Erinnerst du dich?«, fragt Elina. Ted
starrt unverwandt auf den Fernseher. Noch nie hat es drei Worte
gegeben, die ihn mehr mit Unbehagen erfüllen. »Wo war das noch mal,
wo es eine Dusche gab, die …« Sie muss so heftig gähnen, dass ihr
Kiefer knackt und ihr die Tränen in die Augen steigen. »… die aus
einem …« Ihre Stimme ist schläf rig und so undeutlich, als ob sie
jeden Moment ganz wegdriften könnte. »… einem Wasserschlauch
gemacht war?«
»Aus einem Wasserschlauch?«, wiederholt er
ratlos.
»Hmm. Und da gab’s auch ein … na, du weißt schon.«
Mit einem weiteren Gähnen sackt sie gegen ihn, zusammengeklappt wie
ein Liegestuhl. »Wie heißt das noch gleich?«
»Äh. Keine Ahnung.«
»Eine Seifenschale«, murmelt sie mit geschlossenen
Augen. »Aus einer Konservendose.«
Ted überlegt. Er glaubt nicht, dass er schon einmal
irgendwo war, wo es eine Wasserschlauchdusche gab. Wo haben sie
überhaupt schon zusammen Urlaub gemacht? In Rom? Oder war das mit
Yvette? Rom: Elina oder Yvette. Oder Yvettes Vorgängerin, die
Blondine? Wie hieß sie noch? In Rom war er mit Yvette - ihm fällt
wieder ein, dass sie auf dem Campo dei Fiori einen Koller hatte,
wegen ihrer Sonnencreme. Er ist erleichtert, dass er nicht
Rom gesagt hat, dass er es in letzter Sekunde für sich
behalten hat.
Er war mal mit Elina in Norfolk, in einem Hotel in einem
Leuchtturm, aber da muss es doch bestimmt eine richtige Dusche
gegeben haben.
»… draußen war eine Ziege«, murmelt sie, »mit einem
Ziegenbaby - wie sagt man richtig? -, und das war strahlend weiß.
Erinnerst du dich? Du hast gesagt, es war das Sauberste, was wir in
dem ganzen Urlaub gesehen haben.«
Und da fällt es ihm wieder ein. Auf einmal hat er
das Bild im Kopf, so deutlich wie die Bilder auf seinen Monitoren
im Schneideraum. Ein winziges, staksiges Zicklein mit unglaublich
weißem Fell und bonbonrosa Lippen. »In Indien?«, sagt er.
»Hmm.« Sie nickt, den Kopf in seinem Schoß.
»Kerala.« Er schlägt mit der Faust auf die Armlehne
des Sofas, so glücklich ist er, weil die Erinnerungen plötzlich
regelrecht auf ihn einstürmen: Elina vor einem Gewürzladen, eine
Wanderung durch einen Eukalpytuswald, das neugeborene weiße
Zicklein, an dem sie jeden Morgen vorbeikamen, das angepflockte
Muttertier, das helle Meckern, die Nachtfahrt mit dem Zug, während
der er dauernd aufwachte, weil irgendwelche Leute im Gang auf und
ab polterten, das Summen der blauen Lampe. »Kerala«, sagt er noch
einmal. »Ja. Haben wir nicht irgendwo noch Fotos davon? Ich bin mir
sicher, dass ich welche geknipst habe. Soll ich sie suchen?«
Er bekommt keine Antwort. Sie ist eingedöst, die
Hand zwischen ihrer Wange und seinem Oberschenkel, die Lippen
leicht geöffnet. Er kommt sich ausgebremst vor. Da ruft sie erst
die Erinnerungen an ihre Indienreise in ihm wach, und dann lässt
sie ihn nicht darin kramen. Es kommt selten genug vor, dass er zu
solchen Gesprächen etwas beitragen kann, und wenn es dann doch
einmal passiert, schläft sie
einfach ein. Ihn überkommt der Drang, laut »Kerala« zu sagen oder
etwas ruckartiger als unbedingt nötig sein Gewicht zu verlagern,
nur um zu sehen, ob sie aufwacht, um sich seine Erinnerungen an
Indien anzuhören, doch sofort schämt er sich dafür. Natürlich darf
er sie nicht wecken. Was ist er für ein Mensch, dass er an so etwas
auch nur denken kann?
