fall gehen wir nicht zu McDonald«, sagte ich bestimmt.

»Wir können fahren.« Chris schaute mich ernst an.

»Ich glaube, dein Vater holt dich gleich ab«, wich ich aus.

»Nein«, sagte Chris. »Er hat angerufen. Er kommt später.«

Max stupste Chris in die Seite. Sie grinsten einander an. Kinderverschwörung. Dennoch fragte ich genau das, was Millionen von Eltern schon vor mir gefragt hatten: »Was grinst ihr so?«

Prompt bekam ich eine Antwort, die ich nicht hören wollte.

»Papa ist wieder bei seiner Freundin.«

»Dein Papa hat hier keine Freundin«, widersprach ich.

»Hat er wohl. Er hat in jeder Stadt eine Freundin, wenn er gerade keine hat. Deshalb fahren wir immer am Sonntag zu McDonald«, fuhr Chris fort, »wenn ich bei Oma und Opa schlafe. Bei denen steht er nämlich noch später auf als zu Hause. Und ich darf ihn auch nicht wecken.«

»So genau wollte ich das nicht wissen«, sagte ich. Schließlich wollte ich Chris nicht aushorchen. Cornelius war mein bester Freund. Beste Freunde konnten Sex haben, mit wem sie wollten und so oft sie wollten, und es ging niemanden etwas an. So einfach war das.

»Sie haben gerade Rango-Figuren«, versuchte es mein Sohn erneut. »Man kann das Menü nehmen und bekommt eine Figur.«

»Ich würde Roadkill nehmen«, sagte Chris.

»Das ist das Gürteltier«, erklärte Max mir. »Ich möchte Rango. Mama könnte Bohne bekommen.«

»Das ist eine Frau. Ein Leguan«, erklärte Chris freundlich.

»Ich will keinen Leguan«, sagte ich.

»Leguane sind sehr hübsch«, sagte Chris. »Man kann sie auf den Schreibtisch stellen.«

»Mama, bitte.« Augenaufschlag, Lächeln, Liebe und Vertrauen im Blick. Meine Ernährungsprinzipien schlitterten auf spiegelglattem Eis ins Nirgendwo. Ich wurde butterweich und quälte mir ein »Okay« ab.

Die Kinder kreischten und sprangen vom Sofa, rannten auf den Flur, streiften sich die Stiefel über und zogen sich im Rennen die Jacken an. Die Haustür knallte hinter ihnen zu.

Ihr Hunger schien gewaltig zu sein. Erfahrungsgemäß ließ der nach, sobald sie vor den Burgern und den Pommes saßen.

Es war hell, überheizt, und es roch nach Bratfett. Vier lächelnde junge Angestellte in roten Uniformen gaben die Menüs aus. Eine Frau schob den Wagen mit dem schmutzigen Geschirr von einer der leuchtend gelben Säulen weg, ein Mann zog einen leeren an den Tischen vorbei, schob ein Kind beiseite, das ihm vor die Füße lief, und rückte dann einen Stuhl an seinen Platz.

Nachdem jeder sein Tablett mit Burger, Pommes, Coca-Cola und mit seiner Figur bekommen hatte, quetschten wir uns an einen Ecktisch. Trotzdem lächelte ich und fühlte mich in jenem Augenblick, als ich die strahlenden Gesichter von Max und Chris sah, wie der glücklichste Mensch der Welt. Und es war mir in dem Moment auch gleichgültig, dass jeder nur ein Dutzend Pommes und etwa die Hälfte des Burgers aß. Lediglich die Cola tranken sie aus, und Chris rülpste verschämt in seine hohle Hand. Max grinste. Dann stopften sie die neuen Figuren – auch meinen Leguan – in ihre Jackentaschen und fragten, ob sie gehen dürften. Ich nickte, sie stürmten nach draußen, ich schob die Reste und die leeren Becher zusammen und brachte den Tablettstapel weg.

