28

 

»Nekromanten?« Ich stapfte hinter Jane, mit Gorgoth im Rücken. Von Nekromanten war in meinen Büchern nicht die Rede gewesen.

»Sie herrschen über die Toten. Magier …«

»Ich weiß, was sie sind«, unterbrach ich Gorgoth. »Was machen sie auf meinem Weg?«

»Der Berg Honas lockt sie an«, sagte Jane. »Der Tod lauert im Herzen des Bergs. Alte Magie. Das erleichtert ihnen die Arbeit.«

Selbst die Höhlen der Leucrota waren hässlich. Als ich sieben gewesen war, und William fünf, hatte Lehrer Lundist uns heimlich zu den Höhlen von Paderack gebracht. Ohne das Wissen des Hofes kletterten und rutschten die Thronerben von Ankrath in dunkle Tiefen und erreichten eine Kathedrale voller Säulen, von solcher Schönheit, dass sie selbst Gottes Gnade in den Schatten stellte. Die Pracht jenes Ortes trage ich noch immer in mir. Den Kavernen der Leucrota fehlte diese glatte Eleganz; sie waren von der verborgenen Kunst, die sich in tiefen Orten der Welt verbirgt, völlig unberührt. Wir schritten durch Tunnel, deren Wände aus Erbauer-Stein bestanden, mit einer längst in Vergessenheit geratenen Kunstfertigkeit gegossen und geformt. Janes Licht zeigte uns uralte Gewölbe, an einigen Stellen von Rissen durchzogen und kalkverkrustet. Wir suchten uns einen Weg vorbei an herabgestürzten Blöcken größer als Karrengäule, und die ganze Zeit über stießen wir tiefer in den Berg vor. Wie Würmer gruben wir uns zum Kern, auf der Suche nach den Wurzeln des Bergs.

»Hör auf zu jammern, Priester.« Row näherte sich dem Nubier von hinten und zeigte dem alten Gomst sein Messer, ein böse aussehendes Stück Metall, wirklich sehr böse.

Pater Gomst beendete seine Klagen, und ich vermisste sie nicht, denn die Echos waren recht beunruhigend gewesen. Ich ließ mich zurückfallen, auf ein Wort mit ihm. Und um sicherzustellen, dass Row unser Geschenk für die Ungeheuer nicht zerschnitt, bevor wir es ihnen auf angemessene Weise übergeben hatten.

»Friede, Pater«, sagte ich.

Ich schob Rows Klinge beiseite. Er machte ein finsteres Gesicht dabei, unser Row, pockennarbig und mit zusammengekniffenen Augen.

»Du wechselst lediglich die Gemeinde, Pater«, teilte ich Gomsty mit. »Deine neuen Schafe sehen ungewohnt aus, aber innen drin? Ich bin sicher, innerlich sind sie hübscher als unser Row hier.«

Der Nubier brummte und rückte sich den Priester auf seiner Schulter zurecht.

»Setz ihn ab«, sagte ich. »Er kann gehen. Wir sind jetzt so tief im Berg, dass es gar keine Flucht mehr für ihn gibt.«

Der Nubier stellte den alten Gomsty auf seine Füße. Er sah mich an, sein Gesicht so schwarz, dass ich den Ausdruck darin nicht deuten konnte. »Es ist falsch, Jorg. Handle mit Gold, nicht mit Menschen. Er ist ein heiliger Mann. Er spricht für den weißen Christus.«

Gomst starrte den Nubier mit einem Hass an, den ich nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Es war, als wären ihm gerade Hörner gewachsen, als hätte er sich in Luzifer verwandelt.

»Jetzt kann er Gorgoth von Christus erzählen«, erwiderte ich.

Der Nubier schwieg, mit leerer Miene.

Etwas am Schweigen des Nubiers weckte in mir immer den Wunsch, noch mehr zu sagen. Als müsste ich etwas bei ihm in Ordnung bringen. Makin hatte eine ähnliche Wirkung auf mich, wenn auch nicht ganz so stark.

»Es ist nicht so, dass er gefangen wäre«, sagte ich. »Er bleibt frei und kann heimkehren, wenn er will. Allerdings muss er sich Proviant für die Reise verdienen, und eine Karte.«

Daraufhin schenkte mir der Nubier die weiße Sichel seines Lächelns.

Ich ging weiter, mit einer kalten Stimme, die in mir flüsterte. Von Schwäche flüsterte sie, von der Kante eines Keils, von einem scharfen Messer, das ohne Tränen schnitt, von heißem Eisen, das eine Wunde ausbrannte, bevor sich eine Infektion darin niederlassen konnte. Es nützte nichts, einen Bruder zu lieben.

Janes Licht trübte sich und flackerte, als ich näher kam. Sie wich ein wenig zurück und schnappte nach Luft. Ich verzog die Lippen und stellte mir vor, wie sie von einer Klippe fiel. Es funktionierte besser als erwartet – Jane quiekte und hielt sich die Augen zu.

