Horcht. Die Bäume in dieser Geschichte regen sich, sie recken, sie strecken sich im Wind. In Böen weht die Brise vom Meer, und fast möchte man meinen, die rast- und ruhelosen Bäume ahnten, dass etwas geschehen wird.
Der Garten ist verlassen, die Terrasse leer bis auf ein paar Töpfe mit vom Wind zerzausten Geranien und Rittersporn. Auf dem Rasen steht eine Bank, davor zwei Stühle, dezent von ihr abgewandt. Am Haus lehnt ein Fahrrad, die Pedale ruhen, die geölte Kette dreht sich nicht. Ein Säugling liegt im Kinderwagen, zum Schlafen nach draußen geschoben, fest eingehüllt in einen Deckenkokon, die Augen brav geschlossen. Am Himmel darüber segelt eine Möwe, stumm auch sie, mit ausgebreiteten Flügeln, um sich vom Aufwind emportragen zu lassen.
Das Haus liegt abseits vom Dorf, hinter dichten Hecken, an der Kante eines Steilfelsens. Hier verläuft die Grenze zwischen Devon und Cornwall, wo sich die beiden Grafschaften argwöhnisch belauern. Es war schon immer ein umkämpfter Landstrich. Würde man zu lange auf den Boden blicken, sähe man, dass er durchtränkt ist mit dem Blut von Kelten, Angelsachsen und Römern, gesättigt vom Schutt ihrer Gebeine.
Doch unsere Geschichte spielt in friedlicheren Zeiten: Es ist Spätsommer, Mitte der 1950er Jahre. Ein gewundener Kiesweg führt zum Haus. Auf der Wäscheleine flattern Petticoats und Unterhemden, Socken und Hüfthalter, Windeln und Taschentücher klatschend in der Brise. Irgendwo läuft ein Radio; dumpf dröhnen die Schläge einer Axt.
Der Garten wartet. Die Bäume warten. Die Möwe, die über der Wäsche am Himmel steht, wartet. Und als wäre das Ganze eine Bühne, als gäbe es ein Publikum, das still davor im dunklen Zuschauerraum sitzt, ertönen plötzlich Stimmen. Geräusche aus der Kulisse. Jemand keift, jemand brüllt, etwas Schweres fällt zu Boden. Die Hintertür fliegt auf. »Ich bin es leid! Hörst du? Ich bin es so was von leid!« Die Tür knallt wieder zu, eine Frau erscheint.
Sie ist noch keine zweiundzwanzig. Sie trägt ein blaues Baumwollkleid mit roten Knöpfen, ihr Haar ist mit einem gelben Tuch nach hinten gebunden. Mit einem Buch in der Hand stürmt sie über die Terrasse. Barfuß stapft sie die Treppe hinunter und weiter über den Rasen. Sie sieht die Möwe nicht, die sich in der Luft nach ihr umgedreht hat, nicht die Bäume, die mit zitternden Ästen ihr Kommen ankündigen, nicht einmal den Kinderwagen, an dem sie achtlos vorbeirauscht.
Am Ende des Gartens setzt sie sich auf einen Baumstumpf, und um ihre Wut zu dämpfen, legt sie sich das Buch auf den Schoß und fängt an zu lesen. Tod, sei nicht stolz, beginnt das Gedicht, hast keinen Grund dazu. Bist gar nicht mächtig stark, wie mancher spricht.
Gebannt beugt sie sich über die Seite, seufzt ein paarmal, dehnt die Schultern. Dann wirft sie das Buch jäh schnaubend von sich. Mit dumpfem Knall landet es auf der Erde, die Seiten blättern zu. Da liegt es nun, mitten im Gras.
Sie steht auf. Aber nicht so wie jeder andere Mensch, allmählich von der sitzenden in die aufrechte Haltung übergehend. Sie schießt vielmehr hoch, hält kurz inne und stampft dann mit dem Fuß auf wie Rumpelstilzchen. Als ob sie sich am liebsten zerreißen wollte.