Er lässt behutsam die Hand neben sie sinken, auf
die grüne Wolle ihrer Strickjacke, greift hinter sich nach der
Sofadecke und breitet sie über sie. Ganz leicht flackert der Puls
in ihrem Hals, und er stellt sich vor, wie sich tief unter der Haut
die Arterie weitet und verengt, weitet und wieder verengt, während
das warme, dicke Blut aus dem Herzen im Dreiviertelsekundentakt
stoßweise in sie hineinschießt.
Er betrachtet das Delta aus Adern an ihrem
Handgelenk, die zartvioletten Muster auf ihren Augenlidern, den
Hauch von Blau, der durch ihre Wange schimmert, das Netz aus
Blutgefäßen auf ihrem Spann. Zum ersten Mal fragt er sich, ob sie
das Blut eines einzelnen Menschen oder das Blut vieler in sie
hineingepumpt haben, um sie wiederzubeleben. Und ob sie noch sie
selbst ist, wenn das Blut, das durch ihren Körper strömt, nicht ihr
eigenes ist. Ab wann wird man ein anderer?
Am liebsten würde er das Geschehene vergessen, wie
er so vieles andere auch vergisst. Am liebsten einen Lappen nehmen
und es wegwischen. Eine Blende oder eine Jalousie davor
herunterziehen und nicht bei jedem Blick, den er auf Elina wirft,
sehen müssen, wie dünn ihre Haut ist, wie unerträglich fein ihre
Adern, wie leicht zu durchstechen. Doch vor allem wünscht er sich,
dass es nie passiert wäre. Dass sie noch schwanger hier neben ihm
sitzen würde mit dem Baby im Bauch und unversehrt, dass kein Arzt
sie aufgeschnitten hätte und ihr Leben fast verronnen wäre.
Ted schluckt ein paarmal. Er räuspert sich, dehnt
die Schultern, lockert seinen steif gewordenen Hals. Und wieder
schiebt sich langsam das flache, endlose Meer in sein Gesichtsfeld,
schaukelnde Wellenbewegungen, von denen ihm übel wird. Er greift
zur Fernbedienung und schaltet um, einmal, zweimal, dreimal,
viermal. Ein Quiz, ein Werbespot, eine Frau in einem Garten, ein
Mann mit einer Pistole, ein Löwe, der im hohen Gras kauert. Ted
wirft die Fernbedienung auf den Tisch.
Er hat schon immer ein schlechtes Gedächtnis
gehabt. Schlecht ist gar kein Ausdruck. Große Teile seines Lebens
sind wie von einem trüben Dunst verschluckt. Ted ist sich ziemlich
sicher, dass er sich an nichts erinnern kann, was vor seinem
neunten Lebensjahr passiert ist, als er im Garten eines Freundes
vom Baum gefallen ist und sich den Arm gebrochen hat. Er erinnert
sich, dass der Vater des Freundes mit ihm in die Notaufnahme fuhr
und sich der Gipsverband kühl und zugleich heiß anfühlte; er weiß
noch, dass die Krankenschwester ihm das Wort »Gypsophila«
beigebracht hat und wie peinlich es ihm war, dass seine Mutter mit
wehendem Mantel durch die Notaufnahme gerannt kam und »Wo ist mein
Sohn?« schrie. Aber alles andere ist bloß ein angenehm undeutliches
Rauschen wie von einem schlecht eingestellten Radio.
Seine Mutter dagegen suhlt sich regelrecht in
Erinnerungen: »Weißt du noch, wie du einmal am Strand auf einem
Esel geritten bist? Da war ein dreibeiniger Hund. Und dir ist dein
Eis aus der Hand gefallen. Weißt du noch, wie du geweint hast? Du
konntest gar nicht mehr aufhören. Wie ich mit dir in die Eisdiele
gegangen bin und dir ein neues gekauft habe? Weißt du noch?« Wenn
sie diese Geschichten ausgräbt, nickt er brav, aber er hat keine
Erinnerungen daran.