Ich kaufte noch ein weiteres Menü, hinterließ es unangetastet auf unserem Tisch und hoffte, irgendjemand würde sich darüber freuen. Ich behielt nur die Figur für einen anderen kleinen Jungen, den ich möglichst bald treffen wollte. Ich ging hinaus, wo Max und Chris übermütig krakeelten und sich mit Schneebällen bewarfen.

Minuten später saßen sie dicht nebeneinander auf dem Rücksitz und fuchtelten mit ihren neuen Figuren herum. Rango stöhnte und quiekte, Roadkill wisperte, und Bohne keifte. Sie spielten eine Szene aus Rango, obwohl sie den Film gar nicht kannten. Sie besaßen selbst genügend Phantasie und erfanden eigene Geschichten. Je wilder, desto besser.

Mein Handy klingelte. Ich ging dran.

»Robert hier. Ich hab Cornelius nicht erreicht. Ich nehme an, er pennt noch.«

»Hm.«

»Ich krieg nichts über deine alten Mordfälle raus«, sagte er. »Das bedeutet, dass sie nie digitalisiert wurden.«

»Aber haben die nicht alle alten Fälle Anfang der Neunziger zu digitalisieren begonnen?«, frage ich verblüfft.

»Nicht alle«, sagte er. »Das hätten sie auch gar nicht geschafft. Die haben damals nur offene Fälle digitalisiert. Über Charles Swann und Claudia Langhoff finde ich nichts. Und wenn ich nichts finde, tut’s auch kein anderer. Sorry, Julie. Aber da muss dir was anderes einfallen.«

»Was denn?«

Er lachte. »Mach’s auf die klassische Art.«

»Und die wäre?«

Er lachte etwas lauter: »Einbruch. Darauf läuft’s hinaus, wenn es dir wirklich wichtig ist.«

»Scheiße.« Ich sah entsetzt in den Rückspiegel.

»Das hab ich gehört!«, rief Chris prompt und sah Max beifallheischend an. »Das kostet fünf Euro.«

Max nickte vergnügt.

»Teures Vergnügen«, sagte Robert und legte auf.

»Wieso fünf Euro?«, fragte ich.

»Papa muss bei Oma und Opa jedes Mal fünf Euro bezahlen, wenn er das Wort sagt.«

»Und du?«

»Ich sag’s ja nicht.«

Max schob seine geöffnete Hand zwischen den Sitzlehnen zu mir nach vorn.

»Später«, sagte ich und schlug leicht auf seine Handfläche. Die Hand verschwand, und die Jungs steckten die Köpfe zusammen und flüsterten aufgeregt. Wahrscheinlich verteilten sie gerade den Erlös ihrer Dreistigkeit auf Popcorn im Kino, Eis und McNuggets.

Zu Hause lümmelten sich die Jungen wieder wie selbstverständlich mit ihrer Wii-Konsole auf die Couch. Sie griffen nach den Freihand-Controllern und entschieden sich diesmal gegen Mario Kart und für Zelda, was auf einen ruhigeren Nachmittag hoffen ließ.

Mein Vater saß in der Küche und las die Sonntagszeitung.

Ohne Einleitung fragte ich, weshalb er mir verschwiegen hatte, dass Nora Schnitter Eddie besucht hatte. Ich stand vor dem Küchenschrank, und er sah mich an, als hätte ich ihn geschlagen. Seine Augen blickten traurig aus tiefen Höhlen, und weißgraue Bartstoppeln überzogen die fahle Haut seiner Wangen.

Er versuchte erst sich herauszureden und mich dann abzulenken mit der Frage, woher ich von dem Besuch wüsste.

Ich wiederholte meine Frage.

Eine innere Unruhe zwang ihn aufzustehen.

»Ich habe vor zwei Tagen zum ersten Mal von dieser jungen Frau gehört, die ermordet wurde. Ich habe keine Verbindung zu Eddies Gast hergestellt, wirklich nicht.«

Während er sprach, ging er zum Küchenschrank, nahm ein Glas, ging zum Spülbecken und füllte es mit Leitungswasser.

