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Wir wickeln unsere brutale und rätselhafte Welt in den Schein von Verstehen. Wir übertünchen die Löcher in unserem Verständnis mit Wissenschaft oder Religion und geben vor, dass Ordnung geschaffen wurde. Oft funktioniert diese Illusion. Wir gleiten über Oberflächen, ungeachtet der Tiefen darunter. Wir sind wie Libellen, die über einem meilentiefen See schwirren und kurvenreiche Wege fliegen, ohne Ziel und Sinn. Bis etwas aus den kalten Tiefen kommt und nach uns greift.
Die größten Lügen bewahren wir für uns selbst auf. Wir spielen ein Spiel, in dem wir die Götter sind, in dem wir die Wahl treffen und die Strömung uns folgt. Wir geben vor, von der Wildnis getrennt zu sein. Wir geben vor, dass die Kontrolle des Menschen tief reicht, dass die Zivilisation mehr ist als nur ein dünner Anstrich auf der Barbarei und uns die Vernunft an dunklen Orten begleitet.
Ich habe diese Lektionen in meinem zehnten Lebensjahr gelernt, und nur wenig von ihnen blieb bei mir. Corion brauchte nur wenige Momente, um mich zu verändern, einige Sekunden, in denen mein Wille flackerte wie eine Kerzenflamme im Wind und dann erlosch.
Neben dem Nubier lag ich reglos auf der Treppe. Nur meine Augen bewegten sich, und ihr Blick folgte dem alten Mann. In einem anderen Licht hätte er vielleicht freundlich gewirkt. Etwas an ihm erinnerte mich an Lehrer Lundist, obwohl er hagerer war und irgendwie hungrig wirkte. Der Schrecken lag nicht in seinem Gesicht, nicht einmal in den Augen, nur in dem Wissen, dass dies alles eine Haut war, die sich über der Leere der Welt spannte.
Sein Anblick – nur ein alter Mann in einem schmutzigen Gewand – erfüllte mich mit jener Art von Furcht, die Scham aus der Erinnerung löscht. Die Furcht des Kaninchens, wenn der Adler zuschlägt. Die Furcht, die ein Nichts aus einem macht. Die Furcht, die dazu führt, dass man Mutter, Bruder und alles und jeden opfert, nur für eine Möglichkeit der Flucht.
Corion schlurfte näher, bückte sich und nahm mein Handgelenk. Von einem Augenblick zum anderen verschwand das Entsetzen, das mich entmannt hatte – die Berührung wischte es fort. Der Fluss des Schreckens hörte auf, als hätte Corion den Zapfhahn zugedreht, und ohne ein Wort zog er mich in seinen Raum. Ich fühlte, wie die Steinplatten über meine Wange strichen.
Der Raum enthielt nichts, abgesehen von der Armbrust des Nubiers, die an der gegenüberliegenden Wand lehnte. Ich stellte mir Corion in diesem leeren Zimmer vor, wie er hier sein altes Fleisch zurückließ und in die Ewigkeit schaute.
»Sageous’ Jäger hat also schließlich etwas gefunden, in dem mehr Biss steckt als in ihm, wie?«
Ich versuchte zu sprechen, aber meine Lippen zuckten nicht einmal. Corion wusste vom Traumhexer und seinem Jäger. Er hatte mich »Prinz der Dornen« genannt. Was wusste er sonst noch?
»Ich weiß alles, Kind. Die Dinge, die du weißt, die Geheimnisse, die du bewahrst. Ich kenne selbst die Geheimnisse, die du vergessen hast.«
Er konnte meine Gedanken lesen!
»Ich lese in deinem Geist wie in einem offenen Buch.« Corion nickte. Mit dem Stiefel drehte er meinen Kopf, damit ich wieder die Armbrust des Nubiers sehen konnte.