Er sieht nur einzelne Bilder, wie Urlaubfotos, die sie ihm vorlegt
und vor seinen Augen so oft durchgemischt hat, dass sie den
Erinnerungen gleichen oder sie sogar verdrängen. Sie hat eine ganze
Sammlung solcher Anekdoten über ihn, und er kennt sie alle: dass
ihm einmal eine Hutschachtel vom Kleiderschrank auf den Kopf
gefallen ist und er dabei eine so üble Schramme auf der Nase
abbekommen hat, dass sich seine Mutter schämte, mit ihm vor die Tür
zu gehen; dass er einmal auf einem Jahrmarkt einen Goldfisch
gewonnen hat, der ihm später auf dem Parkplatz hinfiel, und dass
sie ihren Sohn so lange an sich drückte, bis der Fisch im Staub
nicht mehr zuckte und zappelte; dass er einmal einen Mann mit
Glatze gefragt hat, wo seine ganzen Haare hin wären; dass er einmal
seiner Cousine ein Trostlied gesungen hat, weil sie gestolpert war
und sich das Schienbein aufgeschürft hatte. Vom ständigen
Wiedererzählen sind ihm diese Episoden so vertraut, dass er sie
auswendig kennt. Aber sie scheinen nicht das Geringste mit ihm zu
tun zu haben.
Während seine wiederauferstandene Freundin mit dem
Kopf auf seinem Schoß liegt, während sein neugeborener Sohn auf der
anderen Seite des Zimmers schläft, kommt Ted zum allerersten Mal
der Gedanke, dass er vielleicht deshalb so wenig mit diesen
Geschichten anfangen kann, weil nicht eine einzige davon mit seinen
eigenen verschwommenen Kindheitserinnerungen übereinstimmt. Die
Version seiner Mutter, dieses Karussell aus Belohnungen und Eseln,
Jahrmärkten, Liedern und Sommerferien, passt nicht zu dem, was ihm
selbst im Gedächtnis geblieben ist. Er erinnert sich daran, wie
extrem kalt es bei ihnen zu Hause war, weil nur die unteren Etagen
von einem widerspenstigen, Öl saufenden Ofen im Keller beheizt
wurden. Im Winter waren die verschossenen gelben Vorhänge in seinem
Kinderzimmer
morgens mit Eis beschlagen. Er weiß noch, dass er viel allein war.
Dass er, das einzige Kind in einem Haus voller Erwachsener, an den
nicht enden wollenden Sonntagnachmittagen immer wieder das
Treppengeländer hinuntergerutscht ist. Er erinnert sich an lange,
sinnlose Stunden im Garten, in denen er versucht hat, die
Nachbarskatze von der Mauer zu locken. An immer wieder neue
Aupairmädchen, zu deren Aufgaben es gehörte, ihn zur Schule zu
bringen, mit ihm in den Park zu gehen, in der U-Bahn mit ihm ins
Britische Museum zu fahren, ihm nach der Schule etwas zu essen zu
machen. Besonders gut erinnert er sich an eine Französin - der Name
fällt ihm nicht ein -, die ihm nicht das übliche Marmeladenbrot
vorsetzte, sondern eine Tarte Tatin im Miniaturformat, ganz
für ihn allein. Er weiß noch genau, wie sie das Törtchen aus der
Form auf einen Teller stürzte, mit dem Boden nach oben, wie
krümelig, süß und warm der Teig war, und dazu die karamellisierte
Birne, von der zuckergeschwängerter Dampf aufstieg. Er hat sich so
über die Überraschung gef reut, dass ihm die Tränen gekommen sind,
worauf die Französin ihn an ihren Angorabusen gedrückt hat. Aber
sie hielt es nicht lange bei ihnen aus und wurde von einer
Holländerin abgelöst, die ihm, wenn er sich recht entsinnt,
Roggenknäckebrot zu essen gab.
Wenn Elina von ihrer Kindheit erzählt, vom Zelten
im Wald, von Bootsfahrten zu unbewohnten Inseln, von
weihnachtlichen Schlittschuhtouren zwischen den Schären, von
Kletterpartien aufs Dach, um das Nordlicht zu sehen, kann er nur
staunen. Mehr, würde er sie am liebsten bitten, erzähl mir mehr
davon, aber er tut es nicht, weil er sich nicht revanchieren kann.
