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Vier Jahre zuvor

 

Wieder donnerte es, und für einen Moment hielt mich das Donnern fest. Ich fühlte es in der Brust. Ein Blitz tauchte die Welt in grelles Weiß, und die Nachbilder zeigten mir Visionen. Ein Baby, so heftig geschüttelt, dass ihm Blut aus den Ohren kam. Um ein Feuer tanzende Kinder. Neuerliches Donnern schüttelte die Scheune, und die Dunkelheit kehrte zurück.

Ich saß in der Verwirrung zwischen Schlaf und Wachen, umgeben von knarrendem Holz und dem Fauchen des böigen Winds. Wieder stach ein Blitz durch die Finsternis, und ich sah das Innere der Kutsche, meine Mutter mir gegenüber. Neben ihr lag William zusammengerollt auf der Sitzbank, die Knie an der Brust.

»Das Gewitter!« Ich drehte mich und griff nach den Fensterlatten. Sie widersetzten sich mir und spuckten Regen, während draußen der Wind heulte.

»Ruhig, Jorg«, sagte Mutter. »Schlaf weiter.«

In der Dunkelheit konnte ich sie nicht sehen, aber ich nahm ihren Duft wahr. Rosen und Zitronengras.

»Das Gewitter.« Ich wusste, dass ich etwas vergessen hatte. An so viel erinnerte ich mich.

»Nur Regen und Wind. Lass dir davon keine Angst machen, Jorg, mein Schatz.«

Hatte ich Angst? Ich lauschte, als die Böen mit ihren Krallen über die Kutschentür kratzten.

»Wir müssen in der Kutsche bleiben«, sagte Mutter.

Ich gab mich dem Schaukeln der Kutsche hin, suchte nach jener Erinnerung und trachtete danach, sie abzuschütteln.

»Schlaf, Jorg.« Es war mehr ein Befehl als eine Empfehlung.

Woher weiß sie, dass ich nicht schlafe?

Ein Blitz gleißte so nahe, dass ich sein Knistern hörte. Das Licht warf ein vom Türfenster stammendes Gittermuster in Mutters Gesicht und gab ihren Augen etwas Wildes.

»Wir müssen die Kutsche anhalten. Wir müssen aussteigen. Wir müssen …«

»Schlaf!« Mutter Stimme klang jetzt scharf.

Ich versuchte aufzustehen und fühlte, wie mich etwas festhielt, als steckte ich in … Schlick.

»Du bist nicht meine Mutter.«

»Bleib in der Kutsche«, sagte sie, ihre Stimme nur mehr ein Flüstern.

Nelkenduft kam durch die Dunkelheit, mit einem Hauch Myrre, der Geruch eines Grabs. Er dämpfte alle Geräusche, bis auf das leise Zischen ihres Atems.

Mit blinden Fingern tastete ich nach dem Türknauf. Statt kaltem Metall fand ich Fäulnis: weiches Fleisch, in schleimigen Tod verwandelt. Ein Schrei löste sich aus meiner Kehle, konnte die Stille aber nicht zerreißen. Ich sah Mutter im Licht des nächsten Blitzes: von Knochen geschälte Haut, die Augenhöhlen leer.

Furcht nahm mir die Kraft. Ich spürte, wie sie mir heiß über die Beine strömte.

»Komm zu Mutter.« Finger wie Zweige schlossen sich um meinen Arm und zogen mich nach vorn in die Dunkelheit.

Es formten sich keine Gedanken in dem Schrecken, der mich gefangen hielt. Worte zitterten auf meinen Lippen, aber es fehlte das Bewusstsein, das ihre Bedeutung enträtseln konnte.

»Du bist nicht … sie«, sagte ich.

Ein weiterer Blitz enthüllte ihr Gesicht dicht vor mir. Im Licht dieses Blitzes sah ich meine Mutter sterben. Ich sah, wie sie in einer stürmischen Nacht verblutete, während ich in einem Dornenstrauch hing, hilflos in einem Griff, der nicht nur aus Dornen bestand. Angst hatte mich gepackt.