»Du faszinierst mich, Honorous Jorg Ankrath«, sagte er und trat neben die Waffe. »Du fragst dich, warum jemand mit solcher Macht nicht als Kaiser über alle Länder herrscht.«
Das fragte ich mich tatsächlich.
»Es kann nur eins der Hundert sein. Nationen folgen keinen Ungeheuern wie mir. Sie folgen einer Abstammungslinie, göttlichem Recht, den Nachkommen von Königen. Wir, die wir unsere Macht von Orten nehmen, die andere fürchten … Wir spielen das Spiel der Throne, mit Figuren wie Graf Renar, mit Figuren wie deinem Vater. Und vielleicht mit Figuren wie dir.«
Er streckte die Hand aus und berührte die Armbrust. Die Luft um sie herum flirrte, als hätte sich die Tür eines Ofens geöffnet.
»Ja, die Vorstellung gefällt mir. Soll Sageous König Olidan haben. Soll er daran arbeiten, deinen Vater seinem Willen zu unterwerfen. Ich habe dafür seinen erstgeborenen Sohn.«
Die Furcht war so tief gesunken, dass sie meinen Zorn aufsteigen ließ. Ich stellte mir vor, wie der Alte durch eine Klinge starb, mit meiner Hand am Heft.
»Soll die Welt dich härten, und wenn du alles überstehst, kehrt der verlorene Sohn heim, eine giftige Schlange an der Brust seines Vaters. Bauer schlägt König.« Corion ahmte einen Zug auf dem Schachbrett nach. »Es könnte etwas aus dir werden, Dornenprinz. Eine Figur, um das Spiel zu gewinnen.«
Corion nahm die Armbrust so mühelos, als wöge sie überhaupt nichts. Er hob sie an die Lippen und flüsterte ein Wort, so leise, dass ich es nicht verstand. Fünf Schritte brachten ihn zur Tür, und er legte die Armbrust neben dem Nubier auf die Treppenstufen. »Und eine schwarze Figur, um meinen Bauern zu schützen.«
»Und du, mein Junge …«, fügte er hinzu. »Du wirst den Grafen Renar vergessen.«
Den Teufel werde ich.
»Richte deinen Zorn wohin auch immer. Teile ihn mit der Welt, vergieß Blut, aber kehre nicht in dieses Land zurück. Setze deinen Fuß nicht auf diese Wege. Deine Gedanken werden hier nicht wandeln.«
Ich konnte Corion nur anstarren. Er kam näher, ging neben mir in die Hocke und nahm meinen Kragen, zog mein Gesicht dem seinen entgegen. Ich sah ihm in die leeren Augen und fühlte das Entsetzen aufsteigen, eine Flut, die mich fort tragen würde. Schlimmer noch, ich fühlte seine Finger kalt in meinem Schädel, wie sie Erinnerungen auslöschten und Absichten drehten.
»Vergiss Renar. Bring deinen Zorn anderen Teilen der Welt.«
Renar wird sterben. »Durch … meine … Hand …« Irgendwo formten meine Lippen die Worte.
Aber Corion hatte mir bereits die Entschlossenheit genommen. Ich konnte nicht länger sagen, wie ich den Turm erreichen sollte; selbst seinen Namen kannte ich nicht mehr.
Der alte Mann lächelte, beugte sich vor und flüsterte mir ins Ohr. Ich erinnere mich an seinen Atem an meinem Hals, an den Geruch von Fäulnis.
Dann hörte ich seine Worte, und alle Vernunft verließ mich.
Würmer wanden sich hinter meinen Augen. Nichts blieb von Corion in meinen Gedanken, nur ein Loch, das ich nicht betrachten konnte. Renar wurde zu einem Namen ohne Gewicht und mein Hass zu einem Geschenk für alle und jeden.