Was hätte er schon als Gegenleistung anzubieten im Tausch für eine
Geschichte, in der sie und ihr Bruder mit zehn und acht Jahren von
zu Hause ausgerissen
waren und zwei Tage in einer selbstgebauten Bude im Wald gehaust
hatten, bis ihre Mutter sie wieder zurückholte? Dass er mit seinem
Aupair bei John Lewis neue Schuhe gekauft hat? Was könnte er ihrem
Lagerfeuer entgegensetzen, das so hoch war wie der Gartenschuppen -
und den Schuppen niederbrannte? Oder ihrer rasenden Fahrt mit dem
Schlitten, bei der sie einen steilen Berg hinuntergesaust und erst
auf einem zugef rorenen See wieder zum Stehen gekommen war, wo sie
so lange sitzen blieb, bis sie steif vor Kälte war, weil sie es so
faszinierend fand, wie das Eis die Geräusche verzerrte, dass sie
sich einfach nicht losreißen konnte? Dass sein Vater mit ihm in den
Zoo gegangen ist, dass er dauernd auf die Uhr gesehen und ihn
gefragt hat, ob er nicht etwas essen wolle? Oder dass er sich, wenn
er an seine Kindheit denkt, am besten an das Gefühl erinnert, das
Leben spiele sich anderswo ab, ohne ihn? Sein Vater auf
Dienstreise. Seine Mutter, Briefe schreibend am Rollsekretär -
»Jetzt nicht, Schatz, Mami hat zu tun.« Die Aupairs, die zu ihren
Englischkursen entschwanden, die Frau, die ins Haus kam, um die
Treppenläuferstangen aus Messing zu polieren, und die so spannend
von ihren »Unterleibsgeschichten« zu erzählen wusste.
Ted sieht auf Elina hinunter. Er stopft die Decke
um sie fest. Er sieht hinüber zu dem Korb mit dem schlafenden
Bündel, seinem Sohn. Sein Sohn. Er muss sich an die Wörter
erst noch gewöhnen. Ted wünscht sich Schlittenfahrten für seinen
Jungen und Buden im Wald und Jahrmärkte und Lagerfeuer, die außer
Kontrolle geraten. Er wird mit ihm in den Zoo gehen und nicht ein
einziges Mal auf die Uhr sehen. Er wird lernen, wie man eine
Tarte Tatin backt, und ihm jede Woche eine backen oder auch
jeden Tag, wenn er es möchte. Dieses Kind wird nicht zum
Mittagsschlaf auf sein
Zimmer verbannt. Es wird nicht mit irgendwelchen Teenagern, die
sich kaum verständlich machen können, losgeschickt, um Schuhe für
die Schule zu kaufen oder sich ägyptische Mumien in Glasvitrinen
anzusehen. Es wird nicht ganze Nachmittage allein in einem
frostigen Garten verbringen. Sein Zimmer wird Zentralheizung haben.
Es wird nicht jeden Monat zum Friseur geschleppt. Es darf - und
soll sogar - im Sandkasten auf dem Spielplatz die Schuhe ausziehen.
Es soll den Weihnachtsbaum selbst schmücken dürfen und die Kugeln
aussuchen, die ihm am besten gefallen, ganz egal welche Farbe sie
haben.
Ted klopft mit den Fingern auf die Armlehne des
Sofas. Er möchte aufstehen. Möchte diese Ideen aufschreiben. Möchte
sich über seinen schlafenden Sohn beugen und sie ihm laut
vorsprechen, wie ein Gelöbnis. Aber er darf Elina nicht stören. Er
greift zur Fernbedienung und zappt durch die Kanäle, bis er ein
Fußballspiel findet, das ihm völlig entfallen war.

In ihrem Traum - während eines dieser
merkwürdigen, halbwachen Zustände, in denen man träumt und zugleich
weiß, dass man träumt - muss Elina einen Kopfkissenbezug halten. Er
ist vollgestopft mit Sachen, die leicht zerbrechen. Einem Wecker,
einem Glas, einem Aschenbecher, einer Schneelandschaft mit einem
Wald, einem Mädchen und einem Wolf. Elina steht auf einem kalten
Steinfußboden, und der Kissenbezug ist viel zu voll. Sie bekommt
ihn nicht richtig zu fassen, deshalb muss sie aufpassen, dass er
ihr nicht aus der Hand rutscht, mit all den schweren Sachen. Wenn
sie ihr hinfallen, gehen sie kaputt. Sie darf sie nicht fallen
lassen.
Ein Geräusch unterbricht sie. Jemand hat »Au«
gesagt. Eine Stimme, die sie kennt. Teds Stimme. Elina macht die
Augen auf. Der Wecker, die Schneelandschaft, das Glas, der
Steinfußboden lösen sich auf. Sie liegt eingequetscht zwischen Ted
und dem Sofaende, den Kopf auf Teds Schoß.
»Warum hast du au gesagt?«, fragt sie zu seinem
Unterkiefer hinauf. Er sieht fern, Fußball, so wie es sich anhört -
ein sonderbares Dröhnen und Murmeln, unterbrochen von Tuten. Er
müsste sich mal wieder rasieren. Schwarze Stoppeln bedecken sein
Kinn, seine Kehle. Sie legt einen Finger darauf, streicht einmal
hin, einmal her.
