Vorwort
Ich habe drei kleine Söhne; schon während ich Marianne Grabruckers Tagebuch über die Sozialisation ihrer Tochter Anneli zu einem Mädchen las, hatte ich den Wunsch: Hätte ich doch etwas Analoges bei meinen Söhnen gemacht! Ich wäre heute viel klüger. Ich wäre gewappnet mit vielen Beispielen gegen das immer wieder vorgebrachte Argument, daß es die Mütter in der Hand haben, andere, neue, bessere Frauen und Männer heranzuziehen, daß die Mütter die Schuld trifft, wenn ihre Söhne zu sexistischen, frauenverachtenden Chauvinisten werden. Ich könnte bestimmte Eigenschaften, Verhaltensweisen, Äußerungen meiner Kinder zurückverfolgen und erklären. Ich könnte sagen: Ja, das ist kein Wunder bei diesen Erfahrungen immer und immer wieder; ja, daher kommt das; so läuft das also. Ich wäre ab und zu entlastet, würde mir nicht unnötig die Schuld geben, und ab und zu wüßte ich genau, daß eine Reaktion mit mir zu tun hat, mit meinem eigenen nicht überwundenen, nicht reflektierten, nicht überprüften Sexismus. Die Proportionen würden sich zeigen zwischen dem, was ich als Mutter zu verantworten habe, und der Macht der Umwelt, wobei diese aus nichts anderem besteht als aus Menschen, die unseren Kindern begegnen, entweder als Befreundete, Bekannte oder als Fremde durch ihre Arbeit als Haus-, Hotel-, Verkaufspersonal, im Restaurant oder Krankenhaus, in der Krabbelstube oder in der Krippe, oder durch ihre Werke wie Bücher, Bilder, Fernsehbeiträge, Filmplakate, Gesetze, Zeitungen etc.
Es ist nun versäumt. Aber je mehr ich mich vertiefte in das Manuskript dieses Tagebuches, desto mehr Trost erfuhr ich, denn ich sah, daß dieses Tagebuch einen Teil der erwünschten Wissensvermittlung und Entlastung für mich leistet: Es gibt mir Auskunft, es gibt mir Antworten, es hat generelle Aussagekraft. Darin liegt das Besondere dieser Aufzeichnungen. Sie erlauben mir zu extrapolieren: Wenn es so abläuft bei aufgeschlossenen Eltern, die klug und bewußt mit ihrem Kind so umgehen, daß es nicht nur eine Rolle offen hat, nämlich die, ein angenehmes, angepaßtes, unauffälliges Mädchen zu werden, was ist dann in den normalen Familien, in den Durchschnittsfamilien zu erwarten, wo die Rollen vorgegeben sind und feststehen, wo die Mutter in der Rolle der Ehefrau und Mutter aufgeht, wo sie es sich psychisch nicht leisten kann, ihren Kindern eine andere Rolle zu modellieren, und ihre Unfähigkeit als Tun, wenn nicht Opfer, für die Kinder ausgibt. Wenn es unvermeidlich ist für ein Kind, das wie Anneli aufwächst, »zu einem Mädchen zu werden«, wie unausweichbar vorgezeichnet ist dann erst recht dieser Weg für Mädchen aus normalen Familienverhältnissen. Und am wichtigsten: Diese Aufzeichnungen widerlegen ein für allemal das Argument von der Macht und der Schuld der Mütter, die, weil sie die Wiege bewegen, die Welt bewegen sollen. Wie können einfache Tagebuchaufzeichnungen von alltäglichen Erlebnissen einer Mutter mit einem kleinen Kind das leisten? Was ist denn überhaupt so schlimm daran, wenn aus einem weiblichen Baby ein Mädchen wird? Was für ein Schaden soll da angerichtet sein?
Das Tagebuch gibt Auskunft: Wir lesen eine Szene nach der anderen, Alltagsbegebenheiten, auf deri ersten Blick zunächst harmlos, trivial, banal, aber jede Szene endet mit einer kleinen Trauer in uns:
Darüber, daß Anneli, da, wo sie sich für einen erlegten Hirsch interessiert und sie selbstverständlich für einen Jungen gehalten wird, der Beruf des Jägers offengehalten wird. Wie anders ergeht es ihr, als sie dann von Jagd und Hirsch und dem Ausnehmen des Tieres, das sie beobachtet hat, da erzählt, wo bekannt ist, daß sie ein Mädchen ist: Sie darf nun nur noch Metzgersfrau werden. Es war dasselbe Interesse eines Kindes an einem erlegten Hirsch und den Aktivitäten, die es beobachtete.