Erst jetzt bemerkt sie den Bauern, der eine kleine Schafherde am Garten vorbeitreibt, in der Hand eine Gerte. Ein Hund springt um ihn herum. Die Schafe verkörpern alles, was sie an ihrem Zuhause hasst: ihre zerlumpten, verdreckten Hinterteile, die stumpfe Blödheit in ihren Gesichtern, das sinnlose Blöken. Am liebsten würde sie das ganze Pack in eine Dreschmaschine jagen oder über den Steilfelsen, nur um sie aus ihrem Blickfeld verschwinden zu lassen.
Sie wendet sich ab, weg von den Schafen, weg vom Haus. So dass sie nur noch das Meer vor sich hat. Seit einiger Zeit schon quält sie die schleichende Angst, ihr sehnlichster Wunsch - dass ihr Leben endlich beginnen möge, dass es einen Sinn bekommen und sich all das verwaschene Schwarzweiß in ein Meer herrlicher Farben verwandeln würde - könnte unerfüllt bleiben. Sie befürchtet, den richtigen Moment zu verpassen, die Gelegenheit vielleicht nicht zu erkennen, wenn sie sich ihr böte.
Sie hat die Augen geschlossen, das Meer und das ins Gras geworfene Buch ausgeblendet, als sie das Tapsen von Schritten hört und eine Stimme »Sandra?« ruft.
Als hätte sie ein elektrischer Schlag getroffen, fährt sie hoch.
»Alexandra!«, korrigiert sie. Das ist der Name, den sie von Geburt an getragen hat, bis er ihrer Mutter eines Tages nicht mehr gefiel und sie nur noch die verstümmelte Form benutzte.
»Alexandra«, wiederholt das Kind gehorsam. »Mutter will wissen, was du hier machst. Du sollst reinkommen und …«
»Geh weg!«, schreit Alexandra. »Lass mich in Ruhe!« Wütend pflanzt sie sich mit ihrem Buch wieder auf den Baumstumpf, um weiter dem Tod und seinem sinnlosen Stolz auf den Grund zu gehen.
In ebendiesem Moment kniet keinen Kilometer entfernt Innes Kent - vierunddreißig, Kunsthändler, Journalist, Kritiker, bekennender Hedonist - vor seinem Auto im Dreck und inspiziert den Unterboden. Er hat zwar keine Ahnung, was er dort zu finden hofft, aber nachsehen muss er trotzdem. Er ist ein unverbesserlicher Optimist. Und es gibt fast nichts auf der Welt, was Innes mehr liebt als diesen Wagen, einen MG in Silber und Eisblau, der auf der Landstraße gerade schnaufend den Geist aufgegeben hat. Er steht auf. Und tut das, was er meistens tut, wenn ihn etwas f rustriert: sich eine Zigarette anzünden. Er versetzt dem Rad versuchsweise einen Fußtritt und bedauert es sogleich.
Innes ist auf dem Rückweg von Saint Ives, von einem Atelierbesuch bei einem Maler, dem er ein Gemälde hatte abkaufen wollen. Doch der Maler war betrunken, das Bild längst nicht vollendet. Der ganze Trip ist bislang ein kompletter Reinfall gewesen. Und nun auch noch diese Panne. Er tritt die Zigarette aus und stapft los, die Landstraße hinunter. Vor ihm taucht eine Ansammlung von Häusern auf, eine Hafenmauer, die sich in weitem Bogen ins Meer hinausschwingt. Dort müsste man ihm sagen können, wo die nächste Werkstatt ist, falls es denn überhaupt eine gibt, in dieser gottverlassenen Gegend.
Alexandra weiß nicht, wie nah Innes Kent ihr ist. Sie kann es nicht wissen. Sie ahnt nicht, dass er kommt, näher und näher mit jeder Sekunde, dass er in seinen handgenähten Schuhen die Distanz zwischen ihnen eleganten Schrittes überwindet. Bald, bald fängt das an, was sie ihr Leben nennen wird, aber noch ist sie in ihr Buch vertieft, in das Ringen eines schon vor langer Zeit Verblichenen mit der Sterblichkeit.
