8
So saßen wir auf den Trümmern des Bürgermeisterhauses und tranken Bier. Die Brüder tranken viel und riefen meinen Namen. Manche nannten mich »Bruder Jorg«, andere »Prinz Jorg«, aber sie alle sahen mich mit neuen Augen. Rike beobachtete mich, mit Bierschaum in seinem Stoppelbart und einem von meinem Schwert stammenden Kratzer am Hals. Ich sah, wie er das Für und Wider gegeneinander abwog – ein langsames Ballett der Möglichkeiten tanzte ihm über die Stirn. Ich wartete nicht, bis das Wort »Lösegeld« an die Oberfläche kam.
»Er will mich tot, Kleiner Rikey«, sagte ich. »Er hat Gomsty losgeschickt, nicht um mich zu finden, sondern einen Beweis für meinen Tod. Er hat jetzt eine neue Königin.«
Rike gab mir ein Grinsen, das mehr ein finsterer Blick als ein Grinsen war, und rülpste laut. »Du bist aus einer Burg mit Gold und Frauen weggelaufen, um mit uns zu reiten? Welcher Narr würde so etwas tun?«
Ich trank mein Bier. Es schmeckte sauer, aber das schien irgendwie richtig zu sein. »Ein Narr, der weiß, dass er den Krieg nicht mit des Königs Wache an seiner Seite gewinnen kann«, sagte ich.
»Welchen Krieg meinst du, Jorg?« Der Nubier stand in der Nähe und trank nicht. Er sprach immer langsam und ernst. »Willst du den Grafen besiegen? Oder Baron Kennick?«
»Ich will den Krieg gewinnen«, sagte ich. »Den ganzen Krieg.«
Der Rote Kent kam von den Fässern, sein Helm voller Bier. »Da wird nichts draus«, sagte er, hob den Helm und leerte ihn in einem Zug bis zur Hälfte. »Du bist also der Prinz von Ankrath? Ein Kupferkronen-Königreich. Bestimmt gibt’s Dutzende, die Anspruch auf den Thron erheben, jeder mit einer eigenen Streitmacht.«
»Mehr als fünfzig«, knurrte Rike.
»Eher hundert«, sagte ich. »Ich habe sie gezählt.«
Hundert Splitter des Reiches, die aneinander rieben, in einem unaufhörlichen Reigen aus kleinen Kriegen, Fehden und Scharmützeln. Königreiche kamen und gingen, ganze Leben wurden im Kampf verbracht, und nie änderte sich etwas. Es lag an mir, Veränderungen zu bringen, den Krieg zu gewinnen und ihn zu beenden.
Ich trank den Rest meines Biers, stand auf und machte mich auf die Suche nach Makin.
Ich musste nicht lange suchen und fand ihn bei den Pferden. Er überprüfte seinen Hengst namens Feuersprung.
»Was hast du gefunden?«, fragte ich.
Makin schürzte die Lippen. »Den Scheiterhaufen habe ich gefunden. Es sind etwa zweihundert, alle tot. Aber sie haben ihn nicht angezündet. Müssen verscheucht worden sein.« Er deutete nach Westen. »Sie kamen zu Fuß, über den Moorweg, und über den Kamm jenseits der Sümpfe. Etwa zwanzig Bogenschützen lagen im Dickicht am Fluss auf der Lauer, um die zu erledigen, die zu fliehen versuchten.«
»Wie viele Männer insgesamt?«, fragte ich. »Wahrscheinlich hundert. Fußsoldaten, die meisten von ihnen.« Makin gähnte und strich sich mit einer Hand durchs Gesicht, von der Stirn zum Kinn. »Sie sind seit zwei Tagen weg. Es besteht keine Gefahr.«
Ich fühlte, wie mich unsichtbare Dornen kratzten, wie sie sich mir in die Haut bohrten. »Komm mit mir«, sagte ich.
Makin folgte mir zu den Stufen und umgestürzten Säulen des Bürgermeisterhauses. Die Brüder ließen Maical ein zweites Fass aufschlagen.
»Heho, Hauptmann!«, rief Burlow Makin zu. Seine Stimme war noch immer heiser von Rikes Händen an seinem Hals. Die anderen Brüder lachten, und ich ließ sie. Wieder fühlte ich die Dornen scharf und tief in der Haut. Sie bereiteten mich auf etwas vor. Zweihundert Leichen auf einem Haufen.