Oder darüber, wie Anneli im Alter von zweiein viertel Jahren lernt, daß ein Junge seine Richtung beibehalten kann und sie ausweichen muß, soll es nicht zum Zusammenstoß kommen. Seine Absicht geht vor.
Oder darüber, wie sie im Alter von zwei Jahren und acht Monaten lernen muß, einen Ball aufzugeben, weil ein Junge ihn ihr wieder und wieder wegnimmt. Sein Interesse geht vor.
Oder darüber, daß ihr, wo sie für einen Jungen gehalten wird,
Aktivität, Kompetenz, Neugier, Lust, die Weit zu erobern, zugeschrieben werden, und wo sie sich als Mädchen zu erkennen gibt, ihr die Eroberung der Küche übrigbleibt. Es waren dieselben Bewegungen und Gesten eines Kindes, dasselbe Interesse an der Umgebung.
Und so entsteht für Anneli die getrennte Welt, eingeteilt in Mädchen und Jungen, mit getrennten Reaktionen, Funktionen, Möglichkeiten, mit getrennten Gefühlen. Als Mädchen bleibt ihr die kleinere »Hälfte« der Welt. Das ist das Schlimme daran, ein Mädchen zu werden und werden zu müssen. Und es entsteht die getrennte Welt von Frauen und Männern, in der Frauen schön, nackig oder Mamis sind und in der Männer interessante Dinge tun: »Mann redet - Frau nackig.« Das ist der Schaden, der angerichtet wird: daß Mädchen-Sein bedeutet, eine Frau werden zu müssen.
Die beiden eindrucksvollen Zwei-Wort-Sätze »Mann redet« und »Frau nackig« sind Situationsbeschreibungen von Anneli, die sie zur Verzweiflung ihrer Mutter immer wieder machte, weil sie sie immer wieder beobachtete. Jedes Mal, wenn sie einen Mann reden hörte, stellte sie lakonisch fest: »Mann redet.« Und ebenso äußerte sie, wenn sie die Abbildung einer nackten Frau sah, kurz und bündig: »Frau nak-kig.« Durch wiederholtes Sehen und Beschreiben lernte sie die unterschiedlichen Eigenschaften von Frauen und Männern in unserer Welt. Wir erleben plötzlich beim Lesen unsere Welt durch die Kinderaugen und sehen wieder, was wir schon nicht mehr sehen und nicht mehr sehen wollen. Und erleben auch, wie fest sich diese Welt in ein Kinderköpfchen einprägt - mit zwei, drei Jahren hat das Kind Kategorien gebildet, die nicht mehr aufhebbar sind. Wir erfahren anhand dieses Buches mehr über Lernprozesse der ersten drei Jahre im Hinblick auf geschlechtsspezifische Unterscheidungen als in so manchem theoretischen Werk. Wir lernen, wie die unterschiedliche Rollenzuweisung für Mädchen und Jungen, Frauen und Männer praktisch inszeniert wird, und zwar in Alltagssituationen; wie sie da immer wieder hergestellt, verfestigt, zementiert wird, in den kleinen Begebenheiten, Äußerungen, Interaktionen, Szenen, tagtäglich, unbemerkt. In diesem Tagebuch wird die Konstruktion unserer unterschiedlichen Welten und die Tatsache, daß es eine Konstruktion ist und kein Naturgesetz, keine Notwendigkeit, plötzlich faßbar. Wir nehmen Dinge wahr, die wir vorher nicht sahen, nicht hinterfragten; und da sie nicht isoliert sind, sondern in Häufung auftreten, und da sie System haben, gewinnen sie an Bedeutung. So ist dieses Buch auch für mich als Linguistin bedeutungsvoll: Es zeigt, daß das patriarchale System, das sich in der Sprache und in der Gesprächswelt niederschlägt, durchgängig ist. So wie Männer in der Sprache im Vordergrund stehen, das Maskulinum die Norm ist, und so wie Männer in Gesprächen mehr Raum haben und Frauen sie durch ihre Gesprächsarbeit unterstützen, so sind auch schon kleine Jungen mit ihren Interessen wichtiger, sie werden gefordert und gefördert, eine Atmosphäre wird hergestellt, in der sie Raum haben und sich entwickeln können. Sie erfahren Unterstützung in ihren autonomen Bestrebungen, und die Mädchen müssen die Arbeit der Anpassung, der Entsagung, der Rücksichtnahme leisten. Unsere unterschiedlichen Erwartungen und Bewertungen sind schon hier im Spiel.