»Du hast mich gehauen«, sagt er, ohne den
Bildschirm aus den Augen zu lassen.
»Wirklich?« Elina setzt sich auf.
»Du hast geschlafen, und dann hast du auf einmal um
dich geschlagen und …« Plötzlich schwappt eine Lärmwelle aus dem
Fernseher heraus, ein tosendes Brausen, ein tutendes Crescendo,
worauf Ted sofort mit einem leidenschaftlichen, verstümmelten
Redeschwall reagiert. Elina kann keine einzelnen Wörter
unterscheiden, nur JA und GOTT und ein paar Flüche.
Während er gestikuliert und schimpft, dringt ein
anderes Geräusch an ihr Ohr. Ein kaum hörbares Fiepen, wie von
einem Vogel oder einem Kätzchen. Elinas Kopf fährt herum. Das Kind.
Es fiept noch einmal. Ein ganz leiser »iiep«-Laut.
»Nicht, Ted«, sagt sie. »Du weckst das Baby.«
Der Fernseher dröhnt weiter, aber Ted senkt die
Stimme: So was sei doch einfach nicht zu fassen. Sie lauscht
angespannt, doch aus dem Moseskörbchen kommt kein Ton mehr. Ein Arm
reckt sich heraus und schwenkt langsam durch die Luft, wie bei
einer T’ai-Chi-Übung. Dann nichts
mehr. »Wie heißen noch mal diese Dinger mit künstlichem Schnee und
Wasser drin?«, fragt sie.
Ted beugt sich angespannt vor. »Hmm?«
»Diese Kinderspielzeuge. Wenn man sie schüttelt,
wirbelt der Schnee herum.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du …« Auf dem
Bildschirm tut sich etwas. Mit einem halblauten »Nein!« wirft Ted
sich, wie von tiefster Trauer übermannt, nach hinten in die
Polster.
Elina nimmt etwas vom Sofa, ein Malermesser mit
einer elastischen weichen Klinge, das neben ihr liegt. Sie biegt
die Klinge mit den Fingern hin und her. Sie hält sich das Messer
dicht vors Gesicht, untersucht es wie ein Archäologe einen Fund aus
einem anderen Zeitalter. Eine Farbkruste an der Stelle, wo die
Klinge in den Griff übergeht - Rot, Grün, ein Spritzer Gelb -, ein
hauchfeiner Riss im perlmuttfarbenen Plastikgriff, ein Hauch von
Rost an der oberen Kante. Eigentlich ist Messer das falsche Wort
dafür, denkt sie. Man könnte damit nichts schneiden. Es würde sich
nicht eignen zum Schnitzen, Stechen, Schnippeln oder Schlitzen oder
was man sonst mit einem Messer alles anfangen kann, weil ein echtes
Messer …
»Was machst du da?«
Elina dreht sich um. Zu ihrer Überraschung sieht
Ted sie tatsächlich an.
»Nichts.« Sie lässt das Malermesser in ihren Schoß
sinken.
»Was ist das?«, fragt er, und er klingt so, als ob
er fast mit der Antwort Bloß eine Handgranate, Schatz
rechnet.
»Nichts«, wiederholt sie. Dabei fällt ihr auf
einmal wieder ein, wie das Malermesser hier aufs Sofa kommt und
warum es nicht in ihrem Studio liegt. Sie hat es im Wohnzimmer
benutzt, um auf dem Couchtisch Gips anzurühren, was sie
normalerweise niemals machen würde. Das Haus ist zum Wohnen da, das
Studio zum Arbeiten. Aber es ist so ein warmer Tag gewesen und der
kurze Weg bis zum Ende des Gartens so unendlich weit.
Unterdessen sieht Ted sie immer noch an, diesmal
mit nahezu entsetzter Miene.
»Was ist?«, fragt sie.
Er antwortet nicht, sitzt nur da, wie in Trance
verfallen, voller Scheu, nervös und fasziniert zugleich.
»Warum siehst du mich so an?« Er starrt auf ihren
Hals. Sie legt eine Hand auf die Stelle, spürt den pochenden
Puls.
»Hä?«, sagt er, wie aus weiter Ferne zurückgekehrt.