Als Innes Kent in ihre Straße einbiegt, hebt Alexandra den Kopf. Sie legt das Buch wieder auf die Erde, aber behutsam diesmal, hebt die Arme über den Kopf und dehnt sich. Sie zwirbelt eine Haarsträhne zwischen Daumen und Zeigefinger, nimmt ein Gänseblümchen zwischen die Zehen und rupft es aus - auf ihre biegsamen Gelenke war sie schon immer stolz. Sie rupft und rupft, bis zwischen allen Zehen das gelbe Auge eines Gänseblümchens leuchtet, acht an der Zahl.
Innes bleibt neben einer dichten Hecke stehen und späht durch eine Lücke im Geäst. Ein schmuckes Landhaus mit Büschen, Rasen, Blumen und anderem Grünzeug - anscheinend wohl ein Garten. Nur wenige Schritte entfernt sitzt eine Frau unter einem Baum. Und für Frauen hat Innes schon immer eine Schwäche gehabt.
Dieses Exemplar der Gattung trägt keine Schuhe und hat das Haar mit einem gelben Tuch zurückgebunden. Er stellt sich auf die Zehenspitzen. Was für ein hinreißender Hals. Müsste er ihn beschreiben, kämen ihm Wörter wie »statuesk« und womöglich gar »Alabaster« in den Sinn, die er nie leichtfertig in den Mund nehmen würde. Innes hat einen künstlerischen Hintergrund. Obwohl »Vordergrund« vielleicht der treffendere Begriff wäre. Die Kunst ist für Innes nichts, was im Hintergrund steht. Sie ist, was er atmet, was das Leben vorantreibt. Er sieht keinen Baum, kein Auto, keine Straße, er sieht ein potenzielles Stillleben, ein Zusammenspiel von Licht, Schatten und Farbe, eine absichtsvolle Anordnung ausgewählter Objekte.
Und Alexandra mit dem gelben Tuch und dem blauen Kleid ist für ihn eine Szene aus einem Fresko, eine vollkommene ländliche Madonna samt schlummerndem Kinde. Er kneift erst das eine, dann das andere Auge zusammen. Wahrhaftig, eine wunderbare Komposition, die Baumkrone als Kontrapunkt zum flachen Rasen und den vertikalen Linien der Frau und ihres Halses. Das ideale Motiv für einen italienischen Meister wie Pierro della Francesca oder Andrea del Sarto. Und sie kann sogar mit den Zehen Blumen pflücken! Was für ein Geschöpf!
Während Innes noch leise lächelnd in die Betrachtung dieses Bildes versunken ist, zerspringt es plötzlich in tausend Stücke, als die Madonna mit klarer Stimme sagt: »Wissen Sie nicht, dass es sich nicht gehört, andere Leute heimlich zu beobachten?«
Er ist so verdattert, dass es ihm kurzzeitig die Sprache verschlägt (was ihm sonst nicht eben oft passiert). Die Frau erhebt sich von ihrem Baumstumpf, und die Madonna von della Francesca verwandelt sich vor seinen faszinierten Augen in eine Version von Marcel Duchamps Akt, eine Treppe herabsteigend. Was für ein Anblick! Wie sie von der erhöhten Rasenfläche herunterkommt, löst sie die gleiche Wirkung aus wie der Duchamp! Sie scheint Zornesblitze zu versprühen.
Innes beschäftigt sich seit einiger Zeit so intensiv mit den Dadaisten, dass er vor zwei Nächten sogar einen ganzen Traum in einem ihrer Gemälde zugebracht hat. »Mein zweitbester Traum«, wie er findet. (Den Allerbesten kann man nicht erzählen, dafür ist er zu eindeutig.)
»Außerdem«, sagt die Madonna und baut sich, das Kinn vorgereckt, die Hände in die Hüften gestemmt, wie ein Gladiator vor ihm auf, so dass er froh ist, dass sie die Hecke zwischen sich haben, »ist es verboten. Es wäre mein gutes Recht, die Polizei zu rufen.«
»Entschuldigung«, stammelt er. »Mein Auto. Eine Panne. Ich suche eine Werkstatt.«
»Und sieht das hier etwa nach einer Werkstatt aus?« Ihre Stimme ist nicht f reundlich und sanft, wie er es hier auf dem Land erwartet hätte, sondern diamantscharf.