Wo der Junge seinen Weg um das Schaukelpferd verfolgt, Autonomie, Stärke, Durchsetzungsvermögen zeigt, gibt das ausweichende Mädchen nach, unterwirft sich seinem Willen, stellt ihre Wünsche zurück, paßt sich an, ist schwach. Zur Belohnung darf sie das Sprichwort »Die Klügere gibt nach« auf sich anwenden.
Ähnlich wie in der Gesprächswelt ist auch hier eine neue Sicht, eine Umbewertung nötig: Das Mädchen löst ein Problem, nimmt die Situation wahr, schätzt sie korrekt ein, antizipiert den Zusammenstoß und vermeidet ihn, um die Beziehung intakt zu halten, verhält sich also human und sensibel. Der Junge ist unfähig, das Problem wahrzunehmen und zu lösen, er ist unsensibel, unvorsichtig, rücksichtslos, nicht fähig, auf eine andere Person, ihre Bedürfnisse und Interessen einzugehen. Die Kompetenz und die Leistung liegen also bei dem Mädchen; sie positiv zu bewerten, ist unsere Aufgabe. Der Junge dagegen müßte lernen, sich auf andere zu beziehen. Sein Verhalten ist defizient.
Wo ein Junge sich in eine Situation stürzt ohne Gefühl für Gefahr für sich oder andere und wir ihn als furchtlos, aktiv, mutig, eben als richtigen Jungen bewerten, ein Mädchen dagegen als ängstlich, weil es gesunde, der Situation angemes-sene Zurückhaltung zeigt, müssen wir unsere Bewertungen und Reaktionen ändern.
Dieses Buch öffnet uns die Augen, gibt uns eine neue Sehweise und hilft uns dabei, die Umbewertung zu lernen. Die Autorin, Juristin und, wie alle Frauen, Hausfrau, besteht der Umdefinition halber darauf, daß sie dieses Buch als Hausfrau verfaßte. Sie nutzte die Zeit ihrer Beurlaubung, um als Hausfrau feministische Wissenschaft zu betreiben und einen Aspekt unseres Frauenlebens zu erfassen. Es berührt mich, daß es ihr jetzt, wo sie wieder in ihrem Beruf arbeitet, nicht möglich ist, eine Fortsetzung dieses Tagebuches oder neue Tagebücher zu anderen Themen wie weibliche Sexualität oder weibliches Selbstbewußtsein, die jetzt bei ihrer Tochter relevant werden, zu schreiben. Alle ihre emotionale und kreative Energie muß sich nun darauf konzentrieren, Beruf und Familie und persönliche Interessen zu vereinbaren. Wieviel mehr Wissenschaft, Wissen über uns Frauen wäre möglich, wenn Frauen nicht all ihre kreative Energie für Familie und Beruf geben müßten. Wie viele Bücher von Frauen bleiben ungeschrieben, wie viele gute Ideen unverwirklicht, weil uns am Tagesende keine Zeit und Kraft mehr bleibt, um kreativ zu sein, nachdem wir tagsüber Beruf und Kindererziehung erledigt haben.
Marianne Grabrucker wollte ihr Kind nicht zu einem braven, zahmen Mädchen erziehen, »sie sollte nach den Sternen greifen«, war ihr Wunsch für ihre ungeborene Tochter. Dann wurde die Tochter in diese Welt geboren. In einem Brief vom April 1984 schreibt mir Marianne Grabrucker: »Übrigens praktiziere ich seit längerem gegenüber meiner Tochter die Benutzung weiblicher Bezeichnungen, aber kürzlich auf dem Spielplatz war es mir unmöglich, sie als Lokomotivführerin zu bezeichnen. Das Wort kam einfach in der weiblichen Form nicht über meine Lippen. Ich war wie gelähmt und schwieg dann deprimiert. Wie traurig, daß Mutter und Tochter jeden Tag so vielen Widersprüchen ausgesetzt sind!«
In einem Brief vom Februar 1985 berichtet sie mir über den Erfolg ihrer sprachlichen Bemühungen bei ihrer Tochter: »... sie zauberte mit folgenden Worten: Hokuspokusfidibus, simsalabim, dreimal schwarze Katerin!« In unserer heutigen Welt gibt es für unsere Töchter noch keine Sterne. Ihr Leben liegt zwischen unseren Beschränkungen und Einschränkungen und unseren Erfolgen und Veränderungen. Ich wünsche dem Buch so viel Wirkung, daß die Sterne für unsere Töchter greifbar werden.
Senta Trömel-Plötz