»Hauptmann Makin sagt mir, dass wir Gesellschaft bekommen werden«, teilte ich den Brüdern mit.
Makin hob die Brauen, aber ich achtete nicht auf ihn. »Zwanzig Schwerter, harte Männer, Räuber von der übelsten Sorte. Nicht die Sorte, der man begegnen möchte«, sagte ich. »Sie sind hierher unterwegs, und die Last ihrer Beute lässt sie nur langsam vorankommen.«
Rike sprang auf, und der Flegel rasselte an seiner Hüfte. »Beute?«
»Lahme Schnecken sind es, reich geworden durch Zerstörung.« Ich zeigte ihnen mein Lächeln. »Nun, meine Brüder, wir müssen ihnen zeigen, dass sie auf dem falschen Weg sind. Ich will sie tot. Sie alle. Und wir bringen sie um, ohne dass uns auch nur ein Haar gekrümmt wird. Ich will Fallgruben auf der Hauptstraße. Ich will, dass sich Brüder im Kornturm und in der Taverne Zum Blauen Eber verstecken. Ich will Kent, Row, Lügner und den Nubier hier hinter diesen Mauern, damit sie die Burschen niederschießen, wenn sie zwischen Turm und Taverne geraten.«
Der Nubier hob seine Armbrust, eine monströse Meisterleistung des Waffenbaus, aus altem Metall und mit den Gesichtern fremder Götter verziert. Kent schüttete den Rest Bier aus seinem Helm, setzte ihn auf und griff nach dem Langbogen.
»Sie könnten auch über den Kamm kommen, und für den Fall nimmt Rike Maical und sechs andere und versteckt sich in den Resten der Gerberei. Wer auch immer aus jener Richtung kommt, lasst sie vorbei und erledigt sie dann. Makin ist unser Späher und warnt rechtzeitig. Der gute Pater hier und ihr fünf da, ihr bleibt bei mir und helft mir dabei, sie herzulocken.«
Die Brüder brauchten keine weiteren Erklärungen. Das heißt, Jobe brauchte welche, aber Rike zog ihn schnell genug vom Bier weg und war dabei nicht besonders sanft.
»Beute!«, rief Rike. »Fangt an, Fallgraben auszuheben, ihr Scheißkerle!«
Sie wussten, wie man einen guten Hinterhalt vorbereitete, o ja, das wussten die Jungs. Damit kannten sie sich aus. Und niemand wusste besser, wie man in Ruinen kämpfte. Oft kämpften sie in Ruinen, die sie selbst geschaffen hatten, bei anderen Gelegenheiten in fremden Trümmern.
»Burlow, Makin!« Ich rief sie zu mir, als die übrigen Brüder sich an die Arbeit machten. »Ich brauche dich nicht als Späher, Makin«, sagte ich und sprach leise. »Ich möchte, dass ihr zum Dickicht am Fluss geht. Ich möchte, dass ihr euch versteckt. So gut sollt ihr euch verstecken, dass sich ein Mistkerl auf euch setzen könnte, ohne euch zu bemerken. Verbergt euch dort und wartet. Ihr werdet wissen, was es zu tun gilt.«
»Prinz … Bruder Jorg«, sagte Makin. Er hatte tiefe Falten in der Stirn und sah die Straße hinunter zum alten Gomsty, der vor der ausgebrannten Kirche betete. »Was bedeutet dies alles?«
»Du hast gesagt, dass du mir folgst, wohin auch immer«, antwortete ich. »Es beginnt hier. Wenn man die Legende schreibt, wird dies die erste Seite sein. Irgendein alter Mönch wird dabei erblinden, diese Seite zu verzieren, Makin. Hier beginnt alles.« Ich wies nicht darauf hin, dass das Buch vielleicht sehr dünn sein würde.
Makin verbeugte sich auf seine Weise – ein halbes Nicken – und ging mit langen Schritten los. Der Fette Burlow eilte ihm nach.
Und so gruben die Brüder die Fallen, legten ihre Pfeile bereit und versteckten sich in dem, was von Norwood übrig war. Ich beobachtete sie und verfluchte ihre Behäbigkeit, blieb aber ruhig. Nach einer Weile waren nur noch Pater Gomst, meine fünf ausgewählten Männer und ich zu sehen. Alle anderen, gut zwei Dutzend, verbargen sich in den Ruinen.
Pater Gomst trat noch immer betend an meine Seite. Ich fragte mich, mit welcher Inbrunst er beten würde, wenn er wusste, was bevorstand.