»Wie bitte?«
»Ich hab dich gefragt, warum du mich so
ansiehst.«
Er wendet den Blick ab, macht sich an der
Fernbedienung zu schaffen. »Entschuldige«, murmelt er. Doch dann
geht er zum Gegenangriff über: »Wie hab ich dich denn
angesehen?«
»Als ob ich ein Monster wäre.«
»Sei nicht albern«, sagt er verlegen. »Wie kommst
du denn darauf? Du bist doch kein Monster.«
Elina stemmt sich mühsam vom Sofa hoch. Sie kann
den Fußballlärm nicht mehr ertragen. Das Aufstehen fällt ihr
unendlich schwer. Es gelingt ihr kaum, die Beine durchzudrücken,
und sie hat Angst, dass sie ihr wegklappen, oder dass etwas, das
sie in sich trägt, aus ihr herausfällt. Sie klammert sich an die
Armlehne, Ted greift blitzschnell nach ihrer Hand, und zusammen
hieven sie sie hoch.
Getrieben von dem überwältigenden Verlangen, das
Kind anzusehen, schleppt sie sich, leicht vornübergebeugt, durch
das Zimmer zu ihm hinüber. Dieser Drang ergreift sie in
regelmäßigen Abständen. Sie muss sich überzeugen, dass es noch da
ist, dass sie nicht alles nur geträumt hat. Dass es noch atmet und
wirklich so wunderschön ist, wie sie es in Erinnerung hat, so
unglaublich vollkommen. Unter Schmerzen - sicher ist es bald wieder
Zeit für eine Tablette - beugt sie sich über das Moseskörbchen und
späht hinein. Da liegt der Kleine, in eine Decke gehüllt, die
geballten Fäustchen neben seinen Ohren, die Augen fest
zusammengekniffen, die Lippen kraus gezogen, als ob er sich seiner
Aufgabe, dem Schlafen, mit all dem Ernst und all der Konzentration
widmet, die sie verdient. Sie legt ihm die Hand auf die Brust, und
obwohl sie weiß und sieht, dass es ihm gut geht, ist sie
erleichtert. Er atmet, er lebt, er ist noch hier.
Sie geht in die Küche, hält sich am Herd fest. Sie
ist wütend auf sich. Wieso hat sie immer Angst, dass er stirbt?
Dass er ihr entgleitet, aus diesem Leben rutscht? Sei nicht so
hysterisch, schimpft sie mit sich, während sie die Regale nach der
Teekanne absucht. Mach dich nicht lächerlich.
Am nächsten Morgen liegt das Malermesser neben dem
Sofa auf dem Boden. Als Elina sich hinkauert, um es aufzuheben,
fällt ihr Blick auf den durchhängenden Stoff unter dem Polstersitz.
Doch sie sieht noch mehr: Münzen, eine Sicherheitsnadel, eine
Garnrolle, eine alte Haarspange von früher. Sie überlegt, ein
Lineal zu holen oder einen Kochlöffel, um die Sachen
herauszufischen - was sie bestimmt machen würde, wenn ihr ein
gepflegter Haushalt am Herzen läge. Doch das ist nicht der Fall.
Andere Dinge im Leben sind wichtiger. Wenn sie sich bloß erinnern
könnte, was für Dinge das sind.
Sie steht auf. Erneut durchschießt sie der sengende
Schmerz. Vielleicht wäre das jetzt der Moment, Ted anzurufen
und ihn zu f ragen, Ted, warum habe ich da diese Narbe, was ist
passiert, du musst es mir sagen, denn ich weiß es nicht mehr.
Aber jetzt würde es ihm bestimmt nicht passen. Er
sitzt gerade im Schneideraum - in seiner Höhle, wie sie es immer
nennt - und entfernt die misslungenen Stellen aus den Filmen, damit
am Ende alles glatt und fehlerlos ist. Und wer weiß, vielleicht
fällt es ihr ja doch noch ein, vielleicht erinnert sie sich ja doch
von selbst wieder daran. Seit sie mit den Dreharbeiten in Verzug
geraten sind, seit das Kind da ist, steht er permanent unter Druck.
Sein Gesicht ist blass und eingefallen, wie immer, wenn er krank
oder gestresst ist. Sie will ihn wirklich nicht noch zusätzlich
belasten.
Sie geht ans Fenster. Das Wetter ist immer noch
nicht besser geworden. Seit Tagen hat es nicht mehr aufgehört zu
regnen. Der Himmel ist verschwommen und aufgedunsen, der Garten
aufgeweicht. Um sie herum tickt das Haus im Rhythmus des Wassers:
auf den Dachziegeln, in den Regenrinnen, in den Rohren.