Ich fiel durch Dunkelheit, betäubt von meinem eigenen Heilen. Unbekannte Hände schlossen sich um meine Kehle, und in der Finsternis fanden meine eigenen Händen einen Hals, an dem sie zudrücken konnten. Der Griff wurde fester, und noch fester. Die Schreie schwanden zu einem Zischen, einem Röcheln, wichen dann Stille. Ich drückte noch immer zu. Meine Hände verwandelten sich in eiserne Haken, spitz wie Dornen. Wenn ich noch fester zugedrückt hätte, wären meine Fingerknochen wie dünne Zweige gebrochen.
Ich fiel durch Dunkelheit, durch Stille, fühlte nur die Hände an meinem Hals und den Hals in meinen Händen, und die Gier nach Luft. Mein Herz schlug laut wie ein Vorschlaghammer.
Ich fiel durch Jahre. Durch mein Leben bin ich gefallen.
Schließlich prallte ich auf und öffnete die Augen. Ich lag auf einem steinernen Boden. Ein violettes Gesicht starrte mich an, mit aus den Höhlen tretenden Augen, die Zunge aus dem Mund gestreckt. Tageslicht kam durch ein hohes Fenster. Das Herz hämmerte in meiner Brust, als wollte es sie verlassen. Alles tat weh. Ich sah Hände am Hals unter jenem Gesicht. Meine Hände. Mit großer Mühe nahm ich sie von dem Hals. Die weißen Finger gehorchten mir nur widerwillig.
Das Gesicht kannte ich nicht. Eine Frau?
Die Welt wich fort, der Schmerz schrumpfte.
Renar … Der Name stieg in mir auf, und mit ihm ein Flüstern von Kraft. Die Hände, die die fremden Finger von meinem Hals lösten, fühlten sich nicht wie meine an. Renar! Der erste Atem pfiff in mir, wie durch ein Schilfrohr gesogen.
Luft! Ich brauchte Luft. Ich würgte, aber nichts kam aus dem leeren Magen. Mühsam schnappte ich nach Luft, durch eine Kehle, die zu eng geworden war.
Renar.
Das violette Gesicht gehörte einer Frau mit grauem Haar. Ich verstand nicht.
Renar. Und Corion.
Oh, Jesu! Ich erinnerte mich. Ich erinnerte mich an den Schrecken, doch er brannte bleich und blass im Vergleich mit dem kalten Zorn, der jetzt in mir wühlte.
»Corion.« Zum ersten Mal in den vier Jahren seit jenem Abend im Turm sprach ich seinen Namen. Ich erinnerte mich. Ich wusste, was er mir genommen hatte, und zum ersten Mal seit Ewigkeiten fühlte ich mich ganz.
Ich fand die Kraft, mich mit den Armen hochzustemmen.
Ich lag in einem Raum in einer Burg. Neben einem Bett … Ich war aus dem Bett gefallen. Während eine alte Frau versucht hatte, mich zu erdrosseln.
Die Tür erzitterte. Jemand zerrte an der Klinke. »Hanna! Hanna!« Die Stimme einer Frau.
Irgendwie stand ich auf, wankte zur Tür und öffnete sie.
»Katherine.« Meine Stimme entkam als Quieken einer schmerzenden Kehle.
Dort stand sie. Schön und bestürzt. Der Mund halb offen, die grünen Augen groß.
»Katherine.« Ich brachte nur ihren Namen hervor, als ein Flüstern, obwohl ich rufen wollte. Schreien wollte ich, viele Dinge gleichzeitig.
Ich verstand. Ich verstand das Spiel. Ich verstand die Spieler. Ich wusste, was es zu tun galt.
»Mörder!«, stieß Katherine hervor. Sie holte ein Messer hervor, mit langer, spitzer Klinge. »Dein Vater wusste es am besten.«
Ich wollte ihr erklären, was geschehen war, brachte aber keinen Ton hervor. Ich versuchte, die Arme zu heben, doch mir fehlte die Kraft.
»Ich bringe zu Ende, was er begonnen hat«, sagte Katherine.
Und ich konnte nur ihre Schönheit bewundern.