»Lauren schickt eine junge Frau zu Eddie. Ein paar Tage später wird eine junge Frau ermordet. Eine Frau, die du noch nie in Solthaven gesehen und von der du noch nie gehört hast. Und du stellst keine Verbindung her?«

»Ich sage es nur ungern«, sagte mein Vater und drehte sich mit dem Glas in der Hand in meine Richtung, »aber vielleicht könntest du respektieren, dass ich um deine Mutter trauere? Dass ich mich frage, ob ich dieses verfluchte Haus mit all seinen verfluchten Erinnerungen nicht endlich aufgebe und wegziehe, jetzt, wo sie tot ist? Dass ich einfach müde bin? Ausgelaugt? Kaputt? Dass ich mich vor einem Umzug fürchte? Dass ich schon vor über zwanzig Jahren hier wegwollte, doch Eddie das Haus um nichts in der Welt aufgeben wollte? Dass ich nicht weiß, was dein Bruder hier will? Dass ich nicht mehr weiß, was richtig und falsch ist? Dass ich nicht weiß, wie es weitergehen soll? Dass ich mir wünsche, ich müsste mir solche Fragen in meinem Alter nicht stellen?«

Er hatte sich in Rage geredet. Mein Vater, den nichts so leicht aus dem Gleichgewicht brachte.

Er machte eine Pause und trank Wasser. Ich beobachtete ihn, wie er langsam und mit kleinen Schlucken gegen seine Aufregung antrank. Tränen traten mir in die Augen. Ich ging zu ihm und nahm ihn in die Arme. Er wurde ganz steif, als ich seinen Rücken streichelte.

»Es tut mir leid«, sagte ich. »Es tut mir alles so leid.«

Er schob mich ein Stück weg, eine graue Strähne hing in seiner Stirn.

»Mir tut auch leid, dass eine so junge Frau ermordet wurde«, antwortete er. »Aber ich habe keine Sekunde an sie gedacht.«

Er strich das Haar zurück. »Keine Sekunde.«

Dann ging er zum Fenster und starrte nach draußen in den Hof.

Ich ließ ihn allein und ging auf den Flur hinaus und zur Kellertür. Mein Puls war zu schnell, und ich fühlte mich unbehaglich. Doch es musste sein.

Ich drückte den kühlen Holzgriff herunter, machte Licht und stieg die Treppe hinab. Sie war zwar steil, glatt und schmal. Als meine Eltern das Haus vor 40 Jahren gekauft hatten, hatte mein Vater sie braunrot gestrichen. In der Mitte der Stufen war die Farbe abgetreten, und das helle Holz darunter war dunkler geworden.

Ich ging durch den vorderen Keller, in dem meine Mutter ihre Einmach- und Marmeladengläser in Holzregalen gestapelt hatte, die mein Vater selbst gebaut hatte. Rechts unter dem Kellerfenster stand Adams Werkbank, eine vom häufigen Gebrauch heruntergekommene Kommode, auf die er eine große Platte geleimt hatte und an der eine Schraubzwinge klemmte. In einer Ecke stand Eddies Gewehrschrank. Sie war eine begeisterte Jägerin gewesen, und jedes Jahr zu Weihnachten aßen wir Reh. Von Eddie eigenhändig geschossen und zerlegt und von meinem Vater gewürzt, angebraten und gegart. Den ganzen Winter über stürzte sich mein Vater jeden Sonntagvormittag auf Rehrücken, Rehkeulen, Rehbraten. Manche hatte er bereits am Abend zuvor mariniert und servierte uns zum Mittagessen Reh mit Orangensoße, Reh mit Rotweinsoße, Reh mit Birnen, Reh mit Preiselbeeren.