»Hm. Nein. Allerdings nicht.«
»Also dann. Auf Wiedersehen.«
Alexandra bekommt den Voyeur zum ersten Mal richtig zu Gesicht. Er trägt die Haare um einiges länger als jeder andere Mann, den sie kennt. Sein Hemd hat einen ungewöhnlich hohen Kragen und ist osterglockengelb. Der Anzug ist aus hellgrauem Cord und hat überhaupt keinen Kragen; die Krawatte hat die Farbe von Enteneiern. Alexandra geht noch zwei Schritte näher. Osterglocken, wiederholt sie im Stillen, Enteneier.
»Ich hab Sie nicht beobachtet«, widerspricht der Mann. »Das müssen Sie mir glauben. Ich brauche Hilfe. Ich stecke ziemlich in Schwulitäten. Mein Wagen ist liegen geblieben. Wüssten Sie vielleicht eine Werkstatt in der Nähe? Ich will Sie nicht von Ihrem Kind wegreißen, aber ich muss stante pede zurück nach London. Ich habe einen Drucklegungstermin. Ein Alptraum jagt den nächsten. Helfen Sie mir, und ich bin Ihr dankbarer Sklave.«
Sie blinzelt. Noch nie hat sie jemanden so reden hören. Schwulitäten, stante pede, Drucklegungstermin, ein Alptraum jagt den nächsten, dankbarer Sklave. Am liebsten würde sie ihn bitten, alles noch einmal zu wiederholen. Doch dann dringen einige seiner Worte zu ihr durch.
»Das ist nicht mein Kind«, blafft sie. »Damit hab ich nichts zu tun. Es gehört meiner Mutter.«
»Aha.« Der Mann legt den Kopf auf die Seite. »Dann hätten Sie ja doch etwas mit ihm zu tun.«
»Inwiefern?«
»Nun ja. Sie sind immerhin seine Schwester.«
Es entsteht eine kurze Pause. Alexandra kann nicht anders, als noch einmal seinen Aufzug unter die Lupe zu nehmen. Dieses Hemd, die Krawatte. Osterglocken und Enteneier. »Dann kommen Sie also aus London?«, fragt sie.
»In der Tat.«
Umständlich zupft sie ihr Tuch zurecht. Während sie sein Stoppelkinn mustert und sich fragt, warum er sich wohl nicht rasiert hat, nimmt aus unerfindlichen Gründen in ihren Gedanken ein unausgegorener Plan auf einmal konkrete Formen an. »Ich habe vor, nach London zu ziehen.«
»Was Sie nicht sagen.« Der Mann fängt an, in seinen Taschen zu kramen. Er fördert ein emailliertes grünes Zigarettenetui zutage, nimmt zwei Zigaretten heraus und bietet ihr eine an. Sie muss sich über die Hecke beugen, um heranzukommen.
»Danke«, sagt sie. Die Hände um ein Streichholz gelegt, gibt er ihr Feuer und zündet sich die zweite Zigarette an. Er riecht nach Haaröl, Rasierwasser und etwas anderem. Aber bevor sie es erschnuppern kann, ist er wieder einen Schritt zurückgetreten.
»Danke«, sagt sie noch einmal und zieht an der Zigarette.
Der Mann schüttelt das Streichholz aus und wirft es weg. »Und was hält Sie dann noch hier, wenn man f ragen darf?«
Sie überlegt. »Nichts«, antwortet sie und lacht. Weil es die Wahrheit ist. Ihr steht nichts im Weg. Sie deutet mit dem Kopf zum Haus. »Die wissen noch nichts davon. Und sie sind bestimmt dagegen. Aber sie können mich nicht aufhalten.«
»So ist es richtig.« Der Zigarettenrauch kräuselt sich zwischen seinen Lippen hervor. »Dann wollen Sie also von zu Hause weglaufen?«
»Nein«, sagt Alexandra und drückt die Schultern durch. »Nicht weglaufen. Ich bin fast zweiundzwanzig. Wenn man erwachsen ist, kann man nicht mehr von zu Hause weglaufen. Vor allem dann nicht, wenn man schon mal woanders gelebt hat. Ich war auf der Uni.« Sie nimmt einen Zug aus der Zigarette und wirft einen Blick auf das Haus, auf den Mann. »Jedenfalls, bis ich geflogen bin …«
»Von der Uni?«, fällt der Mann ihr ins Wort, die Zigarette halb zum Mund geführt.