Gorgoth trat zwischen uns. »Halte dich von ihr fern, Dunkler Prinz.«

Also ging ich in den Schatten, und sie führten uns in den Berg. Wir folgten dem Verlauf breiter Tunnel, die sich meilenweit erstreckten, mit ebenem Boden und gewölbten Decken.

Rostflecken bildeten parallele Linien an den Wänden, doch warum Menschen Eisen auf diese Weise legten, blieb mir ein Rätsel. Vielleicht, dachte ich mir, stammte der Rost von Röhren, in denen das geheime Feuer der Erbauer geflossen war.

Wir ließen Jane und alle bis auf zwei ihrer Art am Ufer eines Sees zurück, der so groß war, dass ihr silbernes Licht nicht übers Wasser reichte. Auch diesen Ort hatten die Erbauer geschaffen. Eine einzelne hohe Stufe trennte Stein von Wasser, und die Decke über uns war flach und schmucklos. Die Angehörigen von Janes Volk zogen sich zu Hütten aus Holz und Fellen zurück, die sich am Rand des Sees aneinander drängten. Gorgoth führte sie, mit einer großen Hand um Pater Gomsts Schulter gelegt.

Jane zögerte, und ihr Blick bewegte sich zwischen den beiden Grotesken, die als Wachen bei uns zurückgeblieben waren. Sie blieb still, doch ich spürte einen Hauch von wortloser Sprache, als sie den beiden Gestalten Anweisungen übermittelte.

»Keine letzten Worte für mich, Mädchen?«, fragte ich und sank auf ein Knie, von grimmigem Humor gepackt. »Keine Prophezeiungen? Keine Perlen, die du vor dieses Schwein werfen kannst? Ich bitte dich, gewähre mir einen Blick in die Zukunft. Zeig mir, was mich erwartet.«

Jane sah mich an, und das Licht strahlte heller, aber ich wandte den Blick nicht ab.

»Deine Entscheidungen sind Schlüssel zu Türen, die mir verschlossen bleiben.«

Ich fühlte Ärger in mir aufsteigen und drängte ihn mit einem Knurren zurück. »Es gibt mehr als das.«

»Du hast eine dunkle Hand auf deiner Schulter. Ein Loch in deinem Geist. Ein Loch. In deinen Erinnerungen. Ein Loch … ein Loch … Es zieht mich an …«

Ich ergriff ihre Hand. Das war ein Fehler, denn sie verbrannte die Haut und ließ gleichzeitig den Knochen zu Eis erstarren. Ich hätte die Hand losgelassen, wenn ich dazu imstande gewesen wäre, aber die Kraft verließ mich. Für einen Moment sah ich nichts als die Augen des Kindes.

»Lauf, wenn du sie triffst. Lauf einfach. Sonst nichts.« Es fühlte sich an, als kämen die Worte von mir, obwohl ich hörte, wie Janes Stimme sie sprach. Dann fiel ich.

 

Ich kam im Licht von Fackeln zu mir.

»Er ist wach.«

Ich fand mich von Angesicht zu Angesicht mit Rike wieder.

»Jesus, Rike, hast du schon wieder mit Rattenpisse gegurgelt?« Ich schob seine grässliche Visage beiseite und zog mich an seiner Schulter hoch. Um mich herum standen die Brüder auf und nahmen ihre Sachen. Makin kam vom See, und hinter ihm ragte Gorgoth auf.

»Lass die Finger von der Prophetin der Leucrota!«, sagte er gespielt streng. Ich sah die Erleichterung halb verborgen in seinen Augen.

»Ich werde daran denken«, sagte ich.

Gorgoth blieb vor mir stehen, schnitt eine finstere Miene und übernahm dann die Führung, mit einer Fackel so groß wie ein kleiner Baum.

Unser Weg führte jetzt nach oben, durch einen Tunnel mit nach Mandeln riechendem Staub. Weniger als tausend Meter weit waren wir gegangen, als der Weg breiter und zu einem Stollen wurde, durchzogen von steinernen Gräben, die unbekannten Zwecken dienten. Mehrere Meter waren sie breit, und so tief wie ein Mann groß. Am Zugang des Stollens befand sich ein hölzerner Pferch mit Gittern aus Seilen. Zwei Kinder hockten darin, zwei Leucrota. Gorgoth öffnete die Tür des Käfigs.

»Heraus.«

Keins von beiden war älter als sieben Sommer, wenn man, was die dunklen Höhlen der Leucrota betraf, überhaupt von »Sommer« sprechen konnte. Nackt kamen sie aus dem Käfig, zwei dünne Jungen, offenbar Brüder, der kleinere von ihnen etwa fünf Jahre alt. Von allen Leucrota, die ich bisher gesehen hatte, schienen diese am wenigsten monströs. Ihre Haut zeigte schwarzweiße Streifen, ein Muster wie bei den Tigern von Indus. Dunkle Dornen aus Horn ragten aus den Ellenbogen, und die Finger endeten in Krallen. Der ältere der beiden Jungen sah mich mit völlig schwarzen Augen an – es gab nichts Weißes darin, auch keine Iris oder Pupille.

