27

 

Die Monstren kamen, als das Licht verblasste. Schatten verschlangen die Klamm, und die Stille wurde so dicht, dass der Wind sie kaum bewegen konnte. Makins Hand sank auf meine Schulter. Ich zuckte zusammen und verscheuchte die Furcht mit kurzem Zorn, der meiner eigenen Schwäche galt, und Makin, weil er sie mir zeigte.

»Dort oben.« Er nickte zur linken Seite.

Licht kam aus einer der Höhlen. Ein einzelnes Auge beobachtete uns durch die dunkler werdende Nacht.

»Das ist kein Feuer«, sagte ich. Jenem Licht fehlte warmes Flackern.

Wir beobachteten, wie sich die Lichtquelle bewegte und scharfe Schatten über den Hang warf.

»Eine Laterne?« Der Fette Burlow trat an meine Seite und blähte verwundert die Backen auf. Die anderen Brüder versammelten sich um uns.

Die seltsame Laterne erschien am Hang, und Dunkelheit tilgte die Höhle dahinter. Das Licht leuchtete wie das eines Sterns, ein kaltes Licht, das in tausend hellen Linien von seinem Ursprung ausging. Eine einzelne Gestalt warf den Keil eines Schattens in seinen Schein: der Laternenträger.

Wir beobachteten, wie er langsam zu uns herabkam. Der Wind suchte mit eisigen Fingern nach meinem Leib und zog am Mantel, um meine Aufmerksamkeit zu gewinnen.

»Ave Maria, gratia plena, dominus tecum, benedicta tu in mulieribus.« Irgendwo in der kalten Nacht murmelte Pater Gomst seine Ave-Marias.

Schleichendes Entsetzen breitete sich zwischen uns aus.

»Mutter Gottes!« Makin spuckte die Worte, als wollte er sich auf diese Weise von der Angst befreien. Wir alle spürten sie, als sie über in der Finsternis verborgene Felsen kroch.

Unter anderen Umständen hätten die Brüder vielleicht die Flucht ergriffen, aber wohin sollten sie fliehen?

»Fackeln, verdammt! Los!« Ich schüttelte die Lähmung von mir ab, erschrocken darüber, dass ich so lange tatenlos dagestanden hatte, während sich uns Gefahr näherte.

»Los!« Ich zog mein Schwert. Daraufhin setzten sich die Brüder in Bewegung. Sie eilten zur Glut des Feuers und stolperten auf dem felsigen Boden.

»Nubier, Row, Burlow, stellt fest, ob sich etwas vom Fluss nähert.« Noch während ich diese Worte sprach, wusste ich, dass wir flankiert waren.

»Da! Hinter der Anhöhe!« Der Nubier winkte mit seiner Armbrust. Er hatte etwas gesehen – von ihm kam so schnell kein falscher Alarm. Wir hatten das seltsame Licht beobachtet und den Ungeheuern dadurch Gelegenheit gegeben, in unseren Rücken zu gelangen. Ein alter Trick. Und wir waren darauf hereingefallen. Wie auf dem Markt: Man lenke jemanden mit einem hübschen Gesicht ab, während jemand anders ihn von hinten bestiehlt.

Fackeln wurden entzündet. Die Brüder holten ihre Waffen.

Das Licht kam näher, und wir sahen seinen Ursprung: ein Kind, dessen Haut strahlte. Ein Mädchen war’s, und es ging in aller Ruhe, leuchtete dabei die ganze Zeit über wie flüssiges Silber. Die Lumpen, die es trug, schienen sich in dem Licht in Schatten zu verwandeln.

»Ave Maria, gratia plenal« Pater Gomst sprach lauter und hob das Gebet wie einen Schild.

»Gegrüßet seist du, Maria«, fügte ich seinen Worten hinzu. »Voll der Gnade, ja.«

Die Augen des Mädchens brannten silbern, und die Geister von Flammen huschten über seine Haut. Ihm haftete eine fragile Schönheit an, die mir den Atem raubte.

