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Ich schluckte Dunkelheit, und Dunkelheit schluckte mich.

Ohne Licht, ohne das Klopfen des Herzens, um die verstreichende Zeit zu zählen, lernt man, dass man keine Angst vor der Ewigkeit haben muss. Wenn man ihr einfach überlassen bleibt, kann eine Ewigkeit im Dunkeln eine willkommene Alternative zu den üblichen Angelegenheiten des Lebens sein.

Dann kam der Engel.

Das erste Glimmen fühlte sich nach Papierschnitten in meinen Augen an. Das Licht wuchs von einem fernen Punkt, und Splitter aus Licht bohrten sich mir in den Hinterkopf. Eine Dämmerung kam, und in einem Moment, oder in tausend Jahren, floh die Dunkelheit, ohne einen Schatten zu hinterlassen, der an sie erinnerte.

»Jorg.«

Die Stimme einer Frau. Sie floss durch die Oktaven, enthielt ein Echo aller freundlichen Worte und eines jeden erfüllten Versprechens.

»Hallo.« Meine Stimme klang nach knackendem Schilf. Hallo? Aber was sollte man zum Himmel sagen, wenn er einen empfing? Zwei Silben, beide voller Schwäche und Zweifel.

Die Frau breitete die Arme aus. »Komm zu mir.«

Nackt hockte ich da, auf einem Boden so weiß, dass sich kein Schatten auf ihn wagte. Ich sah den Schmutz an meinen Gliedern, wie Adern, und Blut, Blut aus der Wunde, die mich getötet hatte, getrocknet und schwarz wie die Sünde. »Komm.«

Ich versuchte, sie anzusehen, doch nichts an ihr schien stabil und konstant zu sein. Als seien Konturen und Schärfe etwas für Sterbliche, eine Reduktion, die ihre Essenz nicht erlaubte. Sie war blass, hier mehr, dort weniger. Sie hatte die Augen von allen, die jemals Anteil genommen hatten. Und Engelsflügel, die hatte sie ebenfalls, aber nicht weiß und fedrig, sondern Flügel für den Flug. Die Aura des Himmels umgab sie. Manchmal schien ihre Haut aus Wolken zu bestehen, die sich übereinander schoben. Ich wandte den Blick ab.

Dort hockte ich, ein Knoten aus Fleisch und Knochen, im Licht der Engelsfrau nur von Schmutz und altem Blut kenntlich gemacht.

»Komm zu mir.« Die Arme offen. Die Arme einer Mutter, einer Geliebten, eines Vaters, eines Freunds.

Ich sah sie nicht an, aber trotzdem fühlte ich mich zu ihr hingezogen. Ich fühlte ihr Atmen, ihr Versprechen von Erlösung. Es war nur nötig, den Blick zu heben, dann würde sie mir vergeben.

»Nein.«

Ihre Überraschung flatterte zwischen uns, wie Flügelschläge aus Licht. Ich fühlte Anspannung in den Kiefermuskeln und den bitteren Geschmack von Zorn, heiß und ganz hinten in meiner Kehle. Zumindest dies waren vertraute Dinge.

»Leg den Schmerz beiseite, Jorg. Lass das Blut des Lamms deine Sünden abwaschen.« Es gab nichts Falsches in ihr. Sie stand transparent in ihrer Sorge. Der Engel hielt seine Geschenke in offenen Händen: Mitgefühl, Liebe … Mitleid.

Ein Geschenk zu viel. Das alte Lächeln verzog meine Lippen. Ruhig und langsam stand ich auf, den Kopf noch immer gesenkt. »Das Lamm hat nicht genug Blut für meine Sünden. Du solltest besser ein Schaf für mich opfern.«

»Keine Sünde ist zu groß, um sie nicht zu bereuen«, sagte die Engelsfrau. »Es gibt nichts Böses, das nicht überwunden werden kann.«

Sie meinte es ernst. Keine Lüge kam über jene Lippen. Zumindest die Wahrheit war offensichtlich.

Ich begegnete ihrem Blick, und die Woge aus Liebe, so groß und bedingungslos, trug mich fast fort. Ich widersetzte mich, stemmte mich ihr entgegen. Irgendwie gelang es mir, erneut zu lächeln, und ich verfluchte dabei meine Schwäche.