Der Raum dahinter war unsere frühere Waschküche mit einer emaillierten Wanne, in der Eddie das Wild abgezogen und zerlegt hatte. An der unverputzten weiß gekalkten Wand darüber hingen ein Dutzend Geweihe, unter denen sie kleine Schildchen angebracht hatte mit dem Jahr, dem Ort und dem Alter des erlegten Tieres. An einer anderen Wand türmten sich mit schwarzen Filzstiften beschriftete Umzugskartons, in denen sie altes Zeug eingelagert hatte: Kinderspielzeug, Zeugnisse, Andenken, ausrangiertes Porzellan, alte Pullover und Jacken, die sie vielleicht noch zum Jagen, Malen oder für die Gartenarbeit verwenden konnte.

Mein Karton mit der Aufschrift »Julie« stand genau dort, wo er hingehörte, ganz oben in einer Reihe mit anderen. Ich stieg auf eine Trittleiter und wuchtete ihn herunter. Staub wirbelte auf. Ich wischte mir die Hände an der Jeans ab.

Charles’ blaues Sweatshirt lag zuoberst, quer darüber ein grüner Streifen Mottenpapier. Ich nahm es und roch daran. Es roch wie Dinge, die jahrelang in Kellern lagerten – muffig. Ich legte es zur Seite und fischte »unser Album« hervor. Fotos von Faschingsfeiern, Klassenfahrten, Schnappschüsse von sonnigen Nachmittagen im Park, von verschneiten Vorgärten. Und immer Charles und ich. Manchmal auch noch mit Leo. Charles’ Ansichtskarten aus den Sommerurlauben mit Margo, kleine Zündholzbriefchen mit lustigen Botschaften, Bieruntersetzer mit Zeichnungen, Cocktailspieße mit kleinen Notizen daran. Es war eine Zeit gewesen, in der ich alles gesammelt hatte, was Charles und mich verband. Ich konnte es nicht ansehen, ohne dass der Vorhang, hinter dem ich meine Erinnerungen verbarg, löchrig wurde und mein Herz freilegte, das noch immer von Narben durchzogen war, an denen ich besser nicht rührte.

Ich hätte Charles gern eine Karte gezeigt und gefragt: »Erinnerst du dich, Liebling?«, »Weißt du noch …?« Er würde lächeln, mit seinen schlanken Händen nach den Fotos greifen, sie mit mir betrachten und seine Erinnerung dazu erzählen. Wir säßen im Keller unseres Hauses oder auf unserer Terrasse oder im Wohnzimmer an unserem 20. Hochzeitstag bei einem Glas Champagner, nachdem die letzten Gäste verabschiedet waren.

Er fehlte mir immer noch.

Es gab Erinnerungen wie die an meinen ersten Schultag und die riesige Schultüte oder an meinen ersten Sprung vom Fünf-Meter-Turm im Freibad, die mich lächeln ließen. Doch die Erinnerungen an Charles weckten neben Trauer und Schmerz auch jetzt noch Sehnsüchte, und das begann mich zu ängstigen. Als würde meine Sehnsucht nach ihm mir nicht erlauben, noch einmal mit einem anderen Mann glücklich zu sein. Als würde sie wie eine undurchdringliche Mauer vor mir stehen und mich daran hindern, in der Gegenwart zu leben, was ich doch beharrlich zu tun glaubte. Es konnte durchaus sein, dass Alex es besser gewusst und entschieden hatte, sich dem nicht auszusetzen.

Charles’ Freundlichkeit, seine Aufmerksamkeit, seine Aufrichtigkeit und seine Unschuld – das war unwiderruflich vergangen. Doch niemand könnte mir jemals einreden, dass Charles mich betrogen hatte. Das war unmöglich. Lauren hatte gelogen, als sie Charles als Vater angegeben hatte, und ich konnte es ihr nicht einmal verdenken. Denn als sie die Zwillinge zur Welt brachte, suchte die Polizei Leo bereits seit Monaten wegen Mordes. Doch wie konnte Lauren glauben, dass er ein Mörder war? Sie hatte mit ihm geschlafen. Es sei denn, sie log auch dieses Mal und auch Leo war nicht der Vater. Nur wer war es dann? War es »Daddy«?