Ich hatte jetzt einen Schmerz im Kopf wie von Haken hinter beiden Augen, spitzen Haken, die an mir zerrten. Der gleiche Schmerz war in mir entstanden, als der Anblick von Pater Gomst Gedanken an die Rückkehr nach Hause gebracht hatte. Ein vertrauter Schmerz, einer, den ich nicht selten auf der Straße gespürt hatte. Oft hatte ich mir von ihm den Weg weisen lassen. Aber ich wollte nicht länger ein Fisch am Haken sein. Ich biss zurück.
Den ersten Späher sah ich eine Stunde später auf dem Moorweg. Kurz darauf zeigten sich andere und ritten zu ihm. Ich vergewisserte mich, dass sie uns sechs auf der Treppe des Bürgermeisterhauses sahen.
»Wir kriegen Besuch«, sagte ich und deutete auf die Reiter.
»Scheißverdammt!« Bruder Elban spuckte auf seine Stiefel. Ich hatte Bruder Elban gewählt, weil er nach nicht viel aussah: ein alter grauer Strich in einem rostigen Kettenhemd. Er hatte weder Haar noch Zähne, aber trotzdem einen gewissen Biss. »Es sind keine Räuber. Seht euch die Ponys an.« Er lispelte ein wenig, weil ihm die Zähne fehlten.
»Wisst ihr, da könnte Elban Recht haben«, sagte ich und schenkte ihm ein Lächeln. »Ich würde sagen, sie sehen eher wie Haussoldaten aus.«
»Gott steh uns bei«, murmelte der alte Gomsty hinter mir.
Die Späher wichen zurück. Elban nahm seine Sachen und wollte zur Marktwiese, auf der die Pferde grasten.
»Das würde ich an deiner Stelle nicht tun, alter Mann«, sagte ich ruhig.
Er drehte sich um, und ich sah die Furcht in seinen Augen. »Du willst mich doch nicht töten, Jorg, oder?« Den Namen sprach er noch undeutlicher aus als den Rest. Wahrscheinlich brauchte man Zähne, um »Jorg« mit der richtigen Schärfe auszusprechen.
»Nein, ich töte dich nicht.« Ich mochte Elban fast. Ohne guten Grund würde ich ihn nicht umbringen. »Wohin willst du fliehen, Elban?«
Er deutete über den Kamm hinweg. »Das ist der einzige Weg. Sonst bleibt man im Dickicht stecken. Oder schlimmer noch, man gerät in den Sumpf.«
»An deiner Stelle würde ich nicht über den Kamm reiten, Elban«, sagte ich. »Vertrau mir.«
Und das tat er. Obwohl er mir vielleicht nur vertraute, weil er mir nicht traute, wenn ihr versteht, was ich meine.
Wir standen da und warteten. Zuerst sahen wir die Hauptkolonne auf dem Moorweg, und dann, nur Momente später, kamen Soldaten über den Kamm. Zwei Dutzend waren es, Haussoldaten, mit Speeren und Schilden, und über ihnen wehten die Farben von Graf Renar. Die Hauptkolonne bestand aus etwa sechzig Mann, und ihr folgten eine Schar von mehr als hundert Gefangenen, an den Hälsen aneinander gefesselt. Ein halbes Dutzend Karren bildete den Abschluss. Die mit den Planen transportierten vermutlich Proviant. Auf den anderen lagen Leichen, gestapelt wie Klafterholz.
»Das Haus Renar lässt keine unverbrannten Toten zurück«, sagte ich. »Es macht keine Gefangenen.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Pater Gomst. Bei ihm war die Angst Dummheit gewichen.
Ich zeigte auf die Bäume. »Brennstoff. Wir sind hier am Rand des Sumpfes. In den Mooren gibt es meilenweit keine Bäume. Sie wollen ein großes Feuer, und deshalb bringen sie alle hierher, um sie auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen.«
Renars Verhalten konnte ich erklären, aber mein eigenes verstand ich vielleicht nicht viel besser als Pater Gomst. Welche Kraft auch immer ich auf der Straße hatte, ich bekam sie durch Opferbereitschaft. Ich erhielt sie an jenem Tag, als ich die Rache an Graf Renar als etwas beiseite schob, das nichts einbrachte. Und doch stand ich nun hier, in den Ruinen von Norwood, mit einem Durst, den ich selbst mit noch so viel Festtagsbier nicht löschen konnte. Ich stand hier und wartete auf eben jenen Grafen. Ich wartete zusammen mit einigen wenigen Männern und hörte die Stimme meiner Instinkte, die mich zur Flucht aufforderte. Alle meine Instinkte riefen mit jener Stimme, bis auf den einen, der bleiben oder brechen wollte. Bleiben oder brechen, auf keinen Fall biegen oder beugen.