»Nur wenige Sünden habe ich unangetastet gelassen.« Ich trat einen Schritt auf sie zu. »Ich habe geflucht, in der Kirche. Ich habe den Ochsen meines Nachbarn begehrt. Und nicht nur das. Ich habe ihn auch gestohlen, ihn ganz gebraten und in maßloser Völlerei verzehrt, eine tödliche Sünde, die erste der sieben, an der Brust meiner Mutter gelernt.«

Der Schmerz in ihren Augen schmerzte mich, aber ich hatte ein Leben lang Hiebe ausgeteilt, die nicht nur andere trafen, sondern auch mich selbst.

Ich trat hinter den Engel, und meine Füße beschmutzten den Boden, hinterließen langsam verblassende Flecken.

»Ich habe die Frau meines Nachbarn begehrt und sie mir genommen. Und ich habe gemordet. O ja, ich habe gemordet, viele Male. So wenige Sünden unangetastet … Wenn ich nicht so jung gestorben wäre, hätte ich dir bestimmt eine vollständige Liste vorlegen können.« Zorn schloss mir den Mund und ließ mich so fest die Zähne aufeinander beißen, dass sie zu splittern drohten. »Wenn ich nur fünf Minuten länger gelebt hätte, wäre vielleicht Vatermord an erster Stelle auf der Liste erschienen.«

»Dir kann vergeben werden.«

»Ich brauche keine Vergebung.« Adern aus Dunkelheit krochen über den Boden und näherten sich mir.

»Lass los, Kind.« Wärme und Zuneigung erklangen in ihren Worten, so stark, dass sie mich beinahe zu ihr brachten. Ihre Augen waren wie Fenster zu einer Welt, in der die Dinge ganz wurden. Zu einem für das Morgen geschaffenen Ort. Es konnte alles gut werden. Ich schmeckte und roch es. Wenn sie sich ihres Erfolges nicht so sicher gewesen wäre, hätte sie mich bekommen.

Ich hielt an meinem Zorn fest und trank aus meinem Giftbrunnen. Das sind keine guten Dinge, aber wenigstens gehören sie mir.

»Ich könnte mir dir gehen«, teilte ich der Engelsfrau mit. »Ich könnte nehmen, was du mir anbietest. Aber wer wäre ich dann? Wer würde aus mir, wenn ich die Dinge losließe, die mich geformt haben?«

»Du wärst glücklich«, sagte sie.

»Jemand anders wäre glücklich. Ein neuer Jorg, ein Jorg ohne Stolz. Ich lasse mich von niemandem zur Marionette machen, nicht von dir und nicht einmal von Ihm.«

Die Nacht kehrte zurück, wie Nebel aus den Sümpfen.

»Auch Stolz ist eine Sünde, Jorg. Die größte der sieben. Du musst den Stolz loslassen.« Und zum ersten Mal lag so etwas wie Herausforderung in ihrer Stimme. Das genügte mir; es gab mir neue Kraft.

»Ich muss?« Dunkelheit umwogte uns.

Sie streckte die Hände aus. Die Dunkelheit verdichtete sich, und das Licht der Engelsfrau schwand.

»Stolz?« Mein Lächeln wurde größer und leichter. »Ich bin stolz. Sollen die Sanften und Demütigen ihren Lohn bekommen. Ich verbringe die Ewigkeit lieber in Düsternis, als göttliche Glückseligkeit zu dem Preis zu empfangen, den du verlangst.« Es stimmte nicht, aber andere Worte zu sprechen, ihre Hand zu nehmen, anstatt sie zurückzuweisen, hätte nichts als Bruchstücke von mir übrig gelassen.

Die Engelsfrau glomm nur noch, umgeben von samtener Schwärze. »Luzifer hat so gesprochen. Der Stolz kostete ihn den Himmel, obwohl er an Gottes rechter Seite saß.« Ihre Stimme wurde leise, zum Hauch eines Flüsterns. »Letztendlich ist Stolz das einzige Böse, die Wurzel aller Sünden.«

»Ich habe nur Stolz.«

Ich schluckte die Nacht, und die Nacht schluckte mich.