Ich suchte meine Tagebücher. Sie lagen ganz unten in dem Karton, sechs an der Zahl und mit einem roten Schleifenband zusammengehalten. Ich hatte begonnen, sie zu schreiben, als ich 13 war. Ich benutzte Kalender, die mein Vater mir aus der Praxis mitbrachte. Eine Seite für jeden Tag. Die Umschläge waren aus festem, hellbraunem Karton. Jede Seite war vollgeschrieben, anfangs mit Bleistift, später mit einem Füller. Für die letzten Einträge hatte ich einen Kugelschreiber verwendet, ein Symbol für das Erwachsenwerden, denn Kugelschreiber durften wir in der Schule nicht benutzen. Es hieß, sie würden die Schrift verderben.

Die Bleistifteinträge waren nahezu unleserlich, und ich packte die ersten Hefte beiseite. Ich überflog die letzten drei. Nichts. Sie enthielten keinen Hinweis darauf, ob Leo oder Charles etwas mit Lauren hatte. Ich erwähnte Lauren in einem Eintrag einen Tag nach dem Abschlussball und ein zweites Mal, als ich Leo und Charles gebeten hatte, sich um sie zu kümmern.

Ich suchte Notizen zu Charles und mir in diesem letzten Jahr und ob wir uns gestritten hatten oder ob ich Anzeichen fand, dass er sich von mir abwandte.

Ich las über einen Streit, weil ich seinen Roller fahren wollte, obwohl ich keinen Führerschein besaß, weshalb er es nicht erlaubte. Ein anderes Mal hatten wir gestritten, weil ich mit ihm zum Zelten an die Ostsee fahren wollte und seine Mutter es verbot. Einen Streit hatten wir, weil Margo fand, Charles würde meinetwegen zu wenig lernen und die Schule vernachlässigen. Er sollte nicht mehr so oft zu mir kommen. »Blöde Kuh!« hatte ich darunter notiert. Margo hatte mich schon damals nicht gemocht.

Ansonsten quollen diese Seiten über von Gefühlen, weil wir bis über beide Ohren verliebt waren und durch den siebten Himmel der ersten großen Liebe schwebten.

Ich blätterte weiter und blieb an einem Eintrag über Margo hängen. Margo hatte meine Eltern besucht, weil Charles und Hinner sich geprügelt hatten. Sie hatte darauf bestanden, dass Charles nie wieder für Leo die heißen Kartoffeln aus dem Feuer holen würde. Meine Eltern waren aus allen Wolken gefallen, und meine Mutter hatte Margo aus dem Haus geworfen.

Eine Woche später war Charles tot und Leo auf der Flucht.

Ich durchstöberte den Rest des Kartons. Ich fand vor allem Erinnerungen an Leo: mein Märchenbuch, aus dem er mir manchmal vorlas, als ich noch nicht zur Schule ging, eine Flöte, auf der er mir vorspielte, ein Bettelarmband, das er mir zur Einschulung schenkte und für das er mir zu den folgenden Geburtstagen kleine Anhänger schenkte, ein Schornsteinfeger, ein Kleeblatt, ein roter Marienkäfer mit schwarzen Pünktchen, eine grüne Schildkröte … Meine Leo-Schätze. Ich hatte jetzt keine Zeit für sie. Ich nahm das Tagebuch aus dem letzten Jahr, stellte den Karton zurück an seinen Platz und ging wieder nach oben in die Küche.

Mein Vater stand vor der Arbeitsplatte und belegte einen aufgeschnittenen Buntbarsch mit Petersilie und Dill, träufelte Zitronensaft auf das weiße Fleisch, klappte den Fisch zu und verpackte ihn in Alufolie.

Ich setzte mich an den Tisch und las ihm die Stelle aus meinem Tagebuch vor. Charles hatte sich mit Hinner angelegt. Für Leo.

Adam sah von seinem Fisch auf, wischte sich die Hände an Eddies alter Schürze ab und kam zu mir. Er drehte das Tagebuch so, dass er es lesen konnte.