»Ja.«
»Wie dramatisch. Was haben Sie denn verbrochen?«
»Überhaupt nichts.« Weil sie den ungerechtfertigten Rauswurf noch nicht verwunden hat, fällt ihre Antwort eine Spur zu heftig aus. »Nach einer Prüfung habe ich den Saal durch einen Ausgang verlassen, der Männern vorbehalten ist. Ich kann erst zu Ende studieren, wenn ich mich förmlich dafür entschuldigt habe. Die« - wieder ein Kopfnicken in Richtung Haus - »wollten erst nicht, dass ich überhaupt studiere, und jetzt reden sie nicht mehr mit mir, solange ich nicht zu Kreuze krieche.«
Der Mann betrachtet sie, als ob er sie sich einprägen will. Die Nähte seines Hemds sind mit blauer Seide gesteppt, an den Manschetten und am Kragen. »Und haben Sie die Absicht, sich förmlich zu entschuldigen?«
Sie schnippt die Asche von ihrer Zigarette und schüttelt den Kopf. »Das sehe ich gar nicht ein. Ich wusste ja noch nicht mal, dass der Ausgang nur für Männer war. Es war kein Schild dran. Und als ich gefragt habe, wo denn der Ausgang nur für Frauen ist, hieß es, so einen gibt es nicht. Und dann soll ich mich in aller Form entschuldigen?«
»Sie haben völlig recht. Man soll sich nur für das entschuldigen, was einem auch leidtut.« Sie ziehen ein paarmal an ihren Zigaretten, ohne sich anzusehen. »Und was wollen Sie in London machen?«, fragt er schließlich.
»Arbeiten natürlich. Aber wer weiß, ob ich überhaupt eine Stelle finde.« Plötzlich klingt sie niedergeschlagen. »Ich habe gehört, man muss als Schreibkraft sechzig Wörter in der Minute tippen können. Momentan schaffe ich ungefähr drei.«
Er lacht. »Und wo werden Sie wohnen?«
»Sie stellen aber ganz schön viele Fragen.«
»Die Macht der Gewohnheit.« Er zuckt lässig mit den Schultern. »Ich bin Journalist, unter anderem. Also. Wo wollen Sie unterkommen?«
»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das verraten sollte.«
»Was ist denn schon dabei? Ich werde es auch keiner Menschenseele weitersagen. Bei mir sind Geheimnisse gut aufgehoben.«
Sie wirft die Zigarettenkippe in die grünen, sich eben erst entfaltenden Blätter der Hecke. »Eine Freundin hat mir die Adresse einer Pension für unverheiratete Frauen in Kentish Town gegeben. Sie hat gesagt …«
Ein Anflug von Belustigung huscht über seine Züge. »Eine Ledigenpension?«
»Ja. Was ist denn daran so komisch?«
»Nichts. Ganz und gar nichts. Das ist« - er macht eine Geste - »fantastisch. Kentish Town. Dann sind wir praktisch Nachbarn. Ich wohne in Haverstock Hill. Kommen Sie mich doch mal besuchen, wenn Sie Ausgang bekommen.«
Alexandra zieht die Augenbrauen hoch und tut so, als ob sie darüber nachdenkt. Sie will es diesem Mann nicht allzu leicht machen. Offensichtlich ist er es gewohnt, seinen Kopf durchzusetzen. Sie hat das Gefühl, er könnte ein bisschen Kontra vertragen. »Unter Umständen, ich weiß nicht. Vielleicht …«
Leider betritt genau in diesem Augenblick Alexandras Mutter Dorothy die Szene. Ein Signal auf ihrem mütterlichen Radarschirm hat ihr verraten, dass sich ein männliches Raubtier an ihre älteste Tochter herangepirscht hat.