Hinter ihm stapfte ein Ungeheuer. Unter normalen Umständen hätte es sofort alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Es wirkte wie die Parodie eines Menschen und teilte Adams Gestalt, wie eine Kuh die Gestalt eines Pferds teilt. Das Licht des Mädchens zeigte deutlich alle grässlichen Einzelheiten seines Körpers. Das Monstrum ragte mindestens sieben Fuß hoch auf und war sogar noch etwas größer als unser Kleiner Rikey.

Lügner hob seinen Bogen, mit Abscheu im Gesicht. Ich ergriff seinen Arm, als er auf das Ungeheuer anlegte.

»Nein.« Ich wollte sie sprechen hören. Außerdem sah es aus, als hätte ein Pfeil unseren neuen Freund nur verärgert.

Unter der ledrigen roten Haut des Wesens wölbte sich eine Brust wie ein Hundert-Gallonen-Fass. Einige Rippen durchstießen die Haut und schienen sich über dem Herz treffen zu wollen.

Das Licht des Mädchens berührte uns mit einem kalten Kuss, und ich fühlte es im Geiste. Die junge Dame sprach, und ihre Stimme schien aus den Felsen zu kommen. Ich hörte ihre Schritte in den Fluren meiner Erinnerung.

Es gibt Orte, an denen Kinder nicht unterwegs sein sollten.

Ich begegnete dem silbernen Blick des Mädchens, und Schatten huschten über sein Gesicht.

»Willkommen in unserem Lager«, sagte ich.

Ich trat vor, um die Neuankömmlinge zu begrüßen, ließ die Brüder hinter mir zurück und erreichte die strahlende Aura des Kinds. Das Ungeheuer lächelte mich an, ein breites Lächeln, das mir die Zähne eines Wolfs zeigte. Das monströse Geschöpf hatte die Augen einer Katze, im Licht zusammengekniffen.

Ich trat an der Schönen vorbei und blieb vor dem Biest stehen. Einige Sekunden lang musterten wir uns gegenseitig. Ich betrachtete die Muskelhaufen über den Knochen, durchzogen von pulsierenden Adern und harten Höckern aus Narbengewebe. Eine Hand des Ungeheuers hätte ich als Teller für eine Mahlzeit benutzen können. Beide Hände verfügten über drei Finger und einen Daumen, dick wie der Arm des Mädchens. Das Biest hätte meinen Kopf in eine Hand nehmen und zerquetschen können.

»Warum?« Das Mädchen wirkte verwirrt. Es neigte den Kopf, und Schatten strömten über seine Gestalt.

»Weil.« Ich schnappte nach Luft, als sich das Monstrum aufrichtete.

Warum? Für einen Moment wusste ich es nicht.

»Weil … weil, zum Teufel auch. Weil das Monstrum hier so verdammt groß ist.« Ich vertrieb das Grinsen aus meinem Gesicht. Weil es mich hatte innehalten lassen. Weil es in mir das Gefühl weckte, winzig zu sein.

Ich sah auf das Mädchen hinab. »Ich bin größer als du. Fürchtest du dich deshalb vor mir?«

»Ich fürchte dich«, erwiderte das Mädchen. »Nicht wegen deiner Größe, Jorg. Wegen der Linien, die sich um dich sammeln. Wegen der Linien, die sich dort treffen, wo ich sie nicht sehen kann. Wegen des Gewichts, und der Messerschneide, auf der es sitzt.« Es sprach in einem Singsang, mit hoher, süßer Stimme.

»Du gibst ein gutes Orakel ab, Mädchen«, sagte ich. »Die Mischung aus Tiefgründigkeit und Leere hast du genau richtig hingekriegt.« Mit einem Ruck schob ich das Schwert in die Scheide zurück. »Du kennst also meinen Namen. Was ist mit deinem? Haben die Leucrota Namen?«

»Ich bin Jane«, sagte das Mädchen. »Und dies ist Gorgoth, ein Oberhaupt des Volkes unter dem Berg.«

»Ich bin entzückt.« Ich deutete eine Verbeugung an. »Vielleicht könnten deine Freunde hinter den Felsen hervorkommen. Dann fühlen sich meine Brüder weniger versucht, auf Schatten zu schießen.«

Gorgoths schmale Katzenaugen starrten, und ein wilder Blick traf mich.