»Wir wollen eure Kinder nicht«, sagte Makin. Er griff in die Tasche und warf den Brüdern ein Stück Trockenfleisch zu.

Es blieb vor den Füßen des älteren Jungen liegen, der den Blick auf Gorgoth gerichtet hielt. Der Kleinere beäugte das Fleisch hungrig, rührte sich aber nicht von der Stelle. Sie waren so mager, dass ich ihre Rippen unter der Haut zählen konnte.

»Sie sind für die Nekromanten bestimmt. Verschwendet euer Essen nicht an sie.« Gorgoths Grollen war so dumpf, dass ich die Ohren spitzen musste, um ihn zu verstehen.

»Ein Opfer?«, fragte der Nubier.

»Sie sind bereits tot«, erwiderte Gorgoth. »Die Stärke der Leucrota wohnt nicht in ihnen.«

»Mir scheinen sie recht wacker zu sein«, sagte ich. »Mit der einen oder anderen Mahlzeit. Bestimmt seid ihr neidisch auf sie, weil sie nicht so hässlich sind wir ihr anderen.« Eigentlich war es mir gleich, was Gorgoth mit den beiden Kleinen anstellen wollte. Mir gefiel es nur, ihn ein wenig zu verspotten.

Gorgoth bewegte die Finger seiner großen Hände, und die Knöchel knackten wie Scheite im Feuer.

»Esst.«

Die beiden Jungen fielen über Makins Trockenfleisch her und knurrten wie Hunde.

»Die Leucrota sind rein geboren. Wir bekommen unsere Gaben, während wir wachsen.« Gorgoth deutete auf die beiden Jungen, die den Rest des Fleischs vom Stein leckten. »Diese beiden sind halb so alt wie die Wandlungen von Leucrota, die sie in sich tragen. Ihre Gaben werden schneller wachsen als sie selbst, und solche Veränderungen kann niemand ertragen. Ich habe es schon einmal beobachtet. Derartige Gaben stülpen eine Person um, von innen nach außen.« Etwas in den Katzenaugen teilte mir mit, dass sie es tatsächlich gesehen hatten. »Es ist besser, wenn sie uns als Bezahlung für die Nekromanten dienen, damit sie sich von unseren Höhlen fernhalten. Es ist besser, wenn die Toten diese nehmen, anstatt nach Opfern zu suchen, die gelebt hätten. Sie werden einen schnellen Tod und langen Frieden finden.«

»Wie du meinst.« Ich zuckte die Schultern. »Lasst uns den Weg fortsetzen. Ich bin gespannt auf die Begegnung mit diesen Nekromanten.«

Wir stapften hinter Gorgoth durch den Stollen. Die beiden Kinder schlossen sich uns an, und ich sah, wie der Nubier getrocknete Aprikosen aus den Tiefen seiner Jacke holte.

Makin kam an meine Seite und fragte leise: »Wie sieht dein Plan aus?«

»Hmm?« Ich beobachtete, wie der jüngere Knabe Lügners gut gezieltem Tritt auswich.

»Die Nekromanten … Wie ist dein Plan?« Makin sprach ganz leise.

Ich hatte keinen Plan, aber das war nur ein weiteres Hindernis, das es zu überwinden galt. »Es gab einmal eine Zeit, als die Toten tot blieben«, sagte ich. »Ich habe in Vaters Bibliothek davon gelesen. Über Äonen hinweg wandelten die Toten nur in Geschichten. Selbst bei Platon befanden sie sich in sicherer Entfernung, auf der anderen Seite des Flusses Styx.«

»Das hat man von all dem Lesen«, kommentierte Makin. »Ich erinnere mich an die Straße durch den Sumpf. Jene Geister kannten deine Bücher nicht.«

»Nubier!«, rief ich. »Nubier, komm her und sag Sir Makin, warum die Toten nicht mehr ruhen.«

Er kam zu uns, die Armbrust auf der Schulter und nach Nelkenöl riechend. »Die Weisen von Nuba sagen, dass die Tür offen steht.« Er zögerte, und ich beobachtete, wie eine rosarote Zunge über seine weißen Zähne strich. »Es gibt eine Tür zum Tod, einen Schleier zwischen den Welten, und wir passieren ihn, wenn wir sterben. Aber am Tag der Tausend Sonnen drängten so viele Menschen durch die Tür, dass sie zerbrach. Der Schleier ist dünn geworden. Es erfordert nur ein Flüstern und das richtige Versprechen, und man kann die Toten zurückrufen.«

»Da hast du’s gehört, Makin«, sagte ich.

Makin zog die Stirn kraus und rieb sich die Lippen. »Und der Plan?«

»Ah«, sagte ich.

»Der Plan?« Er konnte sehr hartnäckig sein, dieser Makin.

»Wie üblich. Wir bringen alle um, bis niemand mehr aufsteht.«