Vorher, als sie noch schwanger war, haben sie
sonniges Wetter gehabt. Wochenlang. Elina saß in ihrem schattigen
Studio, die Füße in einem Eimer mit kaltem Wasser. Ihre Jogaübungen
am Morgen machte sie draußen, wenn das Gras noch tauf risch war.
Sie aß Grapef ruits, manchmal drei Stück am Tag, zeichnete Ameisen,
aber eher geruhsam und ohne ein konkretes Bild im Sinn zu haben,
sah zu, wie ihre Bauchdecke Wellen schlug. Sie las Bücher über
natürliche Geburt. Schrieb mit Zeichenkohle Listen mit Kindernamen
an die Studiowände.
Elina steht am Fenster und sieht in den Regen
hinaus. Auf dem Bürgersteig geht ein Nachbar mit seinem Hund in
Richtung Park. Sie kann nicht ergründen, nicht begreifen,
was mit dem Menschen von damals passiert ist, mit der Elina der
Namenslisten, der Ameisenzeichnungen, der natürlichen Geburten, der
Wassereimer im kühlen Schatten. Wie ist sie zu der geworden, die
sie jetzt ist - eine Frau im fleckigen Schlafanzug, die weinend am
Fenster steht, eine Frau, die sich beherrschen muss, dass sie nicht
durch die Straßen läuft und schreit, kann mir bitte, bitte jemand
helfen?
Elina Vilkuna, sagt sie sich vor. So heißt du. Das
bist du. Sie muss sich auf Bekanntes beschränken, auf Fakten.
Vielleicht fügt sich der Rest dann von selbst zusammen. Es gibt
sie, es gibt das Baby, es gibt Ted. Zumindest wird er so genannt -
er hat noch einen längeren Namen, aber den benutzt nie jemand. Mit
Ted kennt Elina sich aus. Sie könnte jedem, der es wissen will,
sein Leben erzählen. Sie könnte eine Prüfung über Ted ablegen und
mit einer Eins bestehen. Er ist ihr Partner, ihr Freund, ihre
andere Hälfte, ihre bessere Hälfte, ihr Geliebter, ihr Gefährte.
Wenn er aus dem Haus geht, fährt er zur Arbeit. Nach Soho. Er fährt
mit der U-Bahn und manchmal mit dem Fahrrad. Er ist fünfunddreißig,
genau vier Jahre älter als sie. Er hat kastanienbraunes Haar und
Schuhgröße 44, er isst gern Chicken Madras. Einer seiner Daumen ist
flacher und länger als der andere, weil er, wie er sagt, als Kind
daran gelutscht hat. Er hat drei Zahnfüllungen, eine weiße
Blinddarmnarbe und einen lila Fleck am linken Fußknöchel, wo ihn
vor Jahren im Indischen Ozean eine Qualle erwischt hat. Er hasst
Jazz, Multiplexkinos, Schwimmen, Hunde und Autos - er weigert sich,
eines anzuschaffen. Er ist allergisch gegen Pferdehaare und
getrocknete Mango. Das sind die Fakten.
Auf einmal findet sie sich auf der Treppe wieder,
sie sitzt da, als ob sie auf jemanden oder etwas wartet. Es scheint
viel später zu sein. Irgendwo im Haus klingelt das Telefon, der
Anrufbeantworter springt an, eine Freundin spricht ins Leere.
Elina wird sie zurückrufen. Später. Morgen. Irgendwann. Jetzt lehnt
sie mit dem Kopf an der Wand, das Kind auf dem Knie und neben sich
auf der Treppe ein blaues Stück Stoff. Ein weiches Vliestuch. Es
ist über und über mit silbernen Sternen bestickt.
Beim Anblick der Sterne überkommt sie ein
sonderbares Gefühl. Sie ist überzeugt, sie noch nie zuvor gesehen
zu haben, und doch hat sie gleichzeitig ein Bild vor Augen, wie sie
sie stickt, wie sie die Nadel mit dem glitzernden Silbergarn ein
ums andere Mal durch den Stoff sticht. Obwohl sie weiß, wie sich
das Vlies anfühlt und dass ein Stern neben dem Saum ein wenig
verunglückt ist, hat sie das Tuch noch nie zuvor gesehen. Oder
doch? Plötzlich ist sie sich sicher, dass sie diese Stickerei im
Krankenhaus angefertigt hat, zwischen den …
Sie sieht durch die Diele zur Haustür. Die Sonne
leuchtet durch die beiden Scheiben. Sie nimmt das Kind und das Tuch
mit den Sternen - oder ist es eine Decke? Aber dafür ist es
eigentlich zu klein -, steht auf und geht die Treppe hinunter. Das
Licht, das durch das Glas hereinfällt, ist blendend hell, und ihr
Herz macht einen Sprung, denn ihr wird klar, dass der Regen
aufgehört haben muss.