»Ja, ich erinnere mich«, sagte er. »Leo hatte Hinner wohl schon mehrmals aufgefordert, Lauren nicht ständig herumzukommandieren und zu bevormunden. Eines Tages passten Leo und Charles Hinner dann angeblich ab, um mit ihm noch mal drüber zu reden. Aber Hinner lachte die beiden wohl aus. Jedenfalls hat Charles die Wut gekriegt, ist auf Hinner losgegangen, und dann haben sich die zwei geprügelt, während Leo tatenlos daneben gestanden hat.«

»Das war doch gar nicht seine Art.«

»Nein«, sagte mein Vater. »Aber so hat Charles es Margo erzählt. Leos Version zufolge hat Charles Hinner allein abgepasst.«

Mir blieb fast das Herz stehen.

»Leo hat behauptet, Charles hätte sich wegen Lauren geschlagen?«

»Vielleicht«, sagte mein Vater.

»Das hat er mir nie erzählt.«

»Wir haben es dir alle nicht erzählt. Wir …«

Er schwieg kurz und fuhr dann fort: »Deine Mutter war der Meinung, du müsstest das nicht von uns erfahren. Wenn Charles es dir sagen wollte, würde er das tun.«

»Das tat er nicht.«

»Nein«, sagte mein Vater. »Darüber haben sich Leo und Charles unter anderem in der Garage gestritten.«

»Worüber?«

»Das ist 20 Jahre her.«

»Willst du damit sagen, Charles hatte etwas mit Lauren?«

»Nein«, sagte mein Vater. »Das will ich nicht, denn das weiß ich nicht. Aber es ist jedenfalls ungewöhnlich, wenn sich ein Junge mit dem Bruder eines Mädchens anlegt, das nicht seine Freundin ist. Wir wollten dich nicht beunruhigen. Deshalb baten wir Leo, es dir nicht zu erzählen.«

»Was heißt, sie hätten sich unter anderem darüber gestritten? Worüber haben sie sich in der Garage noch gestritten?«

Mein Vater nahm meine Hände in seine großen warmen.

»Hör zu.«

Ich sah ihn an.

Er runzelte die Stirn und atmete tief durch.

»Es gab Gerüchte. Charles war wohl nicht nur treu und lieb, sondern auch jung und abenteuerlustig …«

»Nein«, sagte ich. Eine Hitze wallte in mir auf, als wäre ich mitten in den Wechseljahren.

»Es war nur Getratsche.«

»Mit wem noch?«

Mein Vater runzelte noch einmal die Stirn.

»Paps.«

»Mit Claudia.«

»Wie bitte?«

»Julie, Eddie …«

Ich unterbrach ihn: »Es waren nur Gerüchte. Die gab es immer.«

Ich fühlte mich zwanzig Jahre zurückversetzt, als wäre ich wieder 19 und als wäre das alles gerade erst passiert.

»Das hätte Charles niemals getan«, sagte ich, und Tränen schossen mir in die Augen. »Es war nur dummer Klatsch. Weißt du übrigens, was ich im Altersheim über dich und Roberta Bartels gehört habe?«

Mein Vater zog seine Hände zurück. »Es ist lange her, und deine Mutter …«

»Du leugnest es nicht einmal?« Erstaunt wischte ich die Tränen weg.

»Julie …«

»Du hast Eddie betrogen, noch dazu mit einer älteren Frau?«

»Nein, so war es nicht.«

»Ach, und wie war es dann?«

»Wir hatten eine Krise«, sagte er. »Das kommt in jeder Ehe vor.«

»Das ist noch lange kein Grund.«

»Ich hatte kein Verhältnis mit Roberta. Ich war manchmal zum Kaffee bei ihr. Roberta war eine Art mütterliche Freundin. Ich war Mitte 40, sie war 60. Du glaubst doch nicht im Ernst, ich hätte deine Mutter mit ihr betrogen? Roberta hörte mir zu. Das war alles.«

Ich nickte. Es leuchtete mir ein. »Warum hattet ihr eine Krise?«

Er sah mich schweigend an.