Kalter Zorn stieg in mir auf. Aus tiefstem Innern. Ich stieß die Stirn ins monströse Gesicht und griff mit einer Sicherheit nach dem Türknauf, die kein Sehen brauchte.

»Nein!« Und ich sprang hinaus in die stürmische Nacht.

Der Donner grollte laut genug, selbst die ganz tiefliegenden Toten zu wecken. Mit einem Ruck setzte ich mich auf, verwirrt von Heugeruch und stechendem Stroh um mich herum. Die Scheune! Ich erinnerte mich an die Scheune!

Ein einzelnes Licht schien in der Nacht. Das Licht einer Laterne. Sie hing an einem Balken bei der Tür. Eine Gestalt – ein Mann, ein großer Mann – stand im Schein dieser Laterne. Der Nubier lag zu seinen Füßen, in einem unruhigen Schlaf gefangen.

Ich wollte schreien, doch dann biss ich mir fest genug in die Innenseite der Wange, um mich daran zu hindern. Der kupferne Geschmack des Blutes verscheuchte die letzten Reste des Traums.

Der Mann hielt die größte Armbrust, die ich je gesehen hatte. Mit der einen Hand betätigte er die Winde, die das Kabel spannte. Er ließ sich Zeit. Ich schätze, man hat es nicht eilig, wenn man im Auftrag eines Traumhexers jagt. Es sei denn, eins der Opfer entkommt aus dem Traum, der es fesseln soll.

Ich tastete nach meinem Messer und fand nichts. Vermutlich hatte ich es auf dem Weg verloren, den mich der Albtraum durchs Heu hatte nehmen lassen. Der Laternenschein spiegelte sich auf einem Gegenstand aus Metall zu meinen Füßen wider. Ein Haken für Heuballen. Noch drei Drehungen mit der Winde, und die Kabelsehne war gespannt. Ich nahm den Haken.

Grollender Donner übertönte die von mir verursachten Geräusche. Ich schlich nicht. Ich ging langsam genug, um zu wissen, wohin ich den Fuß setzte, und schnell genug, um dem Missgeschick keine Chance zu geben, etwas gegen mich zu unternehmen.

Ich hatte beabsichtigt, den Mistkerl von hinten anzugreifen und ihm die Kehle durchzuschneiden, aber er war groß, zu groß für einen zehnjährigen Knaben.

Der Mann hob die Armbrust und richtete sie auf den Nubier.

Man warte, wenn Warten angebracht ist. Das hatte Lundist immer wieder betont. Aber man zögere nie.

Ich rammte dem Jäger den Haken zwischen die Beine und zog mit all meiner Kraft.

Was dem Donnern des Gewitters und dem Heulen des Winds nicht gelungen war, schaffte der Schrei des Jägers. Der Nubier erwachte. Und er verlor keine Zeit damit, sich zu fragen, was geschehen war und wo er sich befand. Er sprang auf und stieß dem Mann scharfen Stahl in die Brust.

Wir standen mit dem Jäger zwischen uns, jeder mit einer blutigen Waffe in der Hand.

Der Nubier wischte seine Klinge am Mantel des Jägers ab.

»Das ist eine große Armbrust!« Ich stieß sie mit dem Fuß an und bestaunte ihr Gewicht.

Der Nubier nahm sie und strich mit den Fingern über das eingelegte Metall im Holz. »Mein Volk hat sie gebaut.« Er berührte Symbole und die strengen Gesichter fremder Götter. »Und jetzt schulde ich dir noch ein Leben.« Er hob die Armbrust und lächelte, seine Zähne eine weiße Linie im Schein der Laterne.

»Eins genügt.« Ich zögerte. »Es ist Graf Renar, der sterben muss.«

Da verschwand das Lächeln des Nubiers.