Inzwischen konnte ich an der Spitze der Kolonne deutlich einzelne Personen erkennen. Sechs Reiter in Kettenhemden, und ein Ritter in schwerer Rüstung. Das Wappen auf seinem Schild wurde sichtbar, als er sich drehte und seiner Truppe Anweisungen gab. Eine schwarze Krähe auf rotem Grund, dazu Flammen. Graf Osson Renar würde nicht Hundert seiner Soldaten in ein Protektorat von Ankrath führen; dies musste einer seiner Jungs sein, Marclos oder Jarco.
»Gegen so viele kämpfen die Brüder nicht«, sagte Elban. Er legte mir die Hand auf die Schulterplatte. »Vielleicht können wir uns einen Weg zu den Bäumen kämpfen, wenn wir die Pferde holen, Jorg.«
Zwanzig Renar-Männer eilten bereits zur Baumlinie und achteten darauf, dass ihre Langbögen nirgends hängen blieben.
»Nein.« Ich seufzte tief. »Ich sollte mich besser ergeben.«
Ich streckte die Hand aus. »Die weiße Fahne, wenn ich bitten darf.«
Die Haussoldaten hatten sich formiert, als ich mich der Hauptgruppe näherte. Meine »Fahne« war eher grau als weiß. Und es war ein ungesundes Grau obendrein, aus Pater Gomsts Sitzkissen gerissen.
»Ein Edler!«, rief ich. »Ein Edler mit weißer Fahne!«
Das überraschte sie. Die Haussoldaten schwärmten hinter unseren Pferden aus und ließen mich ungehindert die Marktwiese überqueren. Sie sahen nach einem traurigen Haufen aus: Metallbesatz fiel von ihrem Leder, und Rost klebte an den Schwertern. Stubenhocker waren sie, zu lange auf der Straße und nicht hart geworden.
»Der Junge will als Erster ins Feuer«, sagte einer von ihnen.
Ein dürrer Mistkerl mit einem Furunkel auf beiden Wangen. Er ließ seinen Worten ein Lachen folgen.
»Ein Edler!«, rief ich. »Ein Edler mit weißer Fahne.« Ich hatte nicht erwartet, mit meinem Schwert so weit zu kommen.
Ich roch den Gestank der Kolonne und hörte das Weinen und Wimmern. Die Gefangenen starrten mich mit leeren Augen an.
Zwei von Renars Reitern kamen mir entgegen. »Wem hast du die Rüstung gestohlen, Junge?«
»Leck mich am Arsch«, sagte ich freundlich. »Wer schmeißt hier den Laden? Marclos?«
Sie wechselten einen Blick. Ein wandernder Heckenritter konnte einen Sohn des Hauses Renar vermutlich nicht vom anderen unterscheiden.
»Es gehört sich nicht, einen edlen Gefangenen ohne Befehl zu töten«, sagte ich. »Lasst besser das Gräfchen entscheiden.«
Beide Reiter stiegen ab. Große Männer waren es, dem Anschein nach Veteranen. Sie nahmen mein Schwert. Der Ältere mit dem dunklen Bart und einer weißen Narbe unter beiden Augen fand mein Messer. Der Schnitt, an den die Narbe erinnerte, hatte ihn die Spitze seiner Nase gekostet.
»Bist hübsch hässlich, was?«, fragte ich.
Er entdeckte auch das Messer in meinem Stiefel.
Ich hatte keinen Plan. Der Schmerz in meinem Kopf ließ keinen Platz dafür. Ich hatte die wortlose Stimme ignoriert, von der ich mich so lange hatte leiten lassen. Ich hatte sie ignoriert und es vorgezogen, stur zu sein, und jetzt war ich hier unter zu vielen Feinden, dumm und allein.
Ich überlegte, ob mich mein Bruder William beobachtete. Meine Mutter sah mich hoffentlich nicht.
Ich überlegte auch, ob ich sterben würde. Ob sie mich verbrennen würden oder mich verstümmelt zurückließen, damit Pater Gomst mich zur Hohen Burg karrte.