»Sie ist tot«, sagte ich. »Es kann ihr nicht mehr wehtun, wenn du es mir erzählst.«

»Deine Mutter hatte ein Verhältnis«, sagte er und schlug die Hände vors Gesicht.

»Eddie? Mit wem?«

Er schüttelte den Kopf.

»Bitte. Ich habe eine Recht darauf …«

»Nein.« Mein Vater nahm die Hände vom Gesicht. »Das hast du nicht. Das geht nur mich und deine Mutter etwas an.«

Fassungslos dacht ich an Paul Heinecken, Laurens Vater. Wie er mit meiner Mutter am Küchentisch saß und mit ihr Kaffee trank. Wie sie plauderten und lachten. Er hätte gerade etwas repariert, so hatte Eddie seine Anwesenheit erklärt. Denn Reparieren könne er wie kein Zweiter.

»Paul Heinecken?« Ein Name, der den Mund füllte, als ich ihn aussprach, und der in meinem Kopf tobte: »Sie hatte ein Verhältnis mit Paul Heinecken, nicht wahr?«

Ich klang aufgeregt, ich hörte es selbst. Und wütend. Ich war aufgeregt und wütend. Aber ich hatte auch Angst. Ich hatte die Ehe meiner Eltern wie etwas Heiliges und Unverletzbares verehrt. Sie war für mich selbst in diesem Moment noch ein Garant dafür, dass es so etwas wie lebenslange Liebe gab, dass man sie leben und erhalten konnte. Dass mein Vater und meine Mutter es gekonnt hatten. Und nun das.

»Ich bitte dich, lass es auf sich beruhen. Deine Mutter und ich haben schon vor langer Zeit unseren Frieden geschlossen«, durchdrang Adams Stimme meine Gedanken.

»Wer hat noch geglaubt, dass Charles ein Verhältnis mit Lauren hatte?«, fragte ich angespannt.

Mein Vater zuckte mit den Achseln.

Lauren hatte ihren Vergewaltiger »Daddy« genannt. Lauren und Paul? Meine Mutter und Paul? Lauren und Leo? Leo und Claudia Langhoff? Claudia und Charles? Charles und Lauren? Charles und ich?

Mir wurde schwindelig, und ich bekam kaum noch Luft.

»Wie lange lief das mit Paul?« Ich atmete tief durch.

»Etwas länger als ein Jahr.« Mein Vater war ebenso nervös wie ich. Er rutschte auf dem Stuhl hin und her wie ein Kind, das die Eltern zu lange am Tisch sitzen ließen und das nichts dringender wollte als hinaus.

»Und du hast das hingenommen?«

Atmen – langsam, tief und gleichmäßig.

»Zuerst habe ich es nicht gewusst.«

»Und dann?«

»Dann habe ich sie vor die Wahl gestellt. Sie hat mir versprochen, es zu beenden.«

»Wann war das?«, fragte ich.

»Kurz bevor Leo Charles erschoss.«

»Hat sie es beendet?«

Er kratzte sich den Arm unter seiner Strickjacke wie ein Junkie, der einen Schuss brauchte.

»Sie hat es nach Charles’ Tod und Leos Flucht beendet, oder? Und keinen Moment eher«, sagte ich.

Er stand auf und verließ die Küche, und ich sah wieder nur seinen krummen schmalen Rücken. Es zerriss mich, als ich daran dachte, wie aufrecht und gerade er sich früher gehalten hatte, wie er jeden Morgen nach dem Aufstehen seine Gymnastik am offenen Schlafzimmerfenster machte, wie er abends beim Fernsehen seine Hanteln nahm, die griffbereit neben seinem Sessel lagen, und sie während der Nachrichten in einem gleichmäßigen Rhythmus auf- und niederstemmte.

Ich sah ihm nach und lauschte dem Knarren der Kellertreppe.

Er würde jetzt irgendetwas auf seiner alten Werkbank sägen, bohren oder bauen, wie er es immer getan hatte, wenn er etwas mit sich selbst abmachte.