»Kann ich Ihnen helfen?«, ruft sie in einem Ton, der ihr freundliches Angebot Lügen straft.
Alexandra fährt zu ihrer Mutter herum, die, ein Babyfläschchen wie eine Pistole in der Hand, über den Rasen marschiert kommt. Dorothy mustert den Mann von oben bis unten, angefangen bei den hellgrauen Schuhen bis hin zu dem kragenlosen Anzug, und verzieht säuerlich den Mund. Offenbar gefällt ihr nicht, was sie sieht.
Der Mann schenkt Dorothy ein strahlendes Lächeln; seine sonnengebräunte Gesichtshaut lässt seine Zähne noch weißer erscheinen. »Vielen Dank, aber diese Lady«, er deutet auf Alexandra, »ist mir bereits behilflich.«
»Meine Tochter hat heute Morgen sehr viel zu tun. Wolltest du nicht auf das Baby aufpassen, Sandra? Also, was können wir für Sie …«
»Alexandra!«, schreit Alexandra. »Ich heiße Alexandra!« Ihr ist klar, dass sie sich wie ein trotziges Kind aufführt, aber dieser Mann darf einfach nicht denken, dass sie Sandra heißt.
Doch es gibt zwei Dinge, auf die sich ihre Mutter besonders gut versteht: die Wutanfälle ihrer Tochter zu ignorieren und Leute auszuforschen. Kaum hat sie die Geschichte von der Autopanne gehört, da hat sie den Mann auch schon mit einer Wegbeschreibung zur nächsten Werkstatt weitergeschickt. Er dreht sich noch einmal um, hebt die Hand und winkt.
Während sich seine Schritte in Richtung Dorf entfernen, überkommt Alexandra ein Gefühl, das an Rage grenzt - oder an bittere Verzweiflung. Einem Menschen wie ihm so nahe zu sein und ihn dann gleich wieder zu verlieren! Sie tritt gegen den Baumstumpf, gegen das Rad des Kinderwagens. Es ist eine besondere Art von Zorn, wie ihn nur junge Menschen kennen, das erstickende, bedrückende Gefühl, von den Älteren ausmanövriert zu werden.
»Was denkst du dir eigentlich?«, faucht Dorothy, während sie den Wagen schaukelt, um das quäkende und strampelnde Kind wieder zu beruhigen. »Ich komme aus dem Haus, und was muss ich sehen? Dass du über die Hecke mit einem - einem Zigeuner flirtest. Am helllichten Tag! In aller Öffentlichkeit. Hast du jedes Gefühl für Sitte und Anstand verloren? Was bist du nur für ein Vorbild für deine Geschwister?«
»Apropos Geschwister.« Alexandra legt eine Kunstpause ein. »Oder soll ich lieber sagen Geschwisterschar? Wie ist denn so was mit Sitte und Anstand vereinbar?« Sie lässt ihre Mutter stehen. Sie hält es keine Sekunde länger mit ihr aus.
Dorothy lässt den Kinderwagengriff los und starrt mit offenem Mund hinter ihr her. »Was soll das heißen?«, schreit sie. In diesem Augenblick sind ihr sogar die Nachbarn egal. »Was unterstehst du dich? Was fällt dir ein, so mit mir zu reden? Das sage ich deinem Vater, verlass dich darauf. Sobald er …«
»Sag es ihm ruhig. Tu dir keinen Zwang an!«, schleudert Alexandra über ihre Schulter gewandt zurück, während sie durch den Garten läuft und unter lautem Gepolter ins Haus stürmt, vorbei an einer erschrockenen Patientin ihres Vaters, die im Flur wartet.
Noch im Kinderzimmer, das sie sich mit drei jüngeren Geschwistern teilen muss, kann sie die kreischende Stimme ihrer Mutter hören: »Bin ich denn die Einzige in diesem Haus, die weiß, was sich gehört? Du kannst dich doch nicht einfach so davonstehlen. Du solltest mir heute helfen. Du solltest auf das Baby aufpassen. Das Silber muss geputzt werden, und das Porzellan. Was meinst du, wer das jetzt erledigt? Die Heinzelmännchen?«