»Jeder hat so seine Zweifel«, sagte ich, als Narbengesicht seine Suche beendete. »Selbst Jesus hatte seinen Moment, und ich bin nicht er.«
Der Mann sah mich an, als sei ich verrückt. Vielleicht war ich das, aber ich hatte meinen Frieden gefunden. Der Kopfschmerz verließ mich, und ich sah die Dinge wieder klar.
Sie führten mich dorthin, wo Marclos auf seinem Pferd saß, einem monströsen Hengst, der mindestens zwanzig Handbreit groß war. Er hob sein Visier und zeigte ein freundliches Gesicht, vielleicht ein wenig zu dick in den Wangen, ansonsten aber recht nett. Das Aussehen kann natürlich täuschen.
»Wer zum Teufel bist du?«, fragte er.
Er trug eine hübsche Rüstung, geätzt, mit silbernen Intarsien und so gut poliert, dass sie selbst bei wenig Licht glänzte.
»Ich habe dich gefragt, wer zum Teufel du bist?« Seine Wangen röteten sich ein bisschen, und da sah er nicht mehr so nett aus. »Du wirst im Feuer singen, Junge, also kannst du mir genauso gut jetzt antworten.«
Ich beugte mich vor, wie um ihn besser hören zu können. Die Leibwächter wollten mich festhalten, aber ich zog den alten Schütteln-und-Drehen-Trick ab. Trotz meiner Rüstung waren sie zu langsam für mich. Ich benutzte Marclos Fuß im Steigbügel als Trittbrett und war in null Komma nichts neben ihm. Er trug ein hübsches Stilett in einer Scheide am Sattel, und ich nahm’s und stieß es ihm ins Auge. Dann ritten wir beide los. Wir galoppierten über die Marktwiese, wir zwei. Wie man ein Pferd stiehlt, gehört zu den ersten Dingen, die man auf der Straße lernt.
Und so ritten wir, Marclos heulend und zitternd hinter mir.
Zwei Haussoldaten versuchten, uns den Weg zu versperren, aber ich ritt sie einfach über den Haufen. Sie würden nicht wieder aufstehen – der Hengst war wirklich beängstigend groß. Die Bogenschützen legten vielleicht auf uns an, aber aus so großer Entfernung konnten sie uns nicht richtig auseinander halten, und so ritten wir in den Ort.
Ich hörte, wie uns die Leibwächter folgten, und es klang, als gerieten auch einige Männer unter die Hufe ihrer Pferde. Sie holten auf, aber wir hatten sie überrascht, Marclos und ich, und deshalb einen Vorsprung. Als wir den Rand von Norwood erreichten, kamen sie nahe heran.
Beim ersten Gebäude riss ich den Hengst zur Seite, und Marclos war so freundlich, vom Pferd zu fallen. Mit dem Gesicht voran prallte er auf den Boden. Noch jemand, der nicht wieder aufstehen würde. Es fühlte sich gut an, das will ich nicht leugnen. Ich stellte mir vor, wie der Graf die Nachricht beim Frühstück erhielt. Und ich fragte mich, wie es ihm schmecken mochte. Würde er seine Eier aufessen?
»Männer von Renar!«, rief ich so laut, dass mir die Lunge schmerzte. »Dieser Ort steht unter dem Schutz des Prinzen von Ankrath. Er wird nicht kapitulieren.«
Ich drehte den Hengst erneut und ritt weiter. Einige Pfeile klapperten hinter mir. Bei den Stufen des Bürgermeisterhauses hielt ich an und stieg ab.
»Du bist zurückgekehrt …«, brachte Pater Gomst verwirrt hervor.
»Das bin ich«, bestätigte ich und wandte mich an Elban. »Jetzt gibt es keinen Rückzug mehr, nicht wahr, Bruder?«
»Du bist verrückt.« Die Worte kamen als Flüstern. Aus irgendeinem Grund lispelte Elban nicht, wenn er flüsterte.
Die Reiter, Marclos’ persönliche Garde, bildeten die Spitze des Angriffs. Zusammen mit fünfzig Fußsoldaten fanden sie genug Mut. Die zwei Dutzend Haussoldaten auf dem Kamm nahmen sich ein Beispiel daran und liefen über den Hang. Die Bogenschützen kamen aus dem Dickicht am Fluss, um besser zielen zu können.