Sie könnte nach draußen gehen. Was für ein Gedanke.
Raus auf die Straße, wo der Asphalt langsam abtrocknet, wo die
Blätter auf dem Bürgersteig Abdrücke hinterlassen haben. Nach
draußen, wo Motoren aufheulen und Autos wenden, wo Hunde sich
kratzen und an Laternenmasten schnuppern, wo Leute gehen und reden
und ihr Leben leben. Sie, Elina, könnte bis ans Ende der Straße
gehen. Sie könnte eine Zeitung kaufen, eine Flasche Milch, eine
Tafel Schokolade, eine Orange, ein paar Birnen.
Sie kann es sich so deutlich vorstellen, als ob sie
erst vor ein, zwei Wochen draußen gewesen ist, vor dem Haus. Wie
lange ist es schon her? Wie lange, seit …
Wenn sie vorher bloß nicht an so viel denken
müsste. Sie braucht - ja, ihren Geldbeutel, ihre Schlüssel. Was
noch? Elinas Blick fällt auf eine Baumwolltasche, die auf dem Boden
steht. Sie stopft die blaue Sternendecke, ein paar Windeln und
Feuchttücher hinein. Das müsste eigentlich reichen.
Aber da ist noch etwas. Es nagt an ihr, und sie
weiß, dass sie etwas vergessen hat. Elina bleibt stehen und denkt
nach. Sie hat das Kind, den Wagen, die Tasche. Sie sieht die Treppe
hinauf, sieht auf die sonnigen Rechtecke in der Haustür, sieht an
sich hinunter. Sie hat das Kind auf dem einen Arm und die Tasche
über der Schulter, quer über ihrem Körper, über ihrem
Schlafanzug.
Anziehen. Sie muss etwas anziehen.
Auf ihrem Stuhl im Schlafzimmer liegt ein
Kleiderhaufen. Sie hebt die Sachen mit der freien Hand hoch und
lässt sie auf den Boden fallen. Eine Jeans mit riesigem Bund, eine
Latzhose, eine graue Jogginghose, ein Sweatshirt mit rankendem
Blumenmuster. Etwas Grünes, das sich in etwas Rotem verheddert hat.
Weil sie die Teile nicht mit einer Hand voneinander lösen kann,
schüttelt sie sie so lange, bis sich ein roter Schal losreißt und
durch das Schlafzimmer segelt. Anmutig schwebt er im hohen Bogen
von ihr weg und sinkt zu Boden. Das Rot hebt sich von dem weißen
Teppich deutlich ab. Nachdenklich legt Elina den Kopf erst auf die
eine, dann auf die andere Seite. Sie blickt auf das Kind, das den
Mund bewegt, als ob es ihr etwas mitteilen möchte. Zu dem Schal
sieht sie nicht noch einmal hin, aber sie hat noch genau vor Augen,
wie er durchs Zimmer gesegelt ist.
Irgendwie erinnert sein Flug sie an etwas, das sie erst kürzlich
gesehen hat. Und dann weiß sie es plötzlich. Blutspritzer. Auf ihre
Art wunderschön. In dem blitzweißen Raum leuchteten sie wie
lupenreiner Granat. Wie sie auf ihrer gekurvten Bahn in einzelne
Tröpfchen zerfielen, bevor sie gegen die Kittelfronten der Ärzte
und Schwestern prasselten. Wie sie alle Aufmerksamkeit auf sich
zogen, wie von überallher Leute angestürzt kamen.
Elina lässt die weite, grüne Schwangerschaftsbluse
fallen und sinkt auf den Stuhl. Sie gibt Acht, dass sie das Kind
auch ja sicher im Arm hält, ihren Sohn, und dass sie nur ihn
ansieht, sonst nichts. Noch immer murmelt er ihr stumm seine
Geheimnisse zu, als ob er die Antworten auf alles weiß, was sie
wissen muss.