»Kommt her!« Seine Stimme war noch tiefer und grollender, als ich sie mir vorgestellt hatte. Und ich hatte sie mir sehr tief und grollend vorgestellt.

Um unser Lager herum richteten sich andere Ungeheuer auf, manche von ihnen erschreckend nah. Wenn sich die Wasserspeier und Grotesken aller großen Kathedralen losgerissen und ein Heer gebildet hätten – die Leucrota wären, Fleisch geworden, dieses Heer gewesen. Sie waren alle unterschiedlich und sahen aus wie auf das Gerüst von Menschen gespannt, doch von ungeschickter Hand. Keins dieser Monstren war so groß und gesund wie Gorgoth. Die meisten von ihnen hatten wässernde Wunden, verkümmerte Gliedmaßen oder wild wuchernde Ansammlungen von Warzen und Geschwüren.

»Jesus, Gorgoth! Neben deinen Freunden wirkt der Kleine Rikey fast hübsch«, sagte ich.

Makin kam zu mir, schirmte sich die Augen vor Janes Licht ab und musterte Gorgoth von Kopf bis Fuß.

»Und dies ist Sir Makin«, sagte ich. »Ritter vom Hofe des Königs Olidan, Schrecken der …«

»Ein Mann, der Vertrauen verdient«, unterbrach mich Jane. »Wenn er dir sein Wort gibt.«

Sie richtete ihre silbernen Augen wieder auf mich, und ich fühlte, wie sich meine Vergangenheit in mir drängte. »Du willst zum Herz des Berges«, sagte Jane.

»Ja.« Das konnte ich nicht leugnen.

»Du bringst Tod, Prinz von Ankrath«, sagte sie.

Gorgoth knurrte bei diesen Worten. Es klang nach aneinander reibenden Felsen. Das Kind legte ihm eine glühende Hand auf den Unterarm. »Tod bei unserer Zustimmung, und auch Tod bei Ablehnung.« Es hielt den Blick auf mich gerichtet. »Was hast du für freies Geleit anzubieten?«

»Ich habe ein Geschenk mitgebracht«, sagte ich. »Aber wenn es euch nicht gefällt, kann ich euch das eine oder andere versprechen. Sir Makin wird es euch ebenfalls versprechen, und er ist ein Mann, der sein Wort hält.« Ich lächelte auf das Mädchen hinab. »Als ich diesen Ort auf der Karte sah …« Ich zögerte und erinnerte mich mit einer gewissen Zärtlichkeit an die Umstände.

»Sally …«, flüsterte das Kind und erinnerte sich mit mir an die Taverne.

Das verblüffte mich für einen Moment. Mir gefiel die Vorstellung nicht, dieses kleine Mädchen in meinem Kopf zu haben: wie es Türen öffnete, kindisch urteilte und mit seinem Licht in Ecken leuchtete, die besser im Dunkel blieben. Ein Teil von mir wollte sie mit dem Schwert niederstrecken. Ein großer Teil von mir.

Ich lockerte die gespannten Muskeln. »Als ich diese Klamm auf der Karte sah, dachte ich mir: ›Welch ein gottverlassener Ort.‹ Und da fiel mir ein, was ich als Tauschobjekt mitbringen könnte. Ich habe euch Gott mitgebracht.« Ich drehte mich um und zeigte auf Pater Gomst. »Ich bringe euch Erlösung, den Segen der Kommunion. Ich bringe euch Weihe, Katechismus … und Beichte, wenn ihr sie für notwendig haltet. All das Heil, das eure kleinen hässlichen Seelen ertragen können.«

Gomst stieß einen mädchenhaften Schrei aus und wollte weglaufen. Der Nubier schlang ihm einen dunklen Arm um die Taille und warf ihn sich über die Schulter.

Ich erwartete eine Antwort von Jane, aber stattdessen kam sie von Gorgoth.

»Wir nehmen den Priester.« Etwas in seiner Stimme tat mir in der Brust weh. »Wir führen euch zur Großen Treppe. Aber die Nekromanten werden euch finden. Es wird keine Rückkehr für euch geben.«