»Diese Mistkerle verbrennen euch bei lebendigem Leib, wenn sie euch erwischen«, sagte ich zu den fünf Brüdern, die ich bei mir hatte. Dann zögerte ich und sah jedem von ihnen in die Augen. »Aber sie wollen nicht sterben. Und sie wollen auch nicht zum Grafen zurück. Würdet ihr dem alten Scheiterhaufen-Renar seinen toten Sohn bringen und ihm sagen wollen: ›O ja, aber wir haben einige Plünderer getötet … da war dieser Junge … und ein Alter ohne Zähne …‹?«
Und ich fügte hinzu: »Hört mir gut zu. Kämpft gegen diese zahmen Soldaten und zeigt ihnen die Hölle. Zeigt ihnen genug davon, und die Schweinehunde kriegen es mit der Angst zu tun und fliehen.« Ich unterbrach mich und fing Bruder Roddats Blick ein, der ein Wiesel war und gern lief, ob es einen Sinn hatte oder nicht. »Du bleibst bei mir, Bruder Roddat.«
Ich sah zum Dickicht, über die Köpfe der Männer hinweg, die über die Marktwiese stürmten, und beobachtete, wie einer der Bogenschützen zwischen den Bäumen fiel. Dann noch einer. Eine gepanzerte Gestalt kam aus dem Unterholz. Die Aufmerksamkeit der Bogenschützen vor ihr galt noch immer dem Angriff. Die Gestalt holte aus und köpfte den ersten von ihnen. Danke, Makin, dachte ich. Der Fette Burlow kam angelaufen und pflügte mit seiner gepanzerten Masse in die Reihe der Bogenschützen.
Die Soldaten vom Kamm passierten Rikes Stellung, und seine Jungs machten sich daran, sie von hinten zu erledigen. Von einem zahlenmäßig überlegenen Gegner war Rike normalerweise alles andere als begeistert, aber das Wort »Beute« hatte immer große Wirkung auf ihn.
WruOmm!, machte es, als sich die Armbrust des Nubiers entlud. Bei so vielen Zielen konnte er kaum danebenschießen, aber eigentlich hätte er nicht in der Lage sein sollen, einen ganz bestimmten Gegner auszuwählen. Dennoch trafen beide Bolzen den Reiter ganz vorn in der Brust und rissen ihn aus dem Sattel. Kent und die anderen richteten sich hinter den Mauern des Bürgermeisterhauses auf. Ihre Überraschung war groß, als sie sahen, was ihnen entgegenkam, aber Möglichkeiten waren dünn gesät, und es herrschte kein Mangel an Pfeilen.
Renars Soldaten trafen mit voller Geschwindigkeit auf unsere Fallgruben. Ich schwöre, dass ich hörte, wie die ersten Fußknöchel brachen. Es folgte wildes Geschrei, als die Männer übereinander fielen. Kent, Lügner und Row nutzten die Gelegenheit und schickten ein weiteres Dutzend Pfeile in die Hauptmasse des Angriffs. Der Nubier lud sein Monstrum von Armbrust, und diesmal schoss er einem Pferd beinahe den Kopf ab. Der Reiter flog nach vorn, und das Tier fiel auf ihn und verspritzte dabei sein Gehirn auf dem Boden.
Einigen der Soldaten gefiel die Straße plötzlich nicht mehr, und sie suchten sich einen Weg durch die Ruinen. Natürlich fanden sie nicht nur einen Weg, sondern auch die Brüder, die dort auf sie warteten.
Die Bogenschützen hatten zuerst genug. Es gibt nicht viel, was ein Mann in einem gepolsterten Waffenrock mit einem Messer an der Hüfte gegen einen guten Schwertkämpfer ausrichten kann. Und selbst Burlow wusste mit dem Schwert umzugehen.
Drei der Reiter erreichten uns. Wir empfingen sie nicht auf der Straße, sondern wichen in die Reste von Deckers Schmiede zurück. Langsam ritten sie herein, und Asche knirschte unter den Hufen. Elban sprang als Erster aus einer Nische über den Öfen, brachte den Reiter zu Boden und stach immer wieder mit seinem Messer zu. Vielleicht erinnert ihr euch: Ich habe darauf hingewiesen, dass Bruder Elban einen gewissen Biss hatte.
Zwei Brüder holten den zweiten Reiter aus dem Sattel. Mit mehreren Scheinangriffen trieben sie ihn in die Enge, bis er sich eine Blöße gab. Es war zu eng; er konnte sein Pferd nicht drehen. Hätte absteigen sollen.
Damit blieb mir Narbengesicht. Er hatte mehr Biss als Elban und war so klug gewesen, sein Pferd draußen zu lassen. Langsam und locker kam er auf mich zu, und die Spitze seines Schwerts zitterte vor ihm. Er hatte es nicht eilig. Es gibt keinen Grund zu Eile, wenn man fast fünfzig Männer hinter sich weiß.
»Weiße Fahne?«, fragte ich und versuchte, ihn zu reizen.
Er sprach nicht. Seine Lippen waren zu einer Linie zusammengepresst, und ganz langsam kam er näher. Dann trat Bruder Roddat hinter ihn und stieß ihm ein Schwert in den Nacken.
»Hättest die weiße Fahne annehmen sollen, Narbengesicht«, sagte ich.
Als ich auf die Straße zurückkehrte, begegnete ich einem rotgesichtigen Arsch von Haussoldaten, der den Hügel heraufgelaufen war. Er explodierte regelrecht, getroffen von den Armbrustbolzen des Nubiers. Und dann erreichten uns die anderen. Der Nubier ergriff seine Hacke, und der Rote Kent nahm seine Axt. Roddat lief mit einem Speer an mir vorbei und fand jemanden, den er damit aufspießen konnte.
In zwei Wellen kamen sie. Zehn oder zwölf von ihnen waren Marclos’ Leibwächtern gefolgt, und zwanzig weitere hatten sich etwas mehr Zeit gelassen. Der Rest lag tot oder sterbend auf der Hauptstraße und in den Ruinen.
Ich stürmte an Roddat und dem von ihm aufgespießten Mann vorbei. Dann auch vorbei an zwei Schwertkämpfern, die nicht zu wild darauf waren, es mit mir aufzunehmen. Ich erreichte die erste Welle und sah den dürren Mistkerl mit den Furunkeln auf den Wangen, dort in der zweiten Welle, den Mann, der sich über mich lustig gemacht und mich bereits im Feuer gesehen hatte.
Und so griff ich die zweite Welle an und schrie nach Furunkels Blut. Das gab den Ausschlag. Das war zu viel für sie. Und die Männer vom Kamm? Sie erreichten uns erst gar nicht. Der Kleine Rikey dachte, sie hätten vielleicht Beute bei sich.
Ich schätze, mehr als die Hälfe von Renars Männern ergriffen die Flucht. Aber sie waren gar nicht mehr Renars Männer. Sie konnten nicht zu ihm zurück.
Makin kam blutbesudelt den Hügel hinauf. Er sah aus wie der Rote Kent an dem Tag, als wir ihn fanden! Burlow begleitete ihn, blieb aber stehen, um die Toten auszurauben, was natürlich auch bedeutete, die Verletzten in Tote zu verwandeln.
»Warum?«, fragte Makin. »Ich meine, es ist ein grandioser Sieg, mein Prinz, aber … Warum bei allen Teufeln bist du ein solches Risiko eingegangen?«
Ich hielt mein Schwert hoch. Die Brüder um mich herum wichen einen Schritt zurück, aber Makin blieb stehen und zuckte nicht einmal zusammen. »Seht ihr dieses Schwert?«, fragte ich. »Nicht ein Tropfen Blut daran.« Ich zeigte es in die Runde und deutete dann damit zum Kamm. »Und dort draußen sind fünfzig Männer, die nie wieder für Graf Renar kämpfen. Sie arbeiten jetzt für mich. Sie tragen die Geschichte eines Prinzen, der den Sohn des Grafen tötete. Eines Prinzen, der nicht kapitulieren wollte. Eines Prinzen, der nicht zurückweicht, nie. Eines Prinzen, der nicht einmal Blut an seinem Schwert haben muss, um hundert Männer mit dreißig Männern zu besiegen.
Denk darüber nach, Makin. Roddat hier hat wie ein Wilder gekämpft, weil ich ihm sagte: Wenn die Soldaten denken, dass du nicht aufgibst, kriegen sie es mit der Angst zu tun und fliehen. Jetzt habe ich fünfzig Feinde dort draußen, die überall erzählen werden: › Der Prinz von Ankrath, er gibt nicht auf. ‹ Es ist eine einfache Rechnung. Wenn der Feind glaubt, dass wir nicht aufgeben, verliert er den Mut.«
Das stimmte. Es war nicht der wahre Grund